Lisa Tetzner in einer Kinderschar in Thüringen, um 1919.
Lisa Tetzner in einer Kinderschar in Thüringen, um 1919. Christiane Dornheim-Tetzner

«Ich bin eine wandernde Schehe­re­za­de geworden…»

Lisa Tetzner, die Mitautorin der berühmten Jugendbücher «Die rote Zora und ihre Bande» und «Die Schwarzen Brüder» verdiente in jungen Jahren ihr Geld als wandernde Märchenerzählerin.

Peter Erismann

Peter Erismann

Peter Erismann ist Co-Kurator der Ausstellung «Rote Zora und Schwarze Brüder» (2023) im Landesmuseum Zürich.

Das letzte Jahr des Ersten Weltkriegs, 1918, wird für die 1894 in Zittau/Sachsen geborene Lisa Tetzner zum Schicksalsjahr für ihren weiteren beruflichen Weg. Nach einer behüteten, aber durch Krankheit überschatteten Kindheit und Jugend in einem bürgerlichen-konservativen Elternhaus, erlernt sie in Berlin den Beruf einer «Fürsorgerin» (heute würde man von einer Sozialarbeiterin sprechen). Diese Ausbildung bringt Lisa Tetzner jedoch nicht die erhoffte Erfüllung. Immer stärker wird ihr Verlagen nach künstlerischer Betätigung und uneingeschränkter Freiheit: Sie trägt sich mit dem Gedanken Märchenerzählerin werden.
Die Familie Tetzner, Lisa Tetzner mit Mutter Pauline Frieda (1873–1955), Bruder Hanns-Leo (1897–1969), Vater Oskar Arthur (1886–1949), ca. 1905.
Die Familie Tetzner, Lisa Tetzner mit Mutter Pauline Frieda (1873–1955), Bruder Hanns-Leo (1897–1969), Vater Oskar Arthur (1886–1949), ca. 1905. Christiane Dornheim-Tetzner
Lisa Tetzner als junge Frau, ca. 1916.
Lisa Tetzner als junge Frau, ca. 1916. Christiane Dornheim-Tetzner
Bereits zwei Jahre zuvor erlebt Lisa Tetzner einen durch Deutschland reisenden dänischen Märchenerzähler – und ist fasziniert: Sie belegt in Berlin Kurse zur Sprecherziehung und Stimmbildung an der Schauspielschule des Deutschen Theaters von Max Reinhardt und wird Gasthörerin an der Berliner Universität bei Emil Milan im Fach Vortragskunst. Diese Koryphäe auf seinem Gebiet wird zu ihrem Mentor auf dem Weg zur Märchenerzählerin. Schon im November 1916 hat sie ihre ersten öffentlichen Bühnenauftritte, meist im Rahmen von karitativen Veranstaltungen in Zittau. Später erinnert sie sich:

Immer stärker gewann der Trieb zu Dichten, zu Leben, in Kunst zu träumen und vielleicht selbst einmal Künstle­rin zu werden, in mir die Oberhand. Ich genoss jetzt in vollen Zügen das freie Schalten – und Walten. Ich fühlte mich enthoben der mich beengen­den Welt des Zuhauses.

Lisa Tetzner, in: «Doch siehe auch, ich ‹bin›», 1921
1918 also lernt Lisa Tetzner den Verleger und Mentor der bürgerlichen Jugendbewegung Eugen Diederichs (1857-1930) kennen, in dessen Verlag die Märchen der Welt erscheinen. Die Jugendbewegung, u.a. die der  Wandervögel, ist mit ihrer Aufbruchsstimmung, ihren Ideen und Utopien eine geistige Grundlage sowohl für Lisa Tetzner wie auch für ihren späteren Mann Kurt Kläber. Sie suchen in ihr die Naturverbundenheit, befreien sich von bürgerlichen Konventionen und gestalten eigene Lebensentwürfe.
Lisa Tetzner und ihr späterer Ehemann Kurt Kläber in Carona, 1928.
Lisa Tetzner und ihr späterer Ehemann Kurt Kläber in Carona, 1928. © Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien, Zürich
Lisa Tetzner wendet sich mit ihrer Idee, Märchen erzählend durch Deutschland zu wandern an ihn. Trotz seiner Befürchtung, das sei «wohl nur so eine wandervogelmässige Studentenidee», kann sie überzeugen (aus: «Das Märchen und Lisa Tetzner», 1966): «Zaghaft und ungelenk sass ich dem patriarchischen grossen Herrn in schwarzem Samtkittel gegenüber. Ich war fast ohnmächtig vor Angst. Er hatte am Abend mehrere Professoren und andere bekannte Persönlichkeiten geladen, die erst ihr Ja und Amen (zu ihrem Vorhaben) geben sollten. Ich erzählte ihnen die halbe Nacht und ich erzählte mir nicht nur ihr Wohlwollen, sondern erhielt von ihnen eine gedruckte Bescheinigung, dass ich keine Abenteurerin, dagegen Schülerin des berühmten Vortragsmeisters Emil Milan sei […]. Dann schrieb ich meinem Vater, dass ich seines Monatswechsels nicht mehr bedürfe, aber auch keine Fürsorgerin werde, sondern lieber als Märchenerzählerin durch Deutschland wandern möchte. Ich ahnte nicht [...], dass dies mein Beruf werden könnte.» Sie beginnt ihre Wanderung im Sommer 1918 in Thüringen. Der mörderische und grausame Erste Weltkrieg tobt noch und geht erst im Winter mit der Niederlage Deutschlands zu Ende. Lisa Tetzner versammelt auf Dorfplätzen, in Schulen, Kirchen und Literaturvereinen Kinder, aber auch Erwachsene um sich herum und erzählt Märchen, gibt Rätsel auf und singt mit ihnen. Mit der «gedruckten Bescheinigung» (eine Art Lizenz kombiniert mit einem Empfehlungsschreiben), die sie von Eugen Diederichs erhalten hat, macht sie in den kleinen Ortschaften und Dörfern auf ihre Vorträge aufmerksam.
Mit diesem Schreiben und Plakaten macht Lisa Tetzner auf ihre Auftritte aufmerksam.
Mit diesem Schreiben und Plakaten macht Lisa Tetzner auf ihre Auftritte aufmerksam.
Mit diesem Schreiben und Plakaten macht Lisa Tetzner auf ihre Auftritte aufmerksam. Christiane Dornheim-Tetzner
Regelmässig schickt sie Berichte und Briefe an ihren «Märchenvater» Diederichs, die dieser (ohne ihr Wissen) zu einem Band zusammenstellt und 1919 in seinem Verlag herausgibt. Die Zeichnungen stammen von der Malerin und Illustratorin Maria Braun, die noch viele Bücher von Lisa Tetzner begleiten wird. 1922 folgt als Fortsetzung «Aus Spielmannsfahrten und Wandertagen. Ein Bündel Berichte» sowie 1923 «Im Land der Industrie zwischen Rhein und Ruhr. Ein buntes Buch von Zeit und Menschen».
Der Band von 1919 enthält Bericht und Briefe von Lisa Tetzner an ihren «Märchenvater» Eugen Diederichs. Er gibt das Buch vorerst ohne ihr Wissen heraus.
Der Band von 1919 enthält Bericht und Briefe von Lisa Tetzner an ihren «Märchenvater» Eugen Diederichs. Er gibt das Buch vorerst ohne ihr Wissen heraus. Verlag Eugen Diederichs
Das deutsche Ministerium für Kunst und Volksbildung zeichnet Lisa Tetzner später für ihre «Kulturtat» mit einem hohen Geldpreis aus und bittet sie, auch in den besetzten Rhein- und Ruhrbezirk zu gehen. Diese staatliche Anerkennung ist für die junge Frau die Bestätigung, «dass ich auf dem richtigen Weg war, auf dem noch vieles auf mich wartete.» In der Tat: bereits 1926 ist sie Herausgeberin von «Die schönsten Märchen der Welt für 365 und 1 Tag» im Verlag von Eugen Diederichs. In diesem stattlichen und umfangreichen Band blickt sie auch auf die Erfahrung als Erzählerin zurück und lässt eigene Forschungstätigkeit einfliessen. Die Sammlung erscheint über Jahrzehnte in zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen.
Lisa Tetzner, Die schönsten Märchen der Welt für 362 und 1 Tag, mit Abbildungen von Maria Braun, Verlag Eugen Diederichs, Jena, 1926.
Lisa Tetzner, Die schönsten Märchen der Welt für 362 und 1 Tag, mit Abbildungen von Maria Braun, Verlag Eugen Diederichs, Jena, 1926. Wikimedia

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