Das Gesetz und die Gleichstellung, keine Liebe auf den ersten Blick.
Das Gesetz und die Gleichstellung, keine Liebe auf den ersten Blick. Illustration von Marco Heer.

Ob die Frauen auch zum Volk gehören?

Der Ausschluss der Frauen aus den Kantonsverfassungen im 19. Jahrhundert wirft die Frage auf: Haben Frauen damals überhaupt zum Volk gehört?

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin an der Universität Basel.

Im September 1862 vermerkt die Basellandschaftliche Zeitung: «Die Basellandschaftler haben bekanntlich den Basel-Städtern nicht gehorchen wollen.» Und weiter: «Jetzt verleidet es aber auch den Basellandschaftlerinnen den Basellandschaftlern unterthänig zu sein.» Anlass für den Zeitungsbericht ist eine Petition, mit der 30 Frauen aus der Oberbaselbieter Gemeinde Sissach auf die Widersprüche im Entwurf der neuen Kantonsverfassung aufmerksam machen. Die Verfassungsräte müssten doch zugeben, schreiben die Petentinnen, «dass der Mann gegenüber dem Weibe Vorrechte geniesst, und diese wollen Sie ja durch das neue Grundgesetz – die Verfassung – aufheben». Müsste eine Verfassung, die versprach, sämtliche Vorrechte abzuschaffen, nicht auch die Frauen gleichstellen?
Petition der Sissacherinnen zum Erbrecht 1862.
Petition der Sissacherinnen zum Erbrecht 1862. Staatsarchiv Baselland, Liestal
Zur geplanten Verfassungsänderung werden Dutzende Petitionen eingereicht. Meist geht es um Partikularinteressen von Bürgern und Gruppierungen, die sich übergangen fühlen. Die Petition der Sissacherinnen handelt jedoch von Grundsätzlichem: der Gleichheit aller Menschen, auf der die demokratischen Verfassungen aufbauen, und der Zugehörigkeit zur Kategorie «Volk». Die Sissacherinnen fühlen sich legitimiert, einen «Volkswunsch» zu äussern, «denn die Frauen werden ja wohl auch zum Volke gezählt werden». Die Verfassungsräte sehen das anders. Und die Zeitung Der Baselbieter formuliert den «Volkswunsch» flugs zum «Weiberwunsch» um, mit dem «der neue Verfassungsrat in Corpore […] behelligt» werde.

Weiber sind auch Menschen

«Volkswünsche», die während der Verfassungsrevision die Zeitungsspalten füllen, hatten bereits Konjunktur, als sich das Petitionsrecht in den 1830er-Jahren in immer mehr Kantonen durchsetzte. Nach der Julirevolution in Paris 1830 blies ein liberaler Wind durch Europa und bescherte der Eidgenossenschaft die ersten demokratischen Kantonsverfassungen, die auf der Volkssouveränität beruhten. Die Parlamente erhielten neue Befugnisse und wurden, da vom Volk gewählt, zu dessen Stellvertretern erklärt. Vereinzelt erhoben sich in den Verfassungsdebatten auch Stimmen zugunsten der Frauen. So argumentierte der Berner Beat von Lerber, ein konsequenter Verfechter der Menschenrechte, man müsse das weibliche Geschlecht rechtlich dem männlichen gleichstellen, wenn man die Menschenrechte beim Wort nehme. Die Verfassung gebe nur den Männern «das Eigenthum ihrer Selbstheit», die Frauen würden von den Gesetzen hingegen «als Halbthiere angeschrieben». Für den tief religiösen Patrizier war die Gleichberechtigung auch mit Verweis auf das Christentum eine Selbstverständlichkeit. Eine ähnliche Position nahm der Journalist und Verleger Johann Jakob Leuthy aus Stäfa (ZH) ein. In seiner Zeitung Das Recht der Weiber stellte er den Gegnern der Gleichberechtigung der Frauen 1833 rhetorische Fragen: «Hat der Mensch das Recht frei zu seyn? Sind die Weiber auch Menschen? Haben sie daher ein gleiches Recht frei zu seyn?»
Das Recht der Weiber. Zeitschrift für Frauen und Jungfrauen, erste Ausgabe, 1833.
Das Recht der Weiber. Zeitschrift für Frauen und Jungfrauen, erste Ausgabe, 1833. Zentralbibliothek Zürich
Antworten wollte darauf niemand, die beiden Frühfeministen tat man als Provokateure ab. Über von Lerner hiess es, sein Geist könne sich nur in der Opposition bewegen, während Leuthy als «Brutal-radikaler» betitelt wurde. Nur äusserst selten gelangte das Thema Frauenrechte überhaupt bis in die Parlamente. Und wenn einige Grossräte des Kantons Zürich, wie 1831 bei der Formulierung «Die Souverainetät beruht auf der Gesammtheit des Volkes», doch einmal ins Brüten kamen, wurde zwar «zart erörtert», ob «die Frauen auch zum Volke gehören?», die Frage blieb für die Verfassung aber folgenlos.

Unter Vormund­schaft

Die Sissacher Frauen betonen 30 Jahre später zwar ihre Volkszugehörigkeit, vermeiden jedoch jeden Anschein von Radikalität. Als der Baselbieter das Gerücht kolportiert, sie verlangten das Stimmrecht, wird dem Redakteur umgehend gemeldet, das stimme nicht. Haben sich die Frauen nach den empörten Reaktionen zu mehr Pragmatismus durchgerungen und ihre Petition abgeschwächt? Zu weit ist die vollständige Gleichberechtigung von ihren Lebensumständen entfernt. Nicht nur sind sie politisch rechtlos, sie stehen auch unter der sogenannten Geschlechtervormundschaft: Über die Angelegenheiten verheirateter Frauen entscheidet der Ehemann, und ledige und verwitwete Frauen haben einen männlichen Vormund, ohne dessen Unterschrift ihnen die Hände in sämtlichen rechtlichen Belangen gebunden sind. Es sind also in erster Linie die Handlungsfähigkeit und die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen und ihr Einkommen, welche die Frauen im 19. Jahrhundert umtreiben. Konkret fordern die Sissacherinnen die staatliche Förderung der Frauenbildung und die Revision des Erbrechts, denn Frauen erhalten bei Erbschaften nur ein, Männer jedoch zwei Drittel des zu erbenden Vermögens. Für Frauen aus der Gemeinde Waldenburg, die das Anliegen der Sissacherinnen in der Basellandschaftlichen Zeitung unterstützen, ist gerade dieser Punkt ein «schreiendes Unrecht». Selbst der sonst sehr kritisch eingestellte Baselbieter hält diese Forderung für richtig. Und so zeigen sich auch die Frauen zuversichtlich, ihre «gewiss billigen und zweckmässigen Wünsche» erfüllt zu bekommen. Doch selbst dazu sind die Schöpfer der demokratischen Verfassung nicht bereit.
Karikatur zu den Frauen-Petitionen in: Xanthippe, Organ der Stimmlosen, Zürich, 1910.
Karikatur zu den Frauen-Petitionen in: Xanthippe, Organ der Stimmlosen, Zürich, 1910. Schweizerische Nationalbibliothek
Indem die Sissacherinnen als Selbstverständlichkeit formulieren, dass die Frauen «ja auch» zum Volk gehören, verweisen sie – wie Leuthy rund 30 Jahre zuvor mit seiner Frage, ob die «Weiber auch Menschen» seien – auf das Paradox, das 1789 mit der Erklärung der Menschenrechte manifest geworden ist: Mensch ist dort nur der Mann, und just in dem Moment, als man die Menschen für gleich erklärt, wird das Geschlecht zum Kriterium für den Besitz von Rechten oder eben Rechtlosigkeit. Vor diesem Hintergrund scheint die Eingabe der Sissacherinnen eine Provokation und der Baselbieter verunglimpft sie als «Sturmpetition». Es braucht noch mehr als ein Jahrhundert und unzählige weitere Petitionen, bis die Feststellung, dass die Frauen auch zum Volk gehören, zur Selbstverständlichkeit wird.

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