
Dichter-Präsident im Schneegestöber
Als Václav Havel 1990 der Schweiz einen Staatsbesuch abstattete, war das eine kleine Sensation. Die diplomatischen Dokumente beleuchten das Ereignis aus verschiedenen Blickwinkeln.
Als Václav Havel für seinen friedlichen zivilen Ungehorsam vom 16. Januar 1989 weggesperrt wird, scheinen die tschechoslowakischen Apparatschiks die Zügel noch straffer als anderswo im Ostblock in ihren greisen Händen zu halten. Das sollte sich rasch ändern. Plötzlich blies der Wind in ganz Osteuropa aus einer anderen Richtung. In der DDR, in Polen, Ungarn und selbst in Bulgarien geriet die alte kommunistische Garde ins Wanken. Die UdSSR unter dem Reformer Michail Gorbatschow zeigte sich nicht mehr bereit, repressive Parteiregimes vor ihrer Bevölkerung zu schützen. Noch in diesem verrückten Jahr 1989 wird Havel aus der Haft entlassen und am 29. Dezember zum Präsidenten der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik gewählt. «Die Umwälzung ist total» berichtet der Schweizer Botschafter Serge Salvi aus Prag nach Bern.

Unkonventioneller Staatspräsident
So würdigt Bundespräsident Arnold Koller im Gespräch mit Havel im Bundeshaus am 22. November auch dessen «hervorragende Rolle bei der Neugestaltung der politischen Landschaft Europas»: «Havel schwebt ideell ein konföderiertes Europa vor, welches die ethnische Vielfalt und den Reichtum der Kulturen, die es zusammensetzen, rechtsmässig garantiert», heisst es im Besuchsbericht des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), der per Wochentelex an die Dienststellen des Aussenministeriums im In- und Ausland ging. Nicht zu tragen kommen in diesem Wochentelex die helvetischen Verlustängste angesichts der visionären Kraft eines Ostmitteleuropas. Während dieses, von den Fesseln der kommunistischen Herrschaft befreit, «nach Europa zurückkehrt», sucht die Schweiz nach einer neuen Rolle und tut sich schwer mit den Verhandlungen um einen EWR-Vertrag.

Bitte um westliche Hilfe
Die Sonderrolle der Schweiz verlor mit dem Ende des Ost-West-Konflikts an Einfluss. Man müsse sich gefasst machen, die traditionelle Vermittlerrolle des Neutralen künftig vermehrt mit anderen mittleren und kleineren Staaten Europas – etwa mit der in den KSZE-Verhandlungen selbstbewusst auftretenden Tschechoslowakei – zu teilen, bilanzierte das EDA.
In erster Linie kommt Havel am 22. November 1990 jedoch als Bittsteller nach Bern. Der wirtschaftliche und politische Reformprozess in Ost- und Mitteleuropa könne «nicht ohne Hilfe der westlichen Staaten erfolgen», sagt er zu Koller. Mit Genugtuung konstatiert Havel, dass die Schweiz als ausländischer Investitionspartner in der Tschechoslowakei an dritter Stelle liege. Begleitet wird Havel von Finanzminister Václav Klaus, dem nachmaligen Regierungschef und Staatspräsidenten der Tschechischen Republik sowie von Aussenminister Jiří Dienstbier, einem langjährigen Gefährten aus Dissidententagen. Mit der Unterzeichnung einer Absichtserklärung bekräftigen Dienstbier und sein Schweizer Konterpart, Bundesrat René Felber, den Willen, die bilateralen Kontakte auch in den Bereichen demokratische Institutionen, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Umwelt zu intensivieren (dodis.ch/54814).

Erinnerung an den Prager Frühling
Am Nachmittag des 22. Novembers trifft sich Havel mit «Vertretern der tschechischen und slowakischen Kolonie» im Kongresshaus in Zürich. Später geht es weiter ins nahe Rüschlikon, wo dem tschechoslowakischen Präsidenten der Gottlieb-Duttweiler-Preis verliehen wird. Die Laudatio hält Friedrich Dürrenmatt, der Grandseigneur der Schweizer Literatur. Er lobt Havels mutigen Einsatz für Freiheit und Demokratie. Und er hält in grossartiger Weise der versammelten Schweizer Politprominenz einen Zerrspiegel vor.


Gemeinsame Recherche
Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum (SNM) und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Actualités Suisses Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1990 werden im Januar 2021 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente sind bereits online verfügbar: dodis.ch/C1910. Unter diesem Link finden sich auch Dokumente der tschechoslowakischen Diplomatie zum Besuch Havels in der Schweiz, die das Aussenministerium der Tschechischen Republik Dodis zur Verfügung gestellt hat.