Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823 (Ausschnitt).
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823 (Ausschnitt). Wikimedia / Schloss Weimar

Die zwei Gräber des Ulrich von Hutten

Der Humanist, Reformator und Freiheitskämpfer Ulrich von Hutten (1488-1523) ist nach seiner Flucht als religiös und politisch Verfolger auf der Insel Ufenau im Zürichsee gestorben. Das Bedürfnis, ihm ein Denkmal zu widmen, hat Dichter wie Künstler inspiriert.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

«Huttens Grab» ist der Titel eines berühmten Gemäldes von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1823. Man sieht darauf einen steinernen Sarkophag im Chor der schon stark überwachsenen Ruine einer gotischen Kirche. Durch Friedrichs realistische Malweise könnte man dazu verleitet werden, diesen Ort in der Wirklichkeit aufsuchen zu wollen. Das allerdings ist unmöglich: Die Darstellung ist eine vom Künstler erdachte Komposition mit einer Vielzahl von historischen und symbolischen Bezügen. Es handelt sich um eine malerische Fiktion. Wenden wir uns zunächst den Fakten zu, vor deren Hintergrund diese Fiktion überhaupt erst entstehen konnte und auf die sie sich bezieht. Das reale Grab des Humanisten und Kirchenkritikers Ulrich von Hutten befindet sich neben der Kirche St. Peter und Paul auf der Insel Ufenau im Zürichsee. Der Überlieferung gemäss war der bereits schwer an Syphilis erkrankte Hutten, der auf Burg Steckelberg bei Schlüchtern in der Nähe von Fulda geboren wurde, in die Schweiz geflohen. Der unmittelbare Grund dafür war die gegen ihn ausgesprochene Reichsacht, nachdem er nicht nur als Pamphletist und Propagandist, sondern auch durch die Vorbereitung von Angriffen auf das Kurfürstentum Trier nebst der kirchlichen schliesslich auch die kaiserliche Macht herausgefordert hatte. Der Reformator Huldrych Zwingli hatte ihn in Zürich aufgenommen und dafür gesorgt, dass Hutten bei einem Pfarrer auf der Ufenau unterkam. Was einiges über die Verhältnisse während der Reformation verrät, denn die Ufenau gehörte immer (und bis heute) zum Kloster Einsiedeln.
Ulrich von Hutten. Gemälde um 1750.
Ulrich von Hutten. Gemälde um 1750. Zentralbibliothek Zürich
Doch markiert wird Huttens Grab auf der Ufenau heute einzig durch einen schlichten Grabstein, der erst 1959 aufgestellt wurde. Das Datum erklärt sich durch einen damaligen Skelettfund, den man Hutten zuordnete. Ein zweiter Skelettfund 1968 ergab, dass man sich mit dem ersten Fund getäuscht hatte. Das Indiz war Quecksilber, denn Hutten hatte seine Syphilis damit behandelt. Auch dieses Skelett wurde unter diesem Grabstein bestattet. Von den zahlreichen Ausflugsgästen auf der Ufenau wird Huttens Grab heute kaum noch beachtet. Das Gegenteil wäre eher beunruhigend. Denn Ulrich von Hutten gehört zu jenen historischen Figuren, die aufgrund ihres Wirkens während der Reformationszeit für nationalistische Zwecke vereinnahmt wurden. Vor allem seine Parteinahme für das (deutsche) Kaisertum, das sich gegen das Papsttum erhob, liess ihn zuletzt den Nationalsozialisten als geeigneten Namenspatron für militärische Einheiten erscheinen. Seit den 1980er-Jahren beziehen sich zudem rechtsextreme Kreise auf Hutten.
Auf der Insel Ufenau im Zürichsee steht die Kirche St. Peter und Paul, neben der Ulrich von Hutten begraben wurde.
Auf der Insel Ufenau im Zürichsee steht die Kirche St. Peter und Paul, neben der Ulrich von Hutten begraben wurde. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz
Die zunehmend problematische Vereinnahmung, die einen unverstellten Blick auf den historischen Hutten schwierig macht, hat eine verästelte Vorgeschichte. Zu dieser trugen auch die Schweizer Schriftsteller wie Gottfried Keller mit seinem Gedicht Ufenau (1858), einer Huldigung Huttens als Freiheitskämpfer aus der Perspektive von Studenten, und vor allem Conrad Ferdinand Meyer mit dem Gedichtzyklus Huttens letzte Tage bei. Meyer gelang damit 1872 im Kontext der deutschen Reichsgründung der Durchbruch als Autor. Im studentischen Kontext gipfelte die Verehrung Huttens in der Gründung eines «Ulrich-von Hutten-Bundes» an der Universität Zürich 1888, der mit sozialdemokratischem Gedankengut sympathisierte. Im frühen 20. Jahrhundert spielte dann gerade Caspar David Friedrichs Gemälde eine zentrale Rolle für einen eher morbiden Hutten-Kult. Dies insbesondere, nachdem es 1919 aus der privaten Sammlung des Herzogs Karl-August von Sachsen-Weimar in die öffentliche Weimarer Kunstsammlung kam. Die Vorliebe Friedrichs für Grab- und Ruinendarstellungen griffen nationalsozialistische Kunsthistoriker gerne auf. Sie interpretierten Grab und Ruine freihändig als Symbole der Opferbereitschaft und Todessehnsucht. Beide galten als Ideale in einer auf militärische Aggression getrimmten Gesellschaft. Dabei wurde der ursprüngliche historische Kontext von Friedrichs Wirken und insbesondere seinem Interesse an Hutten komplett unterschlagen.
Porträt von Caspar David Friedrich, 1836.
Porträt von Caspar David Friedrich, 1836. Wikimedia / Galerie Neue Meister
Auch dies macht eine kurze Rückblende klar. Friedrichs Motivwahl ist nur verständlich vor dem Hintergrund der Hutten-Verehrung durch intellektuelle Kreise, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte. Sie findet einen ersten Höhepunkt beim Übersetzer, Dichter und Kulturphilosophen Johann Gottfried Herder, einem zentralen Exponenten des kulturellen Aufbruchs der Weimarer Klassik. Herder veröffentlicht zuerst anonym 1776 in der Zeitschrift Teutscher Merkur zusammen mit dessen Herausgeber Christoph Martin Wieland Hinweise auf Hutten. Sein Plädoyer Denkmal Ulrich von Huttens erscheint 1793. Herder bedauert darin zunächst, dass Huttens Grab auf der Ufenau durch kein Denkmal markiert sei. Doch zugleich betont er, dass das ideale Denkmal in Huttens Fall nicht aus Marmor, sondern aus einer Werkausgabe des Humanisten bestehe. Bisherige Anläufe dazu waren versandet. Huttens Bedeutung sieht Herder in seinem Wirken als Vorkämpfer für die Freiheit, als wichtigem Mitstreiter der Reformation. Er sieht ihn auch als Vorbild, als «Sprecher für die Deutsche Nation, Freyheit und Wahrheit». Im damaligen Kontext der französischen Revolution und des Kampfs gegen fürstlichen Absolutismus würdigt Herder also Huttens emanzipatorische Rolle. Im Zuge der Befreiungskriege gegen die napoleonische Besatzung Deutschlands wird Hutten zu einer eigentlichen Identifikationsfigur. Dies unter anderem, weil Hutten in seiner Schrift Arminius die so genannte Hermannsschlacht im Teutoburger Wald als entscheidenden germanischen Sieg über die Römer gerühmt hat. Darin wurde zusehends ein historisches Modell für den zeitgenössischen Kampf gegen Napoleons Truppen gesehen. Nicht von ungefähr haben Dichter wie Heinrich von Kleist die Hermannsschlacht als Stoff gewählt.
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823.
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823. Wikimedia / Schloss Weimar
Wenn man Friedrichs Gemälde von 1823 genauer betrachtet, lassen sich einige der späteren, zum Teil ideologisch geprägten und missbräuchlichen Interpretationen genauer einordnen. So sind auf den Feldern der Sarkophagwand mehrere Namen mit Jahreszahlen vermerkt, darunter «Jahn 1813» (gemeint ist der später als «Turnvater» bekannte, wegen seines paramilitärischen Körperkults ebenfalls von den Nazis beanspruchte Friedrich Jahn), «Arndt 18132», «Stein 1813», «Görres 1821». Bei den Genannten handelte es sich um namhafte Persönlichkeiten, die nach dem Wiener Kongress von 1815 unter den Druck der Restauration gerieten und dann zum Teil als ehemalige Freiheitskämpfer verfolgt wurden. Friedrich stellt sie in die Tradition des rebellischen Hutten. Indem er ihre Namen auf Huttens Grab verewigt, würdigt er auch sie.
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823 (Detail).
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823 (Detail). Klassik Stiftung Weimer
Aussagekräftig ist auch das Entstehungsdatum von Friedrichs Gemälde. Es wurde von ihm 1823-24 und damit zum zehnten Jahrestag des Beginns der antinapoleonischen Befreiungskriege gemalt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine frühere Ruinendarstellung Friedrichs, die bis 2018 in Privatbesitz und zuvor nur als Zeichnung-Vorstudie beachtet worden war: Das Gemälde Klosterruine auf dem Oybin von 1812 erscheint gerade im Vergleich mit dem späteren Gemälde wie eine Bühne, auf der sowohl die Requisiten wie die Darsteller noch fehlen.
Caspar-David Friedrich, Ruine Oybin, um 1812.
Caspar-David Friedrich, Ruine Oybin, um 1812. Hamburger Kunsthalle
Zu diesem patriotischen Theater tragen in Huttens Grab nebst dem Bezug auf Hutten und die erwähnten Freiheitskämpfer auch weitere Bildelemente bei. Auffällig ist die Figur eines Mannes, der in gebeugter Haltung den Sarkophag betrachtet. Seine Kleidung, die Uniform des Lützowschen Freikorps, zu Friedrichs Zeit klar lesbar als Hinweis auf einen besonders heroischen Verband im Befreiungskrieg gegen Napoleon, der Degen, auf den er sich stützt, bieten dem zeitgenössischen Betrachter die Rolle des melancholischen Hutten-Pilgers als Identifikationsfigur an. Jedenfalls dann, wenn auch sie sich durch die Restauration nach den napoleonischen Kriegen enttäuscht sahen. Unübersehbar ist die Skulptur rechts neben den Fenstern in einer Mauernische. Es handelt sich um eine Darstellung der Fides, seit der Zeit der Römer überliefert als Symbol des Vertrauens. Dass ihr allerdings der Kopf abgeschlagen wurde, könnte diese Lesart der enttäuschten Hoffnung bekräftigen. Als bedeutungsschwanger wurde neben der Vegetation (Disteln, verdorrte Büsche, Überwucherungen aller Art) das dämmrige Licht wahrgenommen – Hinweis auf die Abenddämmerung. Sicher liesse sich auch zu den gotischen Fenstern etwas sagen, die im oberen Teil so präzis zerstört sind, dass sich durch die Aussparungen Profile von Köpfen im Stil von Lavaters Physiognomien, ja sogar langgestreckte stilisierte Figuren zu ergeben scheinen.
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823 (Detail).
Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823 (Detail). Klassik Stiftung Weimer
Zu den zeithistorisch geprägten Interpretationen, die Huttens Grab als gemaltes Denkmal für Hutten und politisches Bekenntnis des Künstlers Friedrich verstehen, gesellt sich neuerdings eine offenere Lesart des Kunsthistorikers Johannes Grave. Ihr Ausgangspunkt ist die Vielfalt der Verweise und Deutungsangebote dieses Gemälde, ihr Angelpunkt die ins Bild gemalte Betrachterfigur. Grave legt zunächst dar, dass die verschiedenen Bildelemente und die mit ihnen verbundenen historischen Anspielungen sich nicht so leicht auf einen Nenner bringen lassen, ja teilweise widersprüchlich sind. Am besten illustriert dies das prominenteste Bildelement, die Ruine: «Ob der ruinöse Zustand der gotischen Architektur zu bedauern ist oder ob er signalisiert, dass eine problematische Epoche feudaler und kirchlicher Herrschaft überwunden wurde, lässt sich dem Bild nicht mit letzter Gewissheit entnehmen». Aufschlussreich ist auch, dass Friedrich das Werk zwischen 1824 und 1826 mehrfach unter verschiedenen Titeln ausstellte; so etwa als «Überreste einer alten Kapelle» oder «Durchblick durch eine Ruine». Erst 1926 in der Berliner Akademieausstellung firmiert es als «Ulrich von Huttens Denkmal», zusätzlich mit dem Hinweis, dass ein etwaiger Verkaufserlös den Opfern der griechischen Freiheitskriege zugutekommen solle. Gerade die Figur des Betrachters von Huttens Grab, der zwischen einem Zeitgenossen Huttens und Friedrichs changiert, ist geeignet, uns auf die «Kopräsenz verschiedener Vergangenheiten im Bild» und ihre Verschränkung hinzuweisen. Aus dieser Perspektive lässt sich die These vertreten, dass Caspar David Friedrich mit Huttens Grab vor allem versuchte, einen Reflexionsraum zu eröffnen. Interpretationen, die hier in erster Linie ein malerisch präzises politisches Programm erkennen wollen, sind zwar aufgrund der realistischen, detailreichen Malweise ergiebig. Sie laufen aber Gefahr, den spannungsvollen gedanklichen Spielraum des Bildes vorschnell zu beschneiden.

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