Genf und Umgebung zwichen 1715 und 1719. Gemalt von Robert Gardelle (1682-1766).
Genf und Umgebung zwichen 1715 und 1719. Gemalt von Robert Gardelle (1682-1766). Bibliothèque de Genève

Der Tyrann von Cartigny

Im 18. Jahrhundert befanden sich einige Landgebiete um die Stadt Genf unter doppelter Herrschaft des protestantischen Genfs und des katholischen Savoyens. Der unermüdliche Landadlige Pierre de La Grave machte sich die unklaren Verantwortlichkeiten zunutze, um seine Nachbarn zu terrorisieren.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

1711, ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Villmergerkriegs, lud die Seigneurie von Genf zur Modernisierung der Befestigungsanlagen mehrere Ingenieure ein. Der evangelische Theologe Bénédict Pictet wurde als Rektor der Akademie berufen und der kartesianische Philosoph Jean-Robert Chouet amtete an der Seite des Arztes Daniel Le Clerc als Erster Syndic. Zu dieser Zeit herrschte die reformierte Aristokratie uneingeschränkt. Bewiesen hatte sie dies vier Jahre zuvor mit der Hinrichtung von Pierre Fatio, der als Wortführer des Volkes zu anstössige politische Reformen vorgeschlagen hatte.
Das Auskommen der Bauern und Pächter der umliegenden, von den Schlossherren der Seigneurie beherrschten ländlichen Gebiete hing vom Schutz der strengen Stadt ab. Obwohl sie die mörderischen Streifzüge der Gefolgsleute des Herzogs von Savoyen nicht mehr fürchten mussten – wie noch ihre Vorfahren ein Jahrhundert zuvor –, waren einige von ihnen weiterhin der rachsüchtigen Autorität eifriger Katholiken ausgeliefert, die von ihren einstigen Vorrechten träumten. So erging es auch der Landbevölkerung in der Umgebung um Laconnex. Durch den Lausanner Vertrag von 1564 stand das Dorf Laconnex unter der doppelten Souveränität von Genf und Savoyen. Auf diesem geteilten Gebiet lebten viele katholische Familien, von denen einige dem niederen Landadel angehörten, wie etwa die Familie von La Grave, von Rougemont oder Mestral. Diese doppelte Souveränität mit ineinander verwobenen Rechten führte natürlich zu zahlreichen religiösen Spannungen. Diese waren umso gefährlicher, wenn man den historischen Hintergrund betrachtet: Die Seigneurie von Genf stand Ende des 16. Jahrhunderts mit den Herzögen von Savoyen in einem unterschwelligen Krieg, der schliesslich in einen offenen Konflikt gemündet hatte. Die Burg der katholischen Herren von La Grave war 1564, im Jahr des Lausanner Vertrags, von den Protestanten von Cartigny teilweise zerstört worden und 1590 machten die Berner sie dem Erdboden gleich – nur ihre Umfassungsmauer blieb unversehrt. Nicht nur, dass der alte Sitz der Familie von La Grave im Weiler Champlong zerstört war: Damit war ausserdem ihr Machtsymbol ausgelöscht worden. In der Familie wuchs ein Groll, der mehr als ein Jahrhundert lang anhalten sollte.
Die Wappen von Savoyen und Genf.
Die Wappen von Savoyen und Genf. Wikimedia
Im Jahr 1711 hatte der Nachkomme der ehemaligen Herren von Champlong, Pierre de La Grave, dem die Genfer Regierung den Status eines Grundherrn zugestand, folglich die «alten Gewohnheiten» wieder aufgenommen: Er liess in der Umgebung seines Landsitzes seine ebenso willkürliche wie rechtlich fragwürdige Macht walten und verfügte nach Belieben über das Jagdrecht, indem er diejenigen bestrafte, die es wagten, Wachteln und Fasane in der Umgebung seiner Ländereien aufzustöbern. Durch diesen kleinen Tyrannen war die Bevölkerung von Laconnex und Cartigny zunehmend mit Schwierigkeiten konfrontiert. Ein protestantischer Lehrer in Laconnex zog den Zorn des savoyischen Adligen auf sich, der ihm verbot, dort zu wohnen und seinem Beruf nachzugehen. Noch schlimmer: Gemeinsam mit seinen Söhnen nahm Pierre von La Grave mehrere Wege, die an seine Ländereien grenzten, in Beschlag und erweiterte sie, wobei er das Eigentum des Pastors von Cartigny zerstörte. Jene, die ihm zu widersprechen wagten, liess er verprügeln. Auch ein Gemeindegebiet in Cartigny machte sich Pierre von La Grave kurzerhand straffrei zu eigen, wobei er sich wohlgemerkt weigerte, die Pacht an die Bauern der Seigneurie zu entrichten.
Das ehemalige Schloss de La Grave in Avusy, in einer Aufnahme um 1930.
Das ehemalige Schloss de La Grave in Avusy, in einer Aufnahme um 1930. notrehistore.ch
Angesichts der Machtlosigkeit von Gabriel Dufour, dem verzagten verantwortlichen Richter von Saint-Victor et Chapitre, entsandten die Herren Syndics ein Mitglied des Rats der Fünfundzwanzig zum adligen Savoyer. Er kehrte zurück mit Pierres schlichter Antwort, dass «seine Eigenschaft als Edelmann ihn davon befreie, im Falle von Ausschreitungen vor den Richter von Saint-Victor et Chapitre zu treten.» Der Fall war heikel, da er einen ausländischen Adligen betraf, dessen Ländereien sowohl zu Genf als auch Savoyen gehörten. Da der «Krautjunker» seine Angehörigkeit zur Katholischen Kirche durch ein Kreuz auf seinem Dach unterstrich, suchten die Genfer eine diplomatische Lösung über die Religion und wandten sich an Louis Marin de Loisinge, einem katholischen Senatsmitglied von Savoyen.
Das administrativ geteilte Gebiet um Genf auf einer Karte von 1831.
Das administrativ geteilte Gebiet um Genf auf einer Karte von 1831. Bibliothèque de Genève
Der jähzornige Adelige versuchte, seinem Standesgenossen auszuweichen, stimmte aber schliesslich zu, seinen Nachbarn gegenüber eine friedlichere Politik zu erwägen. Dennoch tötete er bald darauf einen Ochsen des Bauern Abraham Clerc mit dem Gewehr und verwundete Letzteren mit einem Bajonettstich. Im Juni 1712 erreichten die Spannungen ihren Höhepunkt und so reisten zwei Genfer Syndics sowie der Vorsteher des Gerichtsbezirks Annecy nach Laconnex, um die Angelegenheit zu regeln. Liess sich der savoyische Richter von diesem Wüterich beeindrucken? Er bat einen adeligen Nachbarn von Pierre von La Grave, ihn zu ebendiesem zu begleiten, um ihn zu besänftigen und seine Version des Geschehens zu erfahren. Entgegen aller Erwartungen führte dies zu einem erfolgreichen Ergebnis. Am 11. Juli 1712 wurde eine Übereinkunft getroffen. Luis Marin de Loisinge gelang es, den stolzen Herrn von La Grave zu einer Unterschrift zu bewegen. Die Genfer begrüssten die Vereinbarung einstimmig – sie sah nichts anderes vor als die Rückkehr zum Frieden. Michel Trembley, Erster Syndic des Rats der Fünfundzwanzig, erklärte  sich gar dazu bereit, die zahlreichen Schäden, die der Adelige aus Savoyen angerichtet hatte, aus eigener Tasche zu bezahlen.
Die Hoffnungen auf ruhigere Zeiten währten aber nur kurz. In den Monaten darauf nahmen die Raufereien rund um Laconnex immer mehr zu, zumal der Herr von La Grave Druck auf die protestantische Bevölkerung ausübte, ihre Besitztümer an Katholiken abzutreten. 1714 wurde er erneut angezeigt, weil er in seinem Haus, das sich auf Genfer Boden befand, die katholische Messe lesen liess. Den Genfer Beamten war das Betragen des Störenfrieds noch klar im Gedächtnis und sie entschieden sich folglich, ihn nicht mehr zu schonen und ihm gegenüber eine radikale Politik zu verfolgen. Dank ihrer Autorität brachten sie den Rebellen dazu, sich von nun an bei Messen diskreter zu verhalten. Da Pierre von La Grave sich jedoch kategorisch weigerte, die Pacht für seine Weinberge zu zahlen und sogar Wachen auf seinen Ländereien postierte, kam es 1715 zu einem Prozess gegen ihn vor dem Senat von Savoyen, der eine kostspielige Untersuchung nach sich zog, gegen die der Vorsteher des Gerichtsbezirks Annecy Beschwerde einlegte.
Bericht des Richters Jean de La Corbiere betreffend die Sache «de La Grave», 1713.
Bericht des Richters Jean de La Corbiere betreffend die Sache «de La Grave», 1713. Staatsarchiv Genf
Das Verfahren zog sich zwangsläufig in die Länge und erhitzte die Gemüter noch mehr: Die Männer von Pierre von La Grave schreckten nicht davor zurück, unerwünschte Besucher mit Stöcken zu vertreiben und ihre Hunde auf Waghalsige loszulassen, die die Weinberge ihres Herrn überquerten. Um die Angelegenheit ein für alle Mal zu ihren Gunsten zu beenden, beschlossen zwei von Pierres Söhnen, an einem Frühlingsabend im Jahr 1716 im Schutz der Dunkelheit einen für die Seigneurie vorteilhaften Zeugen anzugreifen: Sie schlugen ihn und bedrohten ihn mit ihren Waffen – zum grossen Missfallen der Genfer Magistraten, denn die Situation hätte sich zur Staatsaffäre ausweiten können. Offenkundig entglitt ihnen die Streitsache so weit, dass Pierre von La Grave im Juni 1717 den friedliebenden Richter von Saint-Victor et Chapitre, Gabriel Dufour, ohrfeigte und ihn öffentlich beleidigte, als Letzterer sich in Saint-Julien aufhielt. Ein weiterer Verfahrensabschnitt wurde eröffnet, der jedoch ohne Folgen blieb. Der Aristokrat starb nämlich 1718 – über sein Ableben schweigen sich die Quellen aus – und seine Söhne legten fortan ein demütigeres Verhalten an den Tag. Sie erreichten immerhin, dass Laconnex und Avusy im Turiner Vertrag von 1754, der die doppelte Souveränität dieser Gebiete beendete, dem Königreich Sardinien zugesprochen wurden. 1816 schliesslich wurde das Gebiet Teil des Kantons Genf.

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