Das Dorf geflutet
Am 9. August 1924 wurde die Kirche von Innerthal gesprengt. Danach kamen die Fluten. Grund dafür war der wachsende Strombedarf der Schweiz und damit verbunden der Bau eines Stausees.
1924 ist das sonst so ruhige Wägital im Kanton Schwyz ein beliebter Ausflugsort. Denn die Menschenmassen, die zu Fuss oder per Velo den Taleinschnitt südlich von Siebnen in der March besuchen, wollen die Grossbaustelle besichtigen und den national bekannten Ort der Trauer ansehen. Bald wird das Elektriztätskraftwerk Wägital den Talboden fluten und damit auch die 336 Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes Innerthal vertreiben.
Die Schaulustigen wollen den Ort der angesagten Katastrophe noch einmal mit eigenen Augen ansehen. Sie lassen sich die weissen Markierungen erklären, die den zukünftigen Wasserpegel anzeigen werden. Am meisten Eindruck macht der Kirchturm mit seiner steil aufragenden Spitze: Dort oben, wissen Ortskundige, werde sich einst der höchste Seespiegel befinden. Das zugereiste Publikum staunt und fröstelt ein wenig. Die Wägitaler aber stehen ratlos und wehmütig daneben, einige sind voller Wut oder Angst.
Strom statt Gas
Der Bau des grossen Elektrizitätskraftwerks ist nötig geworden, weil der Stromverbrauch in der Schweiz massiv gestiegen ist. Mehr und mehr Haushalte werden elektrifiziert: Anstelle von Gas kocht man im ganzen Land vermehrt mit Strom. Anstelle der Bügeleisen mit glühenden Kohlen setzt man elektrische Bügeleisen ein. Zudem baut die Schweizer Industrie aus und stellt neue Maschinen mit Elektroantrieb in die Fabriken. Die Zahlen machen die Entwicklung deutlich: Zwischen 1910 und 1920 hat sich der Stromverbrauch in der Schweiz verdoppelt, 1920 zählt die Schweiz zu den Ländern mit dem weltweit höchsten Stromverbrauch!
Doch nicht alle wollen ihre Häuser elektrifizieren, auch im Wägital nicht. Eine Frau, die alte Crescentia vom Hof Au in Innerthal, weigert sich standhaft gegen den Stromanschluss. Von solch neumodischen Sachen will sie nichts wissen und begründet: «D’Zürcher, dia gnissäletä Chäibä, mömmer dä nöd i all Eggä hinderä gliissä!» Und nun noch für alle, die keinen Schwyzer Dialekt sprechen: Die Zürcher, die gestörten Typen, müssen mir nicht in allen Ecken herumstöbern.
Doch die Stromerzeuger der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK) und der Stadt Zürich kommen trotzdem ins Tal, denn die natürlichen Voraussetzungen sind ideal, wie Gutachten ergeben haben. Nur gerade 40 Kilometer von der Stadt Zürich entfernt, kann die Elektrizitätsindustrie relativ günstig eine grosse Menge Energie erzeugen. Bereits haben NOK und die Stadt Zürich Kraftwerke auf dem Albula, beim Heidsee, in Löntsch GL und die Flusskraftwerke Letten, Benznau und Eglisau. Doch der Strombedarf wächst so schnell, dass die Gesellschafter 40 Millionen Franken in das Kraftwerk Wägital investieren. Am Schluss wird es über 78 Millionen kosten.
Wer sich in den 1920er-Jahren gegen das Projekt stellt, hat einen schweren Stand. Der Erste Weltkrieg hat gezeigt, wie verwundbar die Schweiz ohne genügend eigene Energie ist. Die wirtschaftliche Krise 1921–22 hat zudem deutlich gemacht, wie sehr man auf grosse Bauvorhaben angewiesen ist, um die Arbeitslosigkeit tief zu halten. Die Argumente des Natur- oder Heimatschutzes haben deshalb keine Chance. Vielmehr ist man damals von den Möglichkeiten der Technik begeistert und staunt unkritisch über die Errungenschaften der Schweizer Ingenieurkunst. Beispielhaft ist die Argumentation von Ingenieur Ernst Bütikofer: «Alles geht nicht. Entweder – oder! Man kann nicht nationale Elektrizitätspolitik treiben und gleichzeitig Talidyllen als unberührbares Heiligtum erklären. Ohne Wunden geht es nicht... 140'000 Pferdestärken und 37 Heimwesen, das steht sich gegenüber! Der Techniker zieht sofort Bilanz. Langsamer erwägt der Laie. Aber auch er wird stutzig: 37 Heimwesen und 140'000 Pferdestärken! Das Kleine muss sich opfern, wenn Grosses erstehen will!»
Am 19. Juli 1924 beginnt das «Grosse». Das Wasser fliesst in den neuen Stausee. Die Einheimischen mussten die seit Jahrhunderten genutzten Höfe und Weiden verlassen den Fluten überlassen. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Innerthal lassen sich mit dem Räumen Zeit. Erst, als das Wasser bis zu den Türen ihrer Häuser kommt, sind sie gezwungen, zu zügeln. Manche drehen vor Verzweiflung fast durch.
Bald stehen erste Telefonmasten im See, nur noch die weissen Isolatoren ragen aus dem Wasser. Die Häuser unterhalb der Kirche stehen bereits unter Wasser. Bald steht das Wasser auch vor der Kirche. Am 9. August, Punkt 14.20 Uhr, zertrümmert der Sprengstoff die Kirche. Das geht den vielen Zusehenden durch Mark und Bein. Der Teich wird bald zum Seelein, das Seelein bald zum See – und das Dorf und die Kirche sind nur noch versunkene Vergangenheit! 37 Heimwesen und 498 Hektaren Wies-, Weid-, Pflanz-, Streuland und Wald gehen in den Fluten unter.
Oben am Hang steht bereits das neue Kirchlein von Neu-Innerthal.