Unus pro omnibus, omnes pro uno
Das politische Motto «Einer für alle. Alle für einen» erreicht während der Coronakrise neue Relevanz. Populär wurde der Leitspruch in der Schweiz über die Bewältigung von Naturkatastrophen im 19. Jahrhundert, seine Wurzeln hat er aber im frühen 16. Jahrhundert.
Wenn sogar die notorisch staatskritische Wochenzeitung WOZ ihren Kommentar zu den bundesrätlichen Massnahmen gegen das Corona-Virus mit «Unus pro omnibus, omnes pro uno» einleitet, dann muss dieses staatstragende Motto einen Nerv der laufenden Schweizer Krisenbewältigung treffen. Woher aber kommt dieses Motto?
Politikerinnen und Politiker haben guten Grund zur Annahme, dass sie mit dem Leitspruch bei der Schweizer Bevölkerung eine solidarische Haltung mobilisieren können. Das Motiv «Einer für alle. Alle für einen» sitzt tief im kollektiven Gedächtnis des Landes. Aktuell in Umlauf gebracht hat es wohl der Bundesrat selber. Alain Berset appellierte damit während der Eskalation der Coronakrise wiederholt an die Solidarität der Schweizer Bevölkerung: Bleibt zu Hause! Schützt die Verletzlichsten unter uns und bewahrt damit unser Gemeinwesen vor einer Katastrophe.
Eingang in die staatliche Selbstrepräsentation fand «Einer für alle. Alle für einen» nach der Bundesstaatsgründung von 1848. Das Motiv wurde zum Leitspruch einer kunstvollen Präsentation der Verfassungsrevision von 1874. Es hielt 1889 mit Konrad Grobs Gemälde «Winkelried in der Schlacht bei Sempach» Einzug in den alten Ständeratssaal im Bundeshaus West. Und seit 1902 schwebt es quasi als Staatsräson in lateinischer Sprache über den Köpfen der Bundespolitikerinnen und –politiker in der Kuppel des Bundeshauses.
Mit diesem Motiv appellierte der junge, noch nicht gefestigte Bundesstaat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den nationalen Gemeinschaftssinn. Es galt jedem einzelnen Kanton zu versichern, dass es allen dient, diese Souveränität an den Bundesstaat abzugeben. Und ganz speziell mussten die katholisch-konservativen Gegner der Bundestaatsgründung vom liberalen Bundesstaat erst überzeugt werden.
Auf dieser politischen Basis entfaltete das Motiv dann auch im Katastrophenfall seinen solidarischen Effekt, wie es der Klimahistoriker, Christian Pfister aufgezeigt hat. Nach dem verheerenden Brand von Glarus 1861 brachte beispielsweise eine schweizweite Spendenaktion eine enorme Summe zusammen. Damit wurde nicht nur überlebensnotwendige materielle Hilfe geleistet, sondern eben auch Gemeinschaft gestiftet. Es wurde ein Zeichen der nationalen Solidarität nach dem Motto gesetzt: «Alle Kantone der Schweiz für einen Schweizer Kanton» oder eben «die ganze Schweizer Bevölkerung für die leidenden Glarner und Glarnerinnen».
Winkelried machte den Anfang
Zwar ist das Motto erst im Laufe des 19. Jahrhunderts populär geworden. Ausgebildet hat es sich aber schon viel früher. Es verdichtete sich in der Erinnerungskultur rund um den sterbenden «Winkelried». 1386 soll der Held aus Nidwalden bei Sempach die schon fast verlorene Schlacht mit seinem Opfertod für die Eidgenossenschaft gewendet haben. Indem er sich in die gegnerischen Spiesse warf, schlug er den eidgenössischen Kriegern eine Bresche mit den Worten: «Ich will euch eine Gasse machen». Sterbend bat er seine Kameraden: «Sorget für mein Weib und Kinder». Der Opferheld gibt sein Leben für das Wohlergehen seines Gemeinwesens: der Eidgenossenschaft. Umgekehrt darf er von diesem Gemeinwesen erwarten, dass es sich um seine Hinterbliebenen kümmert: «Einer für alle. Alle für einen».
Bezeichnenderweise taucht dieser Held von Sempach erst rund 100 Jahre nach der Schlacht in der offiziellen Erinnerungskultur auf. Noch einmal 50 Jahre später bekommt er 1551 mit der Schlachtendarstellung von Hans Rudolf Manuel dann den Namen «Winkelriet». Danach wird er zum Opferhelden des regelmässigen eidgenössischen Schlachtengedenkens und prägt sich so ins kollektive Gedächtnis ein. Im 17. und 18. Jahrhundert erfährt die Figur zudem eine Individualisierung. Die Aufklärung verehrt Arnold von Winkelried als patriotischen Bürgersoldaten. 1723 bekommt er in Stans als Brunnenfigur sein erstes Denkmal. Der berühmte Zürcher Maler Johann Heinrich Füssli zeichnet um 1750 ein Porträt dieses Arnolds von Winkelried, den es historisch so nie gegeben hat.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert bleibt Winkelried vor allem über zwei Werke populär: Einerseits über das Ölgemälde des Zürcher Historienmalers Ludwig Vogel «Die Eidgenossen bei der Leiche Winkelrieds» von 1841, andererseits über das von Ferdinand Schlöth geschaffene, 1865 in Stans feierlich eingeweihte Winkelried-Denkmal. Schweizer Schülerinnen und Schüler verinnerlichen die Winkelried-Botschaft bis in die 1970er-Jahre über Schulwandbilder, Schulbücher und SJW-Hefte. So sind es heute in erster Linie die von der Corona-Krise besonders bedrohten Schweizerinnen und Schweizer über 65, bei denen der bundesrätliche Appell: «Einer für alle. Alle für einen» am ehesten verfangen sollte.