
Der Tessiner Glacékönig
Carlo Gatti aus einem Tessiner Bergtal wanderte nach Paris und später nach London aus. Dort verkaufte er als Erster Speiseeis über die Gasse und entwickelte sich nach und nach zum ungekrönten «Eiskönig» des victorianischen Englands.
Im Hungerjahr 1817 kam der Junge in kleinen Dorf Marogno im Bleniotal zur Welt. Karg und bescheiden war das Leben im Tessiner Bergtal. Wer mehr wollte, als nur knapp überleben, der musste weg, musste auswandern. Weg wollte Carlo Gatti auch, weil er ein schlechter Schüler war und dies immer wieder durch die Hiebe des Dorflehrers zu spüren bekam.
So machte er sich schon im Alter von 13 Jahren auf, um seine Heimat für immer zu verlassen. In manchen Überlieferungen war er erst 12 und konnte nicht einmal schreiben. Dichtung und Wahrheit vermischen sich hier in der Biografie von Carlo Gatti.
Im Alter von 30 Jahren entschloss er sich, weiter nach London zu ziehen, wo das British Empire in voller Blüte stand. Im Stadtviertel Holborn betrieb er einen Verkaufswagen mit Kaffee und Waffeln, dazu bot er auch noch Marroni an. Vor allem irische, aber auch italienische Einwanderer wohnten in diesem eher ärmlichen Stadtteil, die wie Gatti ein Auskommen in der Grossstadt suchten.
Zur Abrundung des Angebots kam die Innovation Gattis: Er verkaufte Speiseeis, und zwar erstmals nicht für Könige oder andere Reiche, sondern erschwinglich für jede Frau und jeden Mann. Er demokratisierte damit das Schlecken von Ice cream.
Dazu scheute er keinen Aufwand, denn es gab zu dieser Zeit weder Kühlanalagen noch Eismaschinen. Gatti importierte das Eis per Schiff aus Norwegen, bohrte am Regent’s Canal 10 Meter breite und 13 Meter tiefe Löcher in den Boden. Dort konnte er im Zeitalter vor der Elektrizität das Gefrorene kühl lagern. Zudem importierte er eine Eismaschine aus Frankreich, wo das Glacé zwar den Reichen und Vornehmen vorbehalten, aber seine Produktion schon weiterentwickelt war.
Als dann die Weltausstellung 1851 in London für Aufsehen sorgte, bestand Gatti quasi alle Prüfungen, die er früher verpasst hatte: Denn er präsentierte dort gemeinsam mit Battista Bolla eine Maschine zur automatischen Zubereitung von Speiseeis – eine Sensation! Der Aufstieg der Beiden war in der Folge steil: Sie eröffneten unzählige Cafés, Eisdielen und einen Cateringbetrieb, mit dem sie die private Kundschaft belieferten, aber auch Restaurants, Lebensmittelhändler und Spitäler gehörten zur Kundschaft. Dazu hatten Gatti & Bolla einen ganzen Fuhrpark mit Pferdewagen. In den Cafés setzte Gatti auf eine einfache Küche mit Gerichten zu moderaten Preisen aus Kontinentaleuropa. Der (angebliche) Analphabet wurde so innert weniger Jahre zum Millionär und zum Multimillionär!
Gatti liess sich in England einbürgern. Dennoch vergass er nie seine Tessiner Heimat, der er als Förderer von Emigranten aus seiner Heimat verbunden blieb. Er zog zahlreiche Tessiner nach, die in seinen Betrieben ein Auskommen fanden. In den Stadtvierteln Strand Area, Holborn, Lambeth und Islington entstanden aufgrund von Gattis vielfältigem Wirken eigentliche Tessinerkolonien.


