Blick in einen Hörsaal Ende des 19. Jahrhunderts.
Lange war ein Studium vorwiegend Männersache. Blick in einen Hörsaal Ende des 19. Jahrhunderts. ETH Bibliothek Zürich

Russische Vorrei­te­rin

Nadeschda Suslowa schloss als erste Studentin im deutschen Sprachraum das Medizinstudium in Zürich ab. Damit öffnete sie vielen Frauen die Tore zu den Hochschulen.

Manda Beck

Manda Beck

Manda Beck ist Historikerin und arbeitet bei Swiss Sports History.

Am 14. Dezember 1867 stösst Nadeschda Prokofjewna Suslowa vielen Frauen das Tor zur Universität auf. Als erste Frau im deutschen Sprachraum schliesst sie an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich das Studium ab. Die Neuigkeit über ihre Promotion verbreitet sich rasch in alle Welt. Nadeschda Suslowa kommt am 1. September 1843 als drittes Kind von Prokofij Grigorjewitch Suslow und Anna Iwanowna im zaristischen Russland zur Welt. Mit 16 Jahren macht sie das Hauslehrerinnenexamen in St. Petersburg, den höchsten Abschluss, den eine Frau im damaligen Russland erwerben kann. In den 1860er-Jahren herrscht eine revolutionäre Stimmung in St. Petersburg, die auch Suslowa politisiert und sozialisiert. Ihr Wunsch, Ärztin zu werden, verstärkt sich. Die St. Petersburger Medizinisch-Chirurgische Akademie macht eine Ausnahme und lässt die junge Frau als Hörerin Vorlesungen besuchen. Dank einer Sonderbewilligung des Knabengymnasiums erlangt sie einen Maturitätsabschluss, mit dem sie sich offiziell einschreibt. Als es zu revolutionären Wirren kommt, macht man Studentinnen für Unruhen an den Universitäten verantwortlich und verbietet ihnen das Studium. Nadeschda Suslowa zieht nach Zürich.
Porträt von Nadeschda Suslowa.
Porträt von Nadeschda Suslowa. UZH Archiv

Die Univer­si­tät Zürich als Vorreiterin

In Zürich sind Frauen seit 1840 als Hörerinnen an der Universität zugelassen. Ein ordentlicher Hochschulabschluss wird ihnen aber bis 1865 verwehrt. Kurz vor Suslowa hat mit Marija Alexandrowna Kniaschnina schon eine Frau aus St. Petersburg die Zulassung zum Medizinstudium beantragt. Die Universität ist erst 30 Jahre jung und für ihre Liberalität und Offenheit bekannt. Eine offizielle Regelung zum Frauenstudium gibt es nicht. Mit dem Einverständnis der Dozenten stimmt der Ausschuss Kniaschninas und Suslowas Besuch der medizinischen Vorlesungen zu. Dies ist der Beginn des Frauenstudiums an der Universität Zürich und in der Schweiz. Zu Beginn wohnen die beiden jungen Frauen zusammen in einer Pension in Fluntern. Kniaschnina bricht ihr Studium wenig später ab, Suslowa ist nun auf sich allein gestellt. Sie fühlt sich oft einsam und schreibt ihrer Schwester: «Meine Einsamkeit hier, das Fehlen von allem Menschlichen […] versetzt mich manchmal in Raserei! Ich möchte ein menschliches lebendiges Wesen sehen, ein rechtes Leben!» Je einsamer sie ist, desto stärker konzentriert sie sich auf ihr Studium – mit Erfolg. Die Professoren bringen ihr grosse Wertschätzung entgegen, und auch die Kommilitonen akzeptieren sie.
Fotografie der Universität Zürich von 1914.
Die Universität Zürich war schon im 19. Jahrhundert offen und liberal. Schweizerisches Nationalmuseum
Als Suslowa die Abschlussprüfung macht, kündigt die Neue Zürcher Zeitung sie schon vorgängig an: «Heute um 11 Uhr wird im Hörsaal Nr. 4 der Hochschule Fräulein Suslowa von St. Petersburg ihre Disputation halten zur Erlangung der Doktorwürde für Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe.» Ihre mündliche Prüfung muss in einen grösseren Saal verlegt werden, damit das zahlreiche Publikum zusehen kann. Mit Bravour verteidigt Suslowa ihre Arbeit zur Physiologie der Lymphherzen. Ende 1867 kehrt die frischgebackene Ärztin nach Russland zurück und schafft es – trotz zahlreicher Steine, die man ihr in den Weg legt –, als erste Frau in Russland eine eigene gynäkologische Arztpraxis zu eröffnen. «Ich bin die erste, aber nicht die letzte», schreibt die Pionierin an ihre Schwester. «Nach mir werden Tausende kommen.» Damit wird sie recht behalten. Auch privat findet sie ihr Glück: Sie heiratet den Schweizer Arzt Friedrich Erismann, mit dem sie in Zürich studiert hat, und er folgt ihr ins Zarenreich.
Dissertation von Nadeschda Suslowa, 1867.
Dissertation von Nadeschda Suslowa, 1867. Zentralbibliothek Zürich

Der Weg ist geebnet

Fünf Jahre nach Suslowas Promotion nimmt die Zahl der Studentinnen an der Universität Zürich explosionsartig zu. Die meisten von ihnen stammen aus Russland. Im Sommer 1873 sind von 114 Studentinnen 100 Russinnen. Dies stösst bei ihren Kommilitonen zunehmend auf Kritik. Die Frauen seien oftmals ungenügend auf das Studium vorbereitet, wird ihnen vorgeworfen, und zu wenig ambitioniert. Auch von der bürgerlichen Zürcher Gesellschaft werden sie ausgegrenzt. Es werden ihnen zunehmend keine Zimmer mehr vermietet. Ein Grund sind die politischen Aktivitäten, die zahlreiche Studentinnen verfolgen: Russische Revolutionärinnen bilden in Fluntern und Oberstrass Kolonien und bleiben gerne unter sich. 1873 endet die Ära der Russinnen in Zürich abrupt. Zar Alexander II. befürchtet eine Revolution der studierenden Frauen. Er verbietet russischen Studentinnen aus Zürich, in ihrem Heimatland zu arbeiten. Die meisten Russinnen brechen ihr Studium nun ab. Wenig später ändert die Universität Zürich ihre Aufnahmebedingungen. Alle Nichtkantonsbürgerinnen und -bürger müssen einen Ausweis der vorangegangenen Ausbildung vorlegen oder eine Zulassungsprüfung ablegen. Die Zahl der Studentinnen bricht massiv ein. Waren im Frühjahrssemester 114 Frauen immatrikuliert, sind es im Herbstsemester noch 29.
Fluntern im Jahr 1889.
Fluntern im Jahr 1889. Die Gemeinde wurde 1893 eingemeindet und ist seither ein Quartier von Zürich. Schweizerisches Nationalmuseum

Hohe Hürden für Schweizerinnen

Trotz der liberalen Aufnahmepraxis einiger Schweizer Universitäten ist der Weg der Schweizerinnen an die Universität besonders steinig. Es fehlen Schulen für Frauen, die sie zum Universitätsstudium befähigen. Inspiriert von Nadeschda Suslowa, besucht die Aargauerin Marie Vögtlin ab 1868 als erste Schweizerin Vorlesungen an der medizinischen Fakultät. Der ambitionierten Frau ist es gelungen, die Maturitätsprüfung abzulegen, auf die sie sich autodidaktisch vorbereitet hat. Mit der Einwilligung ihres Vaters darf sie sich nun an der Universität Zürich immatrikulieren. Schweizer Frauen bleiben jedoch lange Ausnahmeerscheinungen an der Universität. Bis 1914 sind ausländische Studentinnen in der Überzahl. Marie Vögtlin – nach ihrer Heirat Heim-Vögtlin – wird zur ersten Schweizer Ärztin und damit zur Pionierin: Sie eröffnet eine gynäkologische Praxis in Zürich und wird Mitbegründerin des ersten Schweizer Frauenspitals.
Porträt von Marie Heim-Vögtlin.
Porträt von Marie Heim-Vögtlin. Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich
Am Anfang steht jedoch die Pionierleistung von Nadeschda Suslowa, die unzählige Hürden überwand und vielen Frauen den Weg zum Studium ebnete. Allen Verboten, Vorurteilen und Ausgrenzungen zum Trotz hat sie ihr Ziel unaufhaltsam verfolgt – und es erreicht. Früh hat die Russin erkannt, dass ein Frauenleben mehr beinhalten konnte, als es ihre Zeit für sie vorsah: «Anscheinend kann das Schicksal einer Frau nicht nur aus der Welt zwischen dem Schlafzimmer und der Küche und dem Haushalt bestehen. Vielleicht ist es ja doch möglich, dass auch eine Frau etwas Besonderes erreichen kann und damit zu einer Heldin wird, sehr lange im Gedächtnis der Menschen verbleibt und durch ihre Taten in die Geschichte eingeht.»

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