Oberhalb der Stadt Biel-Bienne treffen der französische und deutsche Sprachraum aufeinander. Das zeigt sich in den Flurnamen. Während Flurnamen wie «Gruebmatt» oder «Cholbode» auf der deutschschweizer Seite der Dialektbezeichnung folgen, sind «Les Moulins» oder «Derrière la Chaux» in der französischen Standardsprache bezeichnet.
Oberhalb der Stadt Biel-Bienne treffen der französische und deutsche Sprachraum aufeinander. Das zeigt sich in den Flurnamen. Während Flurnamen wie «Gruebmatt» oder «Cholbode» auf der deutschschweizer Seite der Dialektbezeichnung folgen, sind «Les Moulins» oder «Derrière la Chaux» in der französischen Standardsprache bezeichnet. Swisstopo

Die unterschied­li­chen Schick­sa­le der Schweizer Mundarten

In der Deutschschweiz dominieren sie den Alltag, in der französischen Schweiz sind sie fast verschwunden und in der italienischen Schweiz spricht man sie nur unter Bekannten: die Dialekte. Die Gründe für diese Unterschiede sind in der Geschichte zu finden.

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner hat Anglistik und Politikwissenschaften studiert und leitet die Abteilung Marketing & Kommunikation des Landesmuseums.

Es heisst, dass man bestimmen kann, aus welcher Region oder sogar aus welchem Dorf eine schweizerdeutsch sprechende Person stammt, wenn sie nur bis Drei zählt. Viele würden diese Wette wohl eingehen. Im Gegensatz dazu lässt sich der soziale Status einer Person normalerweise nicht an ihrem schweizerdeutschen Dialekt heraushören. Allerdings gibt es keine Regel ohne Ausnahme, wie gewisse «vornehmere» Aussprachsformen in Bern oder Basel zeigen. Trotzdem: Diese «egalitäre» Eigenschaft des Schweizerdeutschen führt dazu, dass Mundart im Büro, im Restaurant, im Parlament und auch im Theater gesprochen und gehört wird. Die Hochsprache hingegen kommt nur in speziellen Situationen zum Einsatz und ist für viele Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer eine eigentliche Fremdsprache.
Die Sprachräume der Schweiz. Rot: Deutsch, Violett: Französisch, Grün: Italienisch, Gelb: Rätoromanisch. Innerhalb der Sprachräume gibt es eine Vielzahl an Idiomen, Dialekten und Akzenten, deren Grenzen zum Teil fliessend sind.
Die Sprachräume der Schweiz. Rot: Deutsch, Violett: Französisch, Grün: Italienisch, Gelb: Rätoromanisch. Innerhalb der Sprachräume gibt es eine Vielzahl an Idiomen, Dialekten und Akzenten, deren Grenzen zum Teil fliessend sind. Wikimeida / Tschubby
Auf der anderen Seite des Röstigrabens sieht die Sache etwas anders aus: Die Standardsprache dominiert hier alles, der lokale Dialekt – das sogenannte Patois – wird noch in einzelnen Vereinen kultiviert und ist mehr Folklore als Gebrauchssprache. Im Gegensatz zum deutschschweizer Sprachraum existiert im frankophonen auch der Mythos eines «Bon français» – eines reinen Französischs – das den lokalen Dialekten und Akzenten überlegen ist. Das führt ebenso zu einer Standardisierung der Sprache wie zu einer Unterscheidung zwischen bildungsferner und gebildeter Sprache. In der italienischsprachigen Schweiz wiederum ist die Verwendung der Standardsprache oder des Dialekts abhängig von der Situation. Dialekt spricht man mit vertrauten Personen, in der Familie oder im Dorfladen, nicht aber auf grossen Versammlungen oder in Geschäften der Innenstadt. Somit unterscheiden sich die drei grossen Sprachräume der Schweiz wesentlich im Umgang mit den Dialekten. Diese Unterschiede erklären sich aus ihrer Geschichte.
«Fläckehans» alias Johann Weisshaupt aus Eggerstanden AI, erzählt einen Witz im Appenzeller-Dialekt. Beitrag aus «Schweiz aktuell unterwägs» vom 24.08.1990. SRF
Die Schweizerdeutschen Dialekte gehören zu einem grösseren Sprachraum, dem alemannischen, der sich hauptsächlich über die Schweiz, Süddeutschland, den Vorarlberg und Teile des Elsass erstreckt. Ab dem 16. Jahrhundert begannen sich die Eidgenossen dieses Sprachraums zunehmend als Einheit zu verstehen. Sie schrieben in einer eigenen Schriftsprache, die sie als eidgenössische «Landspraach» bezeichneten. Auch die Zürcher Bibel wurde in dieser Sprache gedruckt. Die Romantik, die ab etwa 1800 vor allem in Deutschland ihre Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und Einfachen pflegte, hatte ein besonderes Interesse an Volksbräuchen und Dialekten. So begannen Schweizer Gelehrte, mündlich überlieferte Mundartlieder und –gedichte zu sammeln und teilweise selbst zu verfassen. Das führte zu einer Idealisierung des Schweizerdeutschen. Die Auswirkungen davon spüren wir bis heute, denn der Dialekt wurde in der Deutschschweiz dadurch nicht stigmatisiert, sondern im 19. Jahrhundert sprach ihn sowohl die Landbevölkerung wie auch das Bürgertum. Die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer begannen, den Dialekt durch Mundartliteratur und Sprachpflege zu kultivieren und mit nationalpolitischer Bedeutung aufzuladen. Während der Nationalstaatenbildung entdeckte man schliesslich die Mundart als Mittel, um sich als Nation zu definieren und gleichzeitig vom Deutschen Nachbarn abgrenzen zu können. Der Dialekt galt als besonders «republikanisch», weil alle gesellschaftlichen Schichten ihn sprachen. Dieses Sprachverständnis ist prägend für die Deutschschweizer Mentalität, wo der offen sichtbare soziale Aufstieg grundsätzlich suspekt ist.
Kuhreien – alte Hirtenlieder – haben in den ländlichen Regionen der Schweiz Tradition, sowohl im Berner Oberland oder im Appenzellerland wie auch im Jura und in der Waadt. Eines der bekanntesten ist der «Ranz des vaches» aus dem Greyerzerland. Der Text ist in Freiburger Patois verfasst. RTS/YouTube
Auch in der Westschweiz sprachen die Menschen noch vor 400 Jahren durchgehend lokale Mundarten. Die Westschweizer Patois gehören grösstenteils zum frankoprovenzalischen Sprachraum, von dem auch der Südosten Frankreichs und das Aostatal Teil sind. Das Patois im Jura gehört zu den nordfranzösischen Mundarten, der «Lange d’oïl». Wie konnte diese Dialekte ein so anderes Schicksal ereilen als ihre Pendants auf der anderen Seite des Röstigrabens? Die Verdrängung der Mundarten durch die französische Standardsprache war ein sehr langer Prozess. Unter anderem begünstigten der Buchdruck und die Reformation, dass das Nordfranzösische als Schriftsprache verbreitet wurde. Reformatoren übersetzten religiöse Schriften in die nordfranzösische Normsprache der Eliten. In den protestantischen Städten Genf und Neuenburg wurde sie zur Umgangssprache, auch weil sich protestantische Buchdrucker aus Nordfrankreich dort niederliessen und die Sprache weiterverbreiteten. Um 1790 begannen sich die Gelehrten gar aktiv gegen die lokalen Dialekte zu wenden. Von Paris aus wurde versucht, Grammatik und Wortschatz der französischen Sprache zu vereinheitlichen und «rein» zu halten. Mundarten und sprachliche Eigenheiten wurden bekämpft. Die gesellschaftlichen Eliten assoziierten das Französische seit dem 18. Jahrhundert mit sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt, während das Patois als traditionelle und familiäre Sprache nicht mehr kompatibel war mit dem Bild einer modernen und industrialisierten Gesellschaft. Dies ging so weit, dass das Sprechen von Patois im Unterricht per Gesetz verboten wurde, so beispielsweise im Kanton Waadt mit dem Schulgesetz von 1806. Gemäss dem historischen Lexikon der Schweiz droht den angestammten Dialekten sogar in den konservativsten katholischen und ländlichen Gegenden der Schweiz das endgültige Verschwinden. Im Wallis sprechen noch weniger als sechs Prozent Dialekt, in Freiburg weniger als vier Prozent und im Jura noch knapp drei Prozent.
1547 protestierte der Genfer Jacques Gruet gegen den zunehmenden Einfluss von französischen Priestern. Er klebte einen Zettel mit einer Drohung an die Kathedrale Saint-Pierre, verfasst in Patois. Die erste Zeile lautet «Gro panfar, te et to compagnon gagneria miot de vot queysi», «Fettsack, du und deine Gefährten sollten besser den Mund halten!». Vertonung des Pamphlets von Jacques Gruet von 1547, gelesen von Olivier Frutiger, 2023. Archives d'Etat de Genève
In der Südschweiz gehören die verschiedenen lokalen italienischen Mundarten zu der umfangreichen Familie der lombardischen Dialekte. Da die Südschweiz geographisch durch Berge und unzugängliche Täler zersplittert ist, entstand keine einheitliche Mundart, sondern die verschiedenen Dialekte entwickelten sich stark auseinander. Hier war der Gebrauch der Standardsprache auf das Schriftliche und die Kirche beschränkt. Mit der Migration und dem zunehmenden Kontakt zwischen den Regionen im 19. Jahrhundert verbreitete sich aber auch das Italienische als Lingua Franca, also als gemeinsame Umgangssprache, weiter. Gleichzeitig wurde der Gebrauch des Dialektes als gesprochene Sprache, beispielsweise in der Schule oder in Predigten, immer mehr unterdrückt oder gar verboten. Im Unterschied zum Patois wurden in den Südschweizer Familien die Dialekte aber weiterhin gepflegt, so dass sie nicht verschwanden. Im 20. Jahrhundert entdeckte man den Dialekt als Sprache der kulturellen Verwurzelung und man verwendete ihn vermehrt als bevorzugte Sprache im privaten Bereich. Heute werden die Dialekte noch von etwa einem Drittel der Bevölkerung gesprochen. Er wird positiv bewertet und als Identifikationsfaktor gesehen.
Im Tessin waren Dialekte in der Schule verboten. Dort wurde Italienisch gelehrt. Eine Tessiner Schulstube um 1920. Fotografie von Rudolf Zinggeler-Danioth.
Im Tessin waren Dialekte in der Schule verboten. Dort wurde Italienisch gelehrt. Eine Tessiner Schulstube um 1920. Fotografie von Rudolf Zinggeler-Danioth. Schweizerisches Nationalmuseum
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Vüna par ün: Don Francesco Alberti spricht im Tessiner Dialekt von Bedigliora, 1939. © Phonogrammarchiv der Universität Zürich

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