Wie die NZZ die Polarforschung vorantrieb
Die Grönland-Expedition von Alfred de Quervain wird bis heute als wissenschaftliche Pioniertat gefeiert. Kaum bekannt ist, dass die Abenteuerreise erst durch die NZZ ermöglicht wurde.
Wer sich wie Alfred de Quervain buchstäblich aufs Glatteis wagt, muss sich einiges anhören: Freunde in Zürich warnen ihn vor den Risiken seiner Reise in die «terra nullius»; ein Experte aus Grönland bezeichnet seinen Plan als «vermessen» und den Versuch der Ausführung als «sicheren Tod». Doch der Kampf des Abenteurers beginnt, schon lange bevor er die weisse Wüste überhaupt betritt – nämlich bei der Finanzierung.
Beträchtliche Summen sind für eine Expedition im Polargebiet nötig. De Quervain berechnet sein Budget so knapp wie möglich, kommt aber trotzdem auf 30'000 Franken, was heute rund eine Million Franken wäre, wenn man die historische Lohnentwicklung zugrunde legt. Die beschwerliche Hin- und Rückreise, die Frachten, der Proviant, die Spezialausrüstung samt Schlitten und Hunden, die Hilfsmannschaften, alles muss bezahlt sein. Im Ausland springt bei der Vielzahl von Polarexpeditionen, die um die Jahrhundertwende stattfinden, meist der Staat ein. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. etwa subventioniert die Gauss-Expedition in der Antarktis mit einer Million Reichsmark. Das hat auch seine Logik: Die Forschungsreisen sind nicht nur wissenschaftliche Pioniertaten, sondern im Drang, die Naturgewalten in den letzten Winkeln der Welt zu bezwingen, zeigt sich auch nationaler Wahn und Wettlauf. Alfred de Quervain versteht seine Expedition explizit als «schweizerisch», schwärmt, dass «die Liebe zum Hochgebirge, die Vertrautheit mit Schnee und Gletscher, und wiederum eine gewisse Anpassungsfähigkeit und Anspruchslosigkeit, uns in besonderer Weise befähige, auch im Polargebiet mitzuarbeiten».
Nerv des Bildungsbürgertums
Im August 1911 richtet er an den Bundesrat ein Schreiben, die Eidgenossenschaft möge seine Grönland-Expedition mit 10 000 Franken unterstützen – «nachdem im Ausland Millionen für solche Zwecke aufgebracht worden sind». Doch die Landesregierung, die bereits Sympathien gezeigt hat, lehnt seinen Antrag im November ab, mit Verweis auf die klamme Staatskasse. Auch um das Reisestipendium des Bundes kann er sich nicht bewerben, weil damit kurioserweise nur biologische Forschungen unterstützt werden. Immerhin gewährt der Bundesrat de Quervain, der als Adjunkt an der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt angestellt ist, einen Urlaub von April bis Oktober 1912, sofern die Expedition zustande kommt.
Weil der Staat kneift, müssen nun private Geldgeber her. ETH-Professor Carl Schröter, Vorsteher der Zürcherischen Naturforschenden Gesellschaft, Netzwerker und Unterstützer de Quervains, klopft daher bei der NZZ an. In einem Brief vom 7. Dezember 1911 an Ulrich Meister, den Präsidenten des Verwaltungskomitees, betont er die «seltene Gelegenheit», dem bedeutenden Zeitungsunternehmen «unvergänglichen Ruhm» zu sichern: «Es wäre eine patriotische Tat von grösster Tragweite, wenn Ihr Organ sich entschliessen könnte, hier als Wissenschafts-Mäzen aufzutreten.» Deutsche und amerikanische Zeitungen hätten es ja vorgemacht. Nur vier Tage später entscheidet das Verwaltungskomitee samt Chefredaktor Walter Bissegger einstimmig, «für die Sache der Wissenschaft ein erhebliches Opfer im Namen der NZZ zu bringen». De Quervain erhält 10 000 Franken (umgerechnet auf heute rund 340 000 Franken), also ein Drittel seines Budgets – was einen Zehntel des Gewinns der NZZ in jenem Jahr ausmacht. Im Gegenzug sichert sich die Zeitung «ein Vorrecht auf alle offiziellen Berichte und Nachrichten der Expedition», wie vertraglich festgehalten wird. Die Kosten für die telegrafische Übermittlung von Nachrichten trägt die NZZ, die darauf setzt, dass exklusive «Originalberichte» den Nerv des Bildungsbürgertums treffen werden.
Ab April 1912 meldet de Quervain wichtige Etappen der heroischen Reise; nach seiner Rückkehr in die Schweiz publiziert er zudem grossflächig und meist prominent auf der Frontseite eine Serie süffiger Berichte, nicht ohne zu kokettieren: «Wir haben (. . .) nicht daran gedacht, dass ein Feuilleton daraus werden sollte.» Mit ihrem Engagement bedient die NZZ einerseits geschickt das zeitgeistige Polarfieber, schafft aber andererseits auch wieder einen riesigen Resonanzraum dafür, wie die Historikerin Lea Pfäffli in ihrer instruktiven Studie «Das Wissen, das aus der Kälte kam» konstatiert.
Sponsoring und Diashows
Mit Spendenaufrufen im Blatt ist es de Quervain noch weit vor der Abreise gelungen, weitere Unterstützer zu gewinnen. In seinem Nachlass findet sich etwa ein Brief vom Januar 1912, wonach die Firma Maggi aus der NZZ von den Expeditionsplänen erfahren hat und nun Suppenwürfel zur Verfügung stellen will: Es bedürfe «nur eines Winkes von Ihnen, dass wir Sie mit dem nötigen Vorrat versehen» – was de Quervain auch tut. Das Gleiche gilt für Kondensmilch der Berner Alpenmilchgesellschaft, Schokolade von Lindt, Lenzburger Konfitüren und Fleischkonserven, Chronometer aus dem Jura oder Ski aus dem Sportgeschäft Dethleffsen. De Quervain nimmt die Vermarktung von heute vorweg: Er wird gesponsert, dafür erwähnt er die Gönner positiv in seinen Berichten und dem später erscheinenden Buch – Product-Placement im Polarlicht.
Doch ohne die staatliche Unterstützung reicht das nicht, um die Expeditionskosten zu decken. Zentrale Einnahmequelle sind damals stets auch die an die Reisen anschliessenden Vorträge im In- und Ausland, bei denen Lichtbilder gezeigt werden. Alfred de Quervain nimmt allein mit unzähligen Grönland-Referaten über 5000 Franken ein. Zusammen mit den Beiträgen der NZZ, von anderen Privaten und wissenschaftlichen Gesellschaften und trotz «grossen persönlichen Opfern der Teilnehmer» resultiert letztlich aber weiter ein Defizit von rund 3500 Franken. Wegen der «Erweiterung des Programms» sind fast ein Viertel Mehrkosten angefallen, wie de Quervain Ende 1913 dem Bundesrat klagt. Dieser zeigt sich diesmal spendabel und lässt den fehlenden Betrag von der Nationalbank überweisen. Und die NZZ, die das Zustandekommen der Expedition mit ihrer Geldspritze erst ermöglicht hat? Sie verzichtet vorderhand auf weitere Grossengagements – «einmal, weil die Zeitung in der letzten Zeit Reisebeschreibungen in grossem Umfang gebracht hat (. . .), sodann, weil die finanzielle Lage nicht ermutigend ist».