Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, 1900.
Rückzug von Marignano, Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, 1900. Schweizerisches Nationalmuseum

Der Zürcher Kunststreit: Ferdinand Hodler und das Landesmuseum

1900 schuf der Schweizer Künstler Ferdinand Hodler drei Fresken für die Ruhmeshalle des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich. Hodler ignorierte die Wünsche seiner Auftraggeber und löste mit der Bildkomposition für sein Werk «Rückzug von Marignano» eine landesweite Kontroverse aus.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Ferdinand Hodler (1853-1918) hatte viel Erfahrung mit Armut, Hunger und Tod. Als ältestes der sechs Kinder von Johannes Hodler und Margarete Neukomm wuchs er im ärmsten Quartier von Bern auf, wo seine frühen Jahre von beinahe ständigen Mühen und Entbehrungen geprägt waren. Im Jugendalter hatte Hodler bereits beide Eltern und mehrere Geschwister an die Tuberkulose verloren. Dessen ungeachtet bewies er ein ausgeprägtes Talent für die Malerei. Nach seiner Lehre beim Berner Vedutenmaler Ferdinand Sommer ging er 1871 nach Genf – zu Fuss, ohne einen Rappen in der Tasche und ohne ein Wort Französisch sprechen zu können. In Genf fand Hodler auf Zuspruch seines Lehrers Barthélemy Menn Inspiration in den Werken von Holbein, Tizian, Poussin, Velázquez, Goya und Alexandre Calame. Die Werke dieser Künstler sollten seine Wahrnehmung von Form, Bewegung und Farbe nachhaltig prägen und gleichzeitig sein grosses Interesse am paradoxen Zusammenspiel von Leben, Tod und Körperlichkeit weiter verstärken. Hodlers erste Werke aus den 1870er- und 1880er-Jahren sind eine Mischung von Genremalereien, zumeist Landschaften und Porträts im realistischen Stil. Genfer Kunstkritiker stempelten sie als uninteressant ab und praktisch alles, was Hodler dem Pariser Salon vorlegte, wurde ignoriert. Erst Die Nacht (1889/1890) brachte Hodler nach all den Jahren, in denen er sich missverstanden gefühlt hatte, endlich die lang ersehnte Anerkennung. Abgebildet ist eine geheimnisvolle, dunkel verhüllte Figur umringt von sieben schlafenden Figuren, darunter auch Hodler selbst, seine Frau Bertha Stucki und seine Geliebte Augustine Dupin. Die Nacht klingt pessimistisch und mürrisch an, doch ist sie gleichzeitig mit Bedeutung aufgeladen und durchdrungen von kontrastierenden Farbpalletten. Der Genfer Stadtpräsident befand zwar Hodlers Werk als so bizarr, dass er es aus moralischen Gründen aus der Exposition Municipale entfernen liess, doch in Paris löste Die Nacht bei den Besucherinnen und Besuchern des Salon du Champ-de-Mars helle Begeisterung aus. Sogar führende französische Künstler der Epoche wie Auguste Rodin, Edgar Degas und Puvis de Chavannes überbrachten Hodler persönliche Komplimente. Die Nacht war der Markstein für Hodlers provokante Hinwendung zu Symbolismus und Jugendstil. Der Höhepunkt bildete schliesslich die Entwicklung eines ganz eigenen Kompositionsstils, den Hodler «Parallelismus» nannte. Sein neuer Ansatz in der Malerei betonte die komplementären Kräfte von Symmetrie und Rhythmus, die seiner Meinung nach die Grundlage der menschlichen Gesellschaft bildeten.
«Die Nacht», 1898/1890.
Die Nacht, 1898/1890. Wikimedia / Kunstmuseum Bern

Farbe existiert gleich­zei­tig mit Form. Beide Elemente sind ständig mitein­an­der verbunden, aber Farben sind auffäl­li­ger – eine Rose zum Beispiel – manchmal bilden sie – den mensch­li­chen Körper.

Hodler über die Bedeutung von Farben

Der «Fresken­streit»

Hodler konnte sich in den 1890er-Jahren in der Schweiz einen Ruf als Avantgarde-Künstler aufbauen – es war genau die richtige Zeit dafür. Nachdem die Schweiz 1848 zu einem Bundestaat geworden war, florierte der Bau neuer Bundesgebäude, Büros, Schulen und Museen. 1891 setzte sich Zürich gegenüber Basel, Bern und Luzern als Standort für das Schweizerische Landesmuseum durch. Im Jahr darauf trat dessen erster Direktor, Heinrich Angst (1847-1922), zum ersten Mal mit der Idee an die Bundesbehörden, das Museum mit Fresken der Schlacht bei Murten (1476) oder der Schlacht von Marignano (1515) zu versehen. Die Niederlage der Schweiz gegen die französische Armee in Marignano löste um die Jahrhundertwende – wie auch heute noch – eine heftige Debatte rund um die Neutralität der Schweiz aus. Für viele Schweizerinnen und Schweizer der Belle Epoque stellte die Niederlage auf den Feldern der Lombardei mit 12'000 Toten einen Wendepunkt in der Geschichte dar, der das Ende der Alten Eidgenossenschaft als europäische Grossmacht markierte. Aufgrund der Bedeutung der Schlacht von Marignano wünschte sich Angst Fresken, die ein starkes Gefühl von Nationalstolz vermitteln und die gesellschaftliche Solidarität der Eidgenossenschaft widerspiegeln sollten. Er hoffte ausserdem, dass das Werk zu einer beliebten Attraktion unter Museumsbesucherinnen und -besuchern sowie internationalen Reisenden werden würde.
Ferdinand Hodler, um 1909.
Ferdinand Hodler, um 1909. Schweizerisches Nationalmuseum
Porträt des ersten Direktors des Schweizerischen Landesmuseums Heinrich Angst (1847-1922), gemalt von Caspar Ritter, 1897.
Heinrich Angst, gemalt von Caspar Ritter, 1897. Schweizerisches Nationalmuseum
1897 erhielt und akzeptierte Hodler die formelle Anfrage zur Gestaltung von drei Fresken in der Ruhmeshalle des Landesmuseums. Zwar hatte Hodler in der Vergangenheit bereits Werke mit historischen oder patriotischen Motiven entworfen und umgesetzt, doch für das Landesmuseum hatte er etwas völlig anderes im Kopf. Hodler war durch und durch ein Provokateur und so ignorierte er die Wünsche und Anweisungen von Angst. Er wollte den Betrachter aufrütteln und zum Nachdenken anregen, wie er es bereits mit Die Nacht getan hatte. Ausserdem wusste er, dass eine Vogelperspektive des Schlachtfelds oder die Darstellung eines Militärangriffs beim Museumspublikum keinen Anklang finden würde. Stattdessen wollte er die Erlebnisse einfacher Schweizer Soldaten auf dem Schlachtfeld ins Zentrum stellen und verallgemeinern. Hodler argumentierte, er könne eine überzeugende politische Botschaft über die Erhabenheit und die Standhaftigkeit des Schweizer Volkes übermitteln und gleichzeitig den Moment der Niederlage und des anschliessenden Rückzugs festhalten. Indem er mit den Erwartungen seiner Gönner brach, verlieh Hodler der Historienmalerei, wie sie in der Schweiz verstanden wurde, unwissentlich eine neue Definition und trat den «Freskenstreit» los.
Studie zum dritten Karton des Wandbilds Rückzug von Marignano, um 1897.
Studie zum dritten Karton des Wandbilds Rückzug von Marignano, um 1897. Wikimedia
Angst goutierte Hodlers Neuinterpretation nicht und versuchte, deren Umsetzung im Museum zu verhindern. Auch in Zürich zeigte sich die lokale Presse empört und feindselig gegenüber Hodler: Das Tagblatt der Stadt Zürich verurteilte die Fresken als «abstossende Abscheulichkeit» und andere Publikationen riefen die Züricherinnen und Zürcher 1898 mehrfach auf, sich in Gruppen zu organisieren und Hodler die Stirn zu bieten. Einige lobten zwar die Nüchternheit von Hodlers Formen und Farbtönen sowie die Klarheit der Ordnung und die monumentalen Ausmasse, andere kritisierten jedoch vermeintliche Anachronismen in der Darstellung von Waffen, Trachten und Fahnen sowie das Blutvergiessen der Soldaten. Hodler seinerseits war über die hitzige Debatte und die grosse Ablehnung der Öffentlichkeit weder bestürzt noch besonders beunruhigt. Aufgrund der früheren Erfahrung mit Die Nacht hatte Hodler einen feinen Geschäftssinn entwickelt und wusste, dass Provokation ein äusserst nützliches Mittel war, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen und sich lukrative Aufträge zu sichern. Er entschied sich, abzuwarten. Schliesslich war er in jungen Jahren mit weit grösseren Schwierigkeiten fertig geworden.

Meine Gemälde von Marignano repräsen­tie­ren und charak­te­ri­sie­ren das Schweizer Volk, indem sie sein Heldentum, seine Stärke, sein Durchhal­te­ver­mö­gen und die Brüder­lich­keit unserer vom Unglück geplagten Krieger aufzeigen.

Ferdinand Hodler in Notice sur les trophées, 1898.

Ein schwei­ze­ri­sches Kulturgut

Schliesslich wurde eine Jury einberufen, zu der auch Gustav Gull, Architekt des Landesmuseums, und der Schweizer Maler und Illustrator Albert Anker gehörten. Beide verlangten den Abbruch der Arbeiten und die Vorlage neuer Entwürfe durch Hodler für die weitere Erwägung. Hodler akzeptierte dies und erstellte zeitnah neue Entwürfe, die im November 1898 im Landesmuseum ausgestellt wurden und bereits in den ersten vier Tagen 8000 Besucherinnen und Besucher anzogen. Aufgrund des grossen Tumults schaltete sich schliesslich der Bundesrat in die Angelegenheit ein und begab sich nach Zürich, um sich selbst ein Urteil über Hodlers neue Entwürfe zu bilden. Am 12. Juni 1899 erreichten die Mitglieder des Bundesrats einen Konsens und teilten der Öffentlichkeit ihren Beschluss mit: Hodler durfte seine Arbeit umgehend wieder aufnehmen und die Fresken fertigstellen. Nach vielen Verzögerungen und vier Überarbeitungsrunden des Originaldesigns in drei Jahren stellte Hodler Rückzug von Marignano im Jahr 1900 fertig.
Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, 1900.
Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, mittlerer Teil, 1900. Schweizerisches Nationalmuseum
Rückzug von Marignano untermauert Hodlers Virtuosität bei der Darstellung des menschlichen Körpers und bei der Projektion dessen, was er in der Natur als «ewig» erachtete und verborgene Schönheit offenbart. Die Farben rosa und grau dominieren das Hauptfresko, das die menschliche Tragödie, das Blutvergiessen und die militärische Niederlage darstellt. Vergrössert im Format aber vereinfacht in Ausdruck und Details, ruht der Blick auf dem sich entfaltenden Drama. Hodlers meisterhafte Darstellung weniger Figuren in einem sehr grossen Massstab gewährleistet die Klarheit dieser Perspektive und verleiht seinen Fresken den monumentalen Charakter, der einem Landesmuseum gebührt. Hodlers Soldaten im Hauptfresko sind zwar stark und muskulös, zeigen sich jedoch auch feierlich im Rückzug: geschunden, geschlagen und blutverschmiert nach einem ganzen Tag und einer ganzen Nacht des Kampfes. Sie ringen darum, ihre Würde zu bewahren und ihren Weg fortzusetzen, aber es gelingt ihnen, dies ehrenhaft zu tun. Unten rechts im Rückzug von Marignano sieht der Betrachter einen blutverschmierten Hellebardier im breiten Stand, der den Rückzug der erschöpften Fahnenträger und verletzten Soldaten gegen die nachrückende französische Armee verteidigt. (Diese Figur sollte Hodler später den Spitznamen «Bluthodler» in der Schweizer Presse einbringen.) Zur Linken dieses Hellebardiers beginnt sich ein Krieger mit einer Axt umzudrehen, so als wolle er den Blick des Betrachters erwidern. Im Zentrum hebt sich ein stoischer Krieger mit einer Hellebarde über der Schulter durch sein rotes Wehrkleid von den anderen ab. Er ist die fleischgewordene Schlacht von Marignano. Am linken Bildrand schreitet ein anderer Krieger mit blutiger Schwertspitze voran. Hodler verlieh diesem Schwertträger sein eigenes Antlitz als Andeutung, dass die Niederlage in Marignano für alle Schweizerinnen und Schweizer über Zeit und Raum hinweg spürbar ist. Zwei kleinere Fresken ergänzen das Hauptwerk. Trotz seiner gebrochenen Beine hält der gefeierte Basler Fähnrich Hans Baer der Jüngere noch im Sterben mitten in einer Lache seines eigenen Blutes das Kantonsbanner aufrecht. Im anderen Fresko gibt ein Soldat der sich zurückziehenden Armee Deckung, beide Hände mit grimmiger Entschlossenheit am Schwert. Im oberen Bildbereich fliegen Löwenzahnsamen durch die Luft. Sie versinnbildlichen möglicherweise, dass in jedem Ende ein Anfang innewohnt. Die Tapferkeit des Friedens tritt erst zutage, wenn man die Abgründe des Kriegs durchschritten hat.
Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, rechte Seite, 1900.
Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, rechte Seite, 1900. Schweizerisches Nationalmuseum
Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, linke Seite, 1900.
Rückzug von Marignano. Fresko an der Westseite der Ruhmeshalle im Landesmuseum Zürich, linke Seite, 1900. Schweizerisches Nationalmuseum
1911 übertrug der Bundesrat Ferdinand Hodler den Auftrag für ähnliche Wandmalereien an der gegenüberliegenden Wand der Ruhmeshalle im Landesmuseum, die die Schlacht bei Murten darstellen sollten. Doch die Fresken an der Ostseite der Ruhmeshalle blieben unvollendet: Hodler starb am 19. Mai 1918 in seiner Wohnung in Genf an einem chronischen Lungenleiden. Der Schweizer Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka bringt es in Die Grossen Schweizer (1960) treffend auf den Punkt: «Rückzug von Marignano im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich ist das grösste Fresko, das die Schweiz seit Jahrhunderten hervorgebracht hat – und das wird wohl noch lange Zeit so bleiben. Noch nie hat ein Rückzug eine so heroische Form erhalten. In diesem Fresko nimmt der Rückzug den energischen Charakter eines unbezwingbaren Angriffs an. Es ist Teil des tragischen künstlerischen Schicksals von Hodler, dass ihm die Schaffung dieser Fresken derart erschwert worden ist.» Rückzug von Marignano spiegelt sicherlich die Lebenserfahrungen und innersten Überzeugungen eines Mannes wider, der als «Volkskünstler» bezeichnet werden kann.
Entwurfszeichnung für das Wandgemälde Schlacht bei Murten, 1917.
Entwurfszeichnung für das Wandgemälde Schlacht bei Murten, 1917. Schweizerisches Nationalmuseum

Weitere Beiträge