
Bomben auf Kallnach
Am 6. Januar 1918 gehen fünf Bomben in der Nähe des Bahnhofs Kallnach nieder. Das Grosse Moos im Berner Seeland wird von den Detonationen erschüttert. Glücklicherweise ist nur ein Sachschaden zu beklagen. Schnell ist klar: bei den Bomben handelt es sich um französische Fabrikate. Wer aber die Bomben abgeworfen hat, bleibt ein Rätsel...


Einige Anwohnerinnen und Anwohner vermuteten laut Presseberichten einen gezielten Angriff auf den besagten Zug mit Soldaten, auf die bereits in der Früh beleuchtete Karbidfabrik oder auf das nahe Elektrizitätswerk. Bereits am 8. Januar ist klar, dass es sich bei den Bomben um französische Fabrikate handelt. Die Gazette de Lausanne berichtet: «Plusieurs des fragments recueillis sur place portaient l’inscription SFA (services français d’aviation)». Die Fragmente sind typengleich mit den im Vorjahr sichergestellten Bombensplittern von den Bombardierungen in Pruntrut (April 1917), Muttenz und Menziken (Dezember 1917). Auch sind hier nur Sachschäden zu beklagen.
Der lange Artikel im Bieler Tagblatt am Tag nach der Bombardierung schliesst mit der Feststellung «Es scheint sich hernach um einen völlig verirrten Flieger zu handeln, der gerade über Kallnach das Gewicht seiner Maschine etwas erleichtern wollte. Das ist jedenfalls nach unserer Ansicht die zutreffendste Version». Diese Feststellung scheint plausibel. In der Nacht des Bombardierung Kallnachs werden etwa Freiburg im Breisgau und der Raum Breisach von den Franzosen bombardiert. Hat sich eine dieser für den Angriff abkommandierten Maschinen verflogen? Will der Pilot keine Landung mit Bomben an Bord riskieren? Fehlt die Erfahrung? Abschüsse und Unfälle haben vielen langgedienten Piloten das Leben gekostet.
Die französische Armee benutzte im Ersten Weltkrieg Voisin-Flugzeuge. YouTube
Wie heute bekannt ist, müssen Schweizer Zeitungsartikel aus der Zeit des Ersten Weltkriegs jedoch sehr skeptisch betrachtet werden. In den Kriegsjahren sind die beiden grossen Landesteile durch die gegenläufige Parteinahme für die Kriegsparteien getrennt. In der französischsprachigen Schweiz gelten die Sympathien Frankreich, in der Deutschschweiz dem Kaiserreich. Dieser «Graben» wird zu einem festen Bestandteil des Politvokabulars. Dabei fördern beide Kriegsparteien diesen innerschweizerischen Konflikt nach Kräften. Ausländische Gruppierungen gründen in der Schweiz über 30 Presseagenturen und einzelne Zeitungen werden heimlich ganz übernommen. Damit tobt auf Schweizer Boden zumindest ein heftiger Krieg der Worte und der Propaganda.
Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg traut der französischen Beweisführung jedoch nicht. In einem als «Secret» gekennzeichneten Schreiben ans Eidgenössische Politische Departement werden diverse Daten (zum Beispiel Wind und Wetterverhältnisse) aus den französischen Berichten angezweifelt. «Il nous semble que si les Français veulent absolument nous convaincre que ses bombes ont été lancées par un avion allemand, hypothèse très peu probable, ils doivent nous fournir des preuves beaucoup plus concluantes… »
Der griechische Dichter Aischylos hat es schon in der Antike festgestellt: «Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges». Die Mikrogeschichte aus Kallnach erweist dem Ausspruch alle Ehre! Allenfalls liessen sich weitere Hinweise in französischen oder deutschen Archiven finden. Heute ist der Vorfall von 1918 in Kallnach weitgehend vergessen. Ob die kollektive Erinnerung 67 Jahre später noch nachwirkte, sei dahingestellt. In der Zivilschutzübung «Dachs» exerziert das Dorf 1985 jedenfalls einen Katastropheneinsatz nach einem Bombenangriff durch. Das Bieler Tagblatt vermeldet, der Einsatz sei «mustergültig» verlaufen.


