Köchin mit Wurst, 1955. Schweizerisches Nationalmuseum

Wurst der Nation

Bei der Geschichte der Schweiz geht es auch um die Wurst. Ob Nationalgericht oder globalisierter Cervelat: Drin steckt einiges an helvetischer Identität.

Hannes Mangold

Hannes Mangold

Hannes Mangold ist Ausstellungskurator und Verantwortlicher Kulturvermittlung bei der Schweizerischen Nationalbibliothek.

Alles war angerichtet zum grossen Fussballfest. Gemeinsam mit Österreich sollte die Schweiz 2008 die Europameisterschaften der Männer veranstalten. Aber dann vermieste ein Entscheid aus Brüssel die Vorfreude: Die Europäische Union verschärfte 2006 ihre Importbestimmungen für Tierprodukte aus Brasilien. Das Risiko für eine Übertragung der Rinderseuche BSE schien ihr zu hoch. Über das Veterinärabkommen war auch die Schweiz an die neue Regel gebunden. Der Import brasilianischer Rinderdärme fiel aus. Die Produktion der liebsten Wurst von Herr und Frau Schweizer geriet ins Stocken. Die «Cervelat-Krise» war in aller Munde. Eine Task Force nahm sich des Problems an. Die fiebrige Suche der Wurst-Spezialistinnen und Wurst-Spezialisten führte 2008 endlich zu einem valablen Ersatz. Auch argentinische und uruguayische Därmen waren brauchbar. Unterdessen hatte die Krise dem Cervelat viel Aufmerksamkeit und eine markante Absatzsteigerung beschert. Die Wurst hatte sich dabei als nationale Institution entpuppt, die eine gehörige Portion Globalisierung enthält.
Lora Lamm, Bell, Plakat, 1963.
Lora Lamm, Bell, Plakat, 1963. Schweizerische Nationalbibliothek, © Bell Food Group AG

Proleten­fi­let für alle

Um eine nationale Identität zu kreieren und zu festigen, sind Esswaren beliebt: Gulasch in Ungarn, Spaghetti in Italien oder Fondue in der Schweiz gelten als Nationalgerichte. In Europa versichern sich Gruppen ihre Zusammengehörigkeit auch über ihre gemeinsame Vorliebe für eine spezifische Wurst. So wundern sich die europäischen Nachbarn zuweilen ob der helvetischen Faszination für den – in ihren Augen – blassen Cervelat, während die Schweizerinnen und Schweizer jährlich rund 160 Millionen Exemplare vertilgen. Erklärt weniger der Geschmack als die Geschichte die Schweizer Lust auf Cervelat? Rezepte für den Cervelat finden sich bereits in frühneuzeitlichen Kochbüchern. In seiner heutigen Form stammt er aber aus dem 19. Jahrhundert. Damals ermöglichte einerseits der Fleischwolf, die Füllmasse feiner zu zerhacken. Andererseits transformierten die Industrialisierung und Urbanisierung die Fleischwirtschaft grundlegend. Zentralisierte Schlachthäuser brachten verbindliche Hygieneregeln und Arbeitsprozesse. Eng definierte Produktionsstandards machten den Cervelat zur billigen Massenware. Den Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern bot das sogenannte Proletenfilet eine Möglichkeit, trotz tiefem Lohn an tierische Proteine zu kommen.
Blick in die Grossmetzgerei E. Schläpfer-Siegfried in St. Gallen, um 1905.
Blick in die Grossmetzgerei E. Schläpfer-Siegfried in St. Gallen, um 1905. Schweizerisches Nationalmuseum
Als sich der Fleischmarkt nach 1945 globalisierte, fanden die Schweizer Metzger Geschmack am Darm des brasilianischen Zebu-Rinds. Doch auch eine zunehmend global integrierte Produktionskette änderte nichts am Status als Wurst der Nation. Mit der Wirtschaft wuchs in der Nachkriegszeit der Fleischkonsum und der Cervelat etablierte sich auf den Tellern aller Sprachregionen zu einer verbindenden Normalität.
Herstellung einer Cervelat in der Metzgerei, 1985. SRF

Auch der Landjäger

Wenigstens einen Hauch von Glamour versprüht die «Cervelat-Prominenz». Das liegt mitunter daran, dass die Wurst die Verwandlung von Restfleisch in eine Delikatesse schafft. Wie bei den meisten nationalen und regionalen Wurstspezialitäten zeigt sich das auch beim Landjäger. Auch diese Schweizer Lieblingswurst geht auf die Industrialisierung der Fleischwirtschaft zurück. Zwar steht die Form der paarweise verkauften, geräucherten, viereckig gepressten Rohwurst seit dem 19. Jahrhundert fest und stramm wie die Beine eines Dorfpolizisten. Am Inhalt des Landjägers wurde dagegen immer wieder getüftelt. Vor einem Jahrhundert bot der Landjäger noch Platz für das, was beim Schlachten eben gerade anfiel. In den Schweinedarm kam Rind, Schwein, Kalb, Pferd oder alles zusammen. Heute vereint der Landjäger dagegen etwa vier Teile Kuhfleisch und einen Teil Rückenspeck, dazu Gewürze und Nitritpökelsalz für die rötliche Färbung.
Gestrickte Landjäger der Künstlerin Mme Tricot, 2019.
Gestrickte Landjäger der Künstlerin Mme Tricot, 2019. Schweizerisches Nationalmuseum

Alterna­ti­ven der Zukunft

Historisch ging der Versuch, den Fleischanteil von Würsten zu reduzieren, oft auf den Wunsch nach tieferen Kosten zurück. Die jüngste Geschichte hat der fleischlosen Wurst dagegen aus ethischen Gründen Aufschwung verliehen. Vegetarische Ersatzprodukte eroberten seit der Jahrtausendwende einen immer grösseren Platz in den Theken der Detailhändler. Dieses Wachstum provozierte neue Fragen: Darf man ein veganes Erzeugnis überhaupt als «Landjäger» oder «Cervelat» bezeichnen? 2020 schlug das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen als Kompromiss vor: «vegane Alternative zum Cervelat». Heisst so die Nationalwurst der Zukunft? Vielleicht wissen wir es nach der nächsten Europameisterschaft.

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