
«Ich bin eine wandernde Scheherezade geworden…»
Lisa Tetzner, die Mitautorin der berühmten Jugendbücher «Die rote Zora und ihre Bande» und «Die Schwarzen Brüder» verdiente in jungen Jahren ihr Geld als wandernde Märchenerzählerin.
Immer stärker gewann der Trieb zu Dichten, zu Leben, in Kunst zu träumen und vielleicht selbst einmal Künstlerin zu werden, in mir die Oberhand. Ich genoss jetzt in vollen Zügen das freie Schalten – und Walten. Ich fühlte mich enthoben der mich beengenden Welt des Zuhauses.
«Zaghaft und ungelenk sass ich dem patriarchischen grossen Herrn in schwarzem Samtkittel gegenüber. Ich war fast ohnmächtig vor Angst. Er hatte am Abend mehrere Professoren und andere bekannte Persönlichkeiten geladen, die erst ihr Ja und Amen (zu ihrem Vorhaben) geben sollten. Ich erzählte ihnen die halbe Nacht und ich erzählte mir nicht nur ihr Wohlwollen, sondern erhielt von ihnen eine gedruckte Bescheinigung, dass ich keine Abenteurerin, dagegen Schülerin des berühmten Vortragsmeisters Emil Milan sei […]. Dann schrieb ich meinem Vater, dass ich seines Monatswechsels nicht mehr bedürfe, aber auch keine Fürsorgerin werde, sondern lieber als Märchenerzählerin durch Deutschland wandern möchte. Ich ahnte nicht [...], dass dies mein Beruf werden könnte.»
Sie beginnt ihre Wanderung im Sommer 1918 in Thüringen. Der mörderische und grausame Erste Weltkrieg tobt noch und geht erst im Winter mit der Niederlage Deutschlands zu Ende. Lisa Tetzner versammelt auf Dorfplätzen, in Schulen, Kirchen und Literaturvereinen Kinder, aber auch Erwachsene um sich herum und erzählt Märchen, gibt Rätsel auf und singt mit ihnen. Mit der «gedruckten Bescheinigung» (eine Art Lizenz kombiniert mit einem Empfehlungsschreiben), die sie von Eugen Diederichs erhalten hat, macht sie in den kleinen Ortschaften und Dörfern auf ihre Vorträge aufmerksam.


Mit diesem Schreiben und Plakaten macht Lisa Tetzner auf ihre Auftritte aufmerksam. Christiane Dornheim-Tetzner
In der Tat: bereits 1926 ist sie Herausgeberin von «Die schönsten Märchen der Welt für 365 und 1 Tag» im Verlag von Eugen Diederichs. In diesem stattlichen und umfangreichen Band blickt sie auch auf die Erfahrung als Erzählerin zurück und lässt eigene Forschungstätigkeit einfliessen. Die Sammlung erscheint über Jahrzehnte in zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen.


