1977 besuchte eine indigene Delegation die Schweiz, um ihre Anliegen einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Auf dem Programm stand auch ein Besuch auf dem Jungfraujoch.
1977 besuchte eine indigene Delegation die Schweiz, um ihre Anliegen einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Auf dem Programm stand auch ein Besuch auf dem Jungfraujoch. ETH Bibliothek Zürich

Schweizer Tradition des indigenen Widerstands

Der Widerstand von indigenen Organisationen und Gesellschaften führt traditionellerweise auch über die Schweiz. Das hat mit dem UNO-Hauptsitz in Genf zu tun. Aber nicht nur.

Rachel Huber

Rachel Huber

Rachel Huber ist Historikerin und assoziierte Forscherin an der Universität Bern.

Sie müssen ein ungewöhnlich anmutendes Bild für Genferinnen und Genfer abgegeben haben, als am 20. September 1977 mehrere Indigene Männer aus den USA in traditioneller Kleidung unter Trommelwirbel vor dem UNO-Gebäude Palais des Nations erschienen. Die für schweizerische Augen ungewohnt bekleideten Männer zogen freilich alle Aufmerksamkeit sowohl der Schaulustigen als auch der Presse auf sich. Die Gruppe von Indigenen aus den USA reiste Ende September 1977 in der ganzen Schweiz, in Bern, Zürich und Biel, herum und unternahm unter anderem auch einen Ausflug aufs Jungfraujoch. Die Reise auf den wohl berühmtesten Berg der Schweiz wurde von den Bahnen der Jungfrau-Region gestiftet.
Ankunft der indigenen Delegation in Genf, 1977.
Ankunft der indigenen Delegation in Genf, 1977. iitc.org
Obwohl auch Abgesandte anderer indigener Nationen unter ihnen waren und diese Männer sich in den 1970er-Jahren in ihrem Lebensalltag längst nicht mehr traditionell kleideten, entschieden sie sich aus PR-Gründen dafür, die global bekannteste traditionelle indigene Tracht zu tragen: die der Lakota (Sioux), also der indigenen Gesellschaften, die vor der europäischen Invasion auf ihren Kontinent im Mittleren Westen der USA lebten. Damit bedienten sie bewusst europäische Erwartungen an «Indianer», die in dieser Form spätestens seit den Verfilmungen von Karl Mays Büchern in den 1960er-Jahren eher eine Population darstellten, welche das kulturelle Gedächtnis der Europäerinnen und Europäer bewohnte als die Great Plains in den USA. Ihr antizipiertes Ziel ging auf. Sie stellten ein dankbares Pressefoto-Sujet dar, schienen die Besucher aus Kanada, den USA und vielen südamerikanischen Staaten doch gänzlich aus der Zeit gefallen zu sein: «Sind die echt?», rief gar ein Kind, als die indigene Delegation in Bern auf Einladung von Stadtpräsident Reynold Tschäppät das Bundeshaus besuchte.
Das Thuner Tagblatt berichtete auf der Titelseite über die Ankunft der Indigenen in Genf, 20. September 1977.
Das Thuner Tagblatt berichtete auf der Titelseite über die Ankunft der Indigenen in Genf, 20. September 1977. e-newspaperarchives
Besuch des Jungfraujochs nach der Konferenz in Genf, Anfang Oktober 1977.
Besuch des Jungfraujochs nach der Konferenz in Genf, Anfang Oktober 1977. ETH Bibliothek Zürich
Bevor die Delegation jedoch der Schweizer Hauptstadt einen Besuch abstattete, traf sie am 26. September 1977 in Zürich im Musiksaal des Stadthauses bei einem Aperitif Stadträtin Emilie Lieberherr und den Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Nationalrat Ezio Canonica. Die ganze Reise durch die Schweiz wurde von der Schweizer Organisation Incomindios (International Committee for the Indians of the Americas) organisiert. Incomindios wurde Ende 1973 nicht zufällig in der Schweiz gegründet. Ein indigener Aktivist, der im Auftrag des International Indian Treaty Councils (IITC), des 1973/74 gegründeten Indigenen Vertragsrats, in die Schweiz reiste, wusste von Aktivistin Janet McCloud, dass sich seit Ende der 1960er-Jahre verschiedene Personen in der Schweiz darum bemühten, eine Solidaritätsgruppe für die Indigenen der Amerikas zu gründen und er dort mit seinem Anliegen einer pro-indigenen Allianz auf offene Ohren stiesse. Andererseits war es das Ziel, Anliegen der Indigenen in den USA vor die supranationale UNO in Genf zu bringen.
Auch die damals 18-jährige Winona LaDuke sprach an der UNO-Konferenz in Genf.
Auch die damals 18-jährige Winona LaDuke sprach an der UNO-Konferenz in Genf. American Indian Movement Interpretive Center
Dass sich Indigene aus Nordamerika an zwischenstaatliche Organisationen in der Schweiz wenden, war nicht neu. Nach dem Ersten Weltkrieg 1922 entschied sich die von Kanada unterdrückte indigene Konföderation Six Nations (Irokesen), ihren Sprecher Chief Hoyaneh Deskaheh (Haudenosaunee) nach Genf vor den Völkerbund zu entsenden. Dieser scheiterte zwar trotz grosser Bemühungen, da Grossbritannien und Kanada dafür sorgten, dass seine Forderung nach Souveränität und Unabhängigkeit von Kanada nicht direkt vor den Völkerbund gelangte. Dennoch entwickelte sich der Gang über den Atlantik in die Schweiz im pan-indigenen Selbstverständnis der nachfolgenden Widerstandsgenerationen als wichtige Möglichkeit, den Blick der globalen Staatengemeinschaft sowie der Weltöffentlichkeit auf ihre akuten sozialen Missstände zu richten.
Pressefotografie von Chief Hoyaneh Deskaheh gemeinsam mit Irokesenkommission der Schweizer Liga für Eingeborenenschutz, Genf 1923.
Pressefotografie von Chief Hoyaneh Deskaheh gemeinsam mit Irokesenkommission der Schweizer Liga für Eingeborenenschutz, Genf 1923. notrehistoire.ch / Bibliothèque de Genève
1977 versuchte eine indigene Delegation des IITC erneut, ihren Anliegen in Genf Gehör zu verschaffen. Sie nahm an der International NGO-Conference on Discrimination against Indigenous Populations in the Americas teil, welche vom 20. bis zum 23. September in Genf stattfand. Die Konferenz fand auf Einladung des Komitees für Rassismus, ethische Diskriminierung, Apartheid und Dekolonisation, einem Subkomitee des Spezialkomitees für Menschenrechte statt, welches zum Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) gehört. Incomindios war massgeblich an der Ermöglichung der Teilnahme der Delegation des IITC an der Konferenz und der Organisation von deren Aufenthalt in der Schweiz beteiligt. Eine Tradition und damit eine historische Kohärenz etablierten Vertreter der Delegation von 1977, indem sie sich explizit auf Deskaheh beriefen: «The Six Nations were here 53 years ago to say the very same thing, the unity of spirit and brotherhood. United Nations is nothing new to us.»
Das Ende der Konferenz in Genf in einem Artikel des «Walliser Boten», 26. September 1977.
Das Ende der Konferenz in Genf in einem Artikel des «Walliser Boten», 26. September 1977. e-newspaperarchives
Die Genfer UN-Konferenz von 1977 war eines von vielen Schlüsselereignissen innerhalb der Red Power Bewegung, wie der politische Widerstand der Indigenous Peoples der USA in den 1960er- und 1970er-Jahren genannt wird. Zudem wird sie von einigen Indigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Auftakt des Prozesses gesehen, der 2007 in die Verabschiedung der United Nations Declaration of the Rights of Indigenous Peoples (UNDRIP) mündete. Damit spielt die Schweiz als Sitz der UNO sowohl für pan-indigene diplomatische Bemühungen und für das Einfordern von Menschenrechten als auch für die Widerstandsgeschichte der nordamerikanischen Indigenen seit 100 Jahren eine wichtige Rolle.

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