Chuva, Regen, Holzschnitt von Oswaldo Goeldi, 1953.
Chuva, Regen, Holzschnitt von Oswaldo Goeldi, 1953. Projeto Goeldi

Zwischen Meer und Alpen

Der schweizerisch-brasilianische Illustrator und Grafiker Oswaldo Goeldi gilt als Meister des expressionistischen Holzschnitts in Brasilien. In der Schweiz bleibt das Werk des Doppelbürgers noch zu entdecken.

Felix Graf

Felix Graf

Felix Graf, bis 2017 Kurator am Landesmuseum Zürich, ist freier Publizist.

Chuva – Regen heisst eine der bekanntesten Arbeiten des hierzulande kaum bekannten Zeichners und Grafikers Oswaldo Goeldi (1895–1961). Der 1953 mit drei Farben gedruckte Holzschnitt zeigt einen Mann unter einem leuchtend roten Regenschirm auf einer düsteren, von Bäumen, einem Haus und einer Mauer gesäumten Strasse. Es hat soeben stark geregnet. Der von hinten dargestellte Einzelgänger, von dem man nur den Rockschoss, die Hosenstösse und die Schuhe sieht, bleibt auf der menschenleeren Strasse stehen und weiss nicht, ob er weitergehen oder sich nach rechts wenden soll. Unschlüssig steht er zwischen divergierenden Kräften. Im Bild herrscht eine nervöse Spannung. Der Mann unter dem roten Regenschirm ist ein anonymer Grossstadtmensch, der sich versteckt, wie der Grafiker selbst. Oswaldo Goeldi hatte nur ein paar  Künstlerfreunde. Er lebte zurückgezogen in seinem Atelier in Rio de Janeiro. Die innere und äussere Einsamkeit ist das Milieu, in dem er die künstlerische Antwort auf die existenzielle Not des modernen Menschen herausgearbeitet hat, Strich für Strich, Schnitt für Schnitt; holzschnittartig, wäre man versucht zu sagen, wenn nicht bereits vom Meister des expressionistischen brasilianischen Holzschnitts die Rede wäre.

Vater war Pionier in der Amazonasforschung

Der 1895 in Rio de Janeiro geborene Künstler hatte Schweizer Wurzeln. Sein Vater Emil August Göldi gehörte zu den Pionieren der naturwissenschaftlichen Erforschung des Amazonasgebiets und war Direktor des später nach ihm benannten Museu Paraense Emílio Goeldi in Belém. Im brasilianisch-französischen Grenzstreit um Amapá, das Urwaldgebiet zwischen dem brasilianischen Bundesstaat Pará und Französisch-Guayana, spielte Goeldi eine für Brasilien entscheidende Rolle. Bei der Leitung der von ihm und seinem Schwiegervater Karl Eugen Meyer 1890 im Hinterland von Rio gegründeten Colonia Alpina hatte er eine weniger glückliche Hand. Die Schweizer Kolonisten beklagten sich über den zu seiner Sicherheit stets mit einem Revolver bewaffneten Colonistentyrannen. 1892 entzog der Bundesrat der Firma Eugen Meyer & Cie die Lizenz zur Anwerbung von Siedlern. Das Projekt war gescheitert. Nachdem Göldi die Leitung des naturkundlichen und ethnografischen Museums in Belém 1905 aus gesundheitlichen Gründen an seinen Schweizer Kollegen, den Schaffhauser Jacques Huber, übergeben hatte, kehrte er in die Schweiz zurück und trat 1907 an der Universität Bern eine Professur für Biologie und Tiergeografie an. Auch von der Schweiz aus setzte es sich bis zu seinem Tod vehement für die Erforschung und den Schutz des amazonischen Regenwaldes ein. Die naturkundliche Sammlung, die er aus Brasilien nach Bern brachte, liegt heute vollständig registriert, inventarisiert und wohlverwahrt im Naturhistorischen Museum Bern.
Porträt von Emil August Göldi, 1915.
Porträt von Emil August Göldi, 1915. Wikimedia
Oswaldo Goeldi in seinem Atelier.
Oswaldo Goeldi in seinem Atelier. Projeto Goeldi

Zwischen zwei Welten

Sein Sohn Oswaldo Goeldi verbrachte die ersten sechs Jahre seines Lebens in Brasilien, wurde zum Besuch der Schulen in die Schweiz geschickt und kehrte nach dem Ersten Weltkrieg nach Brasilien zurück. Der Wechsel zwischen den Kontinenten fiel ihm nicht leicht, weder in die eine noch in die andere Richtung. In Rio machte er sich als Illustrator von Essays und Kurzgeschichten in Zeitschriften und Zeitungen einen Namen. 1923 begann er mit der Technik des Holzschnitts zu experimentieren. Seine Motive fand er an den Rändern der Stadt und der Gesellschaft, bei Bettlern, Müllmännern, Dirnen und bei den Fischern, die sich in ihren Nussschalen auf den Atlantik hinauswagten. Für seine ersten Druckstöcke verwendete er Abfallholz: am Strassenrand herumliegende Möbelteile, Bretter von Obst- und Gemüsekisten und anderes mehr.
Pescador, Fischer, von Oswaldo Goeldi, um 1928.
Pescador, Fischer, von Oswaldo Goeldi, um 1928. Projeto Goeldi

Eigenwil­lig – im Leben und in der Kunst

Oswaldo Goeldi stand dem technischen Fortschritt skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sein Interesse galt dem Einzelmenschen und der Natur. Am 2. Februar 1935 schrieb er aus Rio de Janeiro an seinen Jugendfreund, den nicht minder einzelgängerischen Berner Maler Hermann Kümmerly (1897–1964): Lieber und guter Hermann (…). Man kann mir ruhig Kino, Radio, alle Flug- und Rennapparate wegnehmen, ich werde mir sicherlich keine Schmerzensträne abwischen, aber man sollte mir nicht Tinte und Bleistift von der Hand nehmen. Das gewaltige Meer mit Wolken und Sturmwind darüber. Der dämonische Sonnenball, die Bergkolosse, alles was kreucht und fleucht, all dies ist mir nahverwandter als die blöden Maschinen, die mir wie groteske Gebilde menschlichen Geistes vorkommen. Das schreibt einer, der sich auf Wunsch des Vaters 18 Jahre zuvor an der ETH in Zürich immatrikuliert hatte, mit der voraussehbaren Folge eines raschen Studienabbruchs. Oswaldo Goeldi und Hermann Kümmerly, die 1930 zusammen in Bern ausstellten, lehnten für sich jede Form der akademischen Kunstausbildung ab und schlossen sich auch keiner Künstlergruppe an. Sie wollten ihre Eigenart bewahren. Goeldis Name fällt zwar oft im Zusammenhang mit dem Modernismo Brasileiro. Er war mit Manuel Bandeira befreundet. Das Konzept der Brasilidade spielt bei ihm aber keine Rolle. Die Modernität seiner Arbeiten besteht auch nicht in der Überwindung der gegenständlichen Motive durch Farbe und Form oder dem Weg in die Abstraktion, sondern in der Aufladung der sichtbaren Aussenwelt mit persönlichen, inneren Stimmungen. Häuser, Bäume, Einzelmenschen, Laternen, nächtliche Strassenzüge, Tiere verwandeln sich in seinen Holzschnitten in gespenstische Erscheinungen. Ein brasilianischer Kritiker bemerkte einmal, Oswaldo Goeldi arbeite mit den Augen der Seele.
TV-Beitrag über Hermann Kümmerly junior. SRF

Heimweh nach den Bergen

Die Faszination durch die Natur, das Elementare und Atmosphärische, hat zweifellos mit seiner Herkunft zu tun. Sein Vater war Naturforscher, und in seiner Berner Zeit ging er im Haus von Magda Kümmerly, der kunstfreudigen Witwe des früh verstorbenen Lithografen und Kartendruckers Hermann Kümmerly (1857–1905), ein und aus. Dort verkehrten auch Ferdinand Hodler, Cuno Amiet, Ernst Kreidolf, Robert Walser und Albert Welti. Sein zwei Jahre jüngerer Freund Hermann Kümmerly jun., mit dem er in den Ateliers der Druckerei Kümmerly & Frei lithografierte, war ein passionierter Berggänger und Naturmensch. Am 28.Januar 1931 schreibt ihm Oswaldo Goeldi aus Rio: Das Sandmeer sieht oft wie ein herrliches Schneefeld aus. Meine grösste Freude habe ich am Strande, auf das gewaltige Meer blickend, solch wuchtige Sprache führen nur die Alpen. (…). Herzlich Dein Oswald.
Oswaldo Goeldis erste Grafikmappe, 10 Gravuras de Madeira (1930), war ein künstlerischer und finanzieller Erfolg. 1950 nahm er an der 25. Biennale von Venedig teil, ein Jahr später gewann er an der Biennale von São Paulo seinen ersten Preis. 1953 zeigte das Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro eine Retrospektive. Die grosse Kunst des Einzelgängers und lyrischen Expressionisten Oswaldo Goeldi fand plötzlich Anklang. 1955, sechs Jahre vor seinem Tod, nahm er an der Escola Nacional de Belas Artes einen Lehrauftrag für die Technik und Kunst des Holzschnitts an. Ein eigentlicher Professor sei er ja nicht, meinte er. Jede Kunst habe einen technischen Aspekt, den jemand mit Erfahrung lehren könne. Der kreative Teil jedoch sei Sache jedes Einzelnen, und wer ihn zu gängeln versuche, verderbe viel. Die Studenten mochten ihn.
Chuva, Regen, Holzschnitt von Oswaldo Goeldi, 1953.
Oswaldo Goeldi war ein Einzelgänger. Das sieht man in vielen seiner Werke. Projeto Goeldi

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