Die Katholisch-Konservativen waren Mitarchitekten der direkten Demokratie, welche die Schweiz bis heute einzigartig macht. Landsgemeinde von Mettmenstetten, um 1795.
Die Katholisch-Konservativen waren Mitarchitekten der direkten Demokratie, welche die Schweiz bis heute einzigartig macht. Landsgemeinde von Mettmenstetten, um 1795. Schweizerisches Nationalmuseum

Von Kirchge­mein­den zur Gemeindefreiheit

Der politische Katholizismus war für die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz ein wichtiger Treiber. Die Kirchgemeinden bildeten dabei den Ursprung des Genossenschaftsprinzips.

René Roca

René Roca

René Roca ist promovierter Historiker, Gymnasiallehrer und leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie fidd.ch.

Die direkte Demokratie besitzt auf der Gemeindeebene mit dem Genossenschaftsprinzip ein wichtiges Fundament. Die früheste organisierte Gemeindeform waren die Kirchgemeinden, die in der Schweiz meistens genossenschaftlich und dezentral aufgebaut waren (Kirchgenossen) oder diese Grundlage im Spätmittelalter respektive der Frühen Neuzeit entwickelten (so zum Beispiel der Kanton Graubünden, damals der «Freistaat der Drei Bünde»). Die durch das Genossenschaftsprinzip geförderte «Gemeindefreiheit», kurz die gemeindlich-genossenschaftliche Selbstbestimmung in Kirchgemeinden, Korporationen und dann auch in den politischen Gemeinden ist eine oft unterschätzte Tradition. Sie beruht auf einer naturrechtlichen Grundlage und trug viel zur späteren Konkretisierung der Volkssouveränität und Herausbildung der direkten Demokratie auf Kantons- und Bundesebene bei. In diesem Prozess, der im frühen 19. Jahrhundert begann, spielte der Katholizismus eine zentrale Rolle.

Der Weg zur Demokratie

In der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das entscheidende Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. Entscheidend zu dieser Demokratie beigetragen haben drei politische Bewegungen: die Katholisch-Konservativen, die Liberalen und die Frühsozialisten. Ihre Bedeutung wird in einer Mini-Serie beleuchtet.
Ab 1523 schaffte die Reformation in den Schweizer Städten den Durchbruch. Doch bereits 1531 setzte der Zweite Kappeler Krieg dieser Entwicklung ein vorläufiges Ende. Danach begann in der Eidgenossenschaft ein langwieriger Prozess der «Konfessionalisierung», was zur Herausbildung von zwei Konfessionskirchen und zwei relativ streng voneinander geschiedenen Gesellschaften und Kulturen führte.
Abbildung des Zweiten Kappelerkriegs in der Schweizerchronik von Johannes Stumpf, 1548.
Abbildung des Zweiten Kappelerkriegs in der Schweizerchronik von Johannes Stumpf, 1548. Schweizerisches Nationalmuseum
Bis 1712 war die Schweiz durch eine politische Vorherrschaft der katholischen Orte geprägt. Die Beschlüsse des Konzils von Trient (1545–1563) leiteten eine katholische Reform ein, was unter anderem den Aufbau eines katholischen Bildungswesens mit sich brachte, gefördert vor allem durch die neuen Orden der Jesuiten und Kapuziner. Nach dem Zweiten Villmerger Krieg 1712 ergab sich ein wirtschaftliches und politisches Übergewicht der reformierten Orte und der Konfessionalismus flaute etwas ab. Nach den Umbrüchen der Helvetik führte im Katholizismus die kirchliche Neuordnung ab 1821 zur Bildung von neuen Bistümern in der Schweiz. Im 19. Jahrhundert wurden dann etwa 50 klösterliche Niederlassungen säkularisiert. Dieser Prozess konnte teilweise durch die ab 1830 zahlreich gegründeten Kongregationen für Männer und Frauen aufgefangen werden (zum Beispiel die Schwesterngemeinschaften von Ingenbohl und Menzingen). Die Jahre nach 1830 waren durch die politische Regeneration der Liberalen geprägt. Damals begann im Grunde bereits der «Kulturkampf» in der Schweiz, der bis circa 1880 dauerte. In diesem Zusammenhang entwickelten sich im Rahmen des Schweizer Katholizismus zwei Richtungen: Die liberalen Katholiken bildeten eine heterogene Minderheit, während die Mehrheit katholisch-konservativer Gesinnung blieb.
Eine Druckgrafik aus dem 19. Jahrhundert zeigt die Stadt St. Gallen mit dem dominanten Kloster.
Ab 1823 war St. Gallen auch ein Bistum. Erst verbunden mit dem Bistum Chur, wurde St. Gallen 1847 ein unabhängiges Bistum. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Schweiz ist religionsgeschichtlich wie auch im kirchenpolitischen Bereich ein Sonderfall. Seit der Gründung des Bundesstaates 1848 besitzen die Kantone die Kirchenhoheit. Die Katholische Kirche weist eine duale Struktur aus demokratischen staatskirchenrechtlichen Institutionen (Pfarrwahl...) und eine hierarchische Struktur nach kirchlichem Recht auf. Die Katholisch-Konservativen entwickelten zwar nach 1815 einen Widerstand gegen die Bundesrevision und lehnten einen Bundesstaat ab, förderten aber einen Föderalismus eigener schweizerischer Prägung. Der Schweizer Historiker Urs Altermatt schreibt anerkennend, dass die politische Emanzipationsbewegung der Katholiken nach 1848 das kirchentreue Volk auf demokratischer Basis organisierte: «Im Gegensatz zu den politischen Programmen anderer katholischer Parteien Europas anerkannte der politische Katholizismus in der Schweiz die Demokratie von Anfang an als selbstverständliche Staatsform […].» Darüber hinaus muss betont werden, dass Katholisch-Konservative – neben den Frühsozialisten – massgeblich an der Entwicklung der direkten Demokratie beteiligt waren. Neben dem Kanton Luzern traf dies insbesondere auch auf den Kanton Wallis zu.

Das Walliser Beispiel

Ein Beispiel für die Bedeutung der Katholisch-Konservativen ist die demokratische Entwicklung des Kantons Wallis während der Regenerationszeit ab 1830 bis zur Gründung des Bundesstaates 1848. Der Kampf um die «moderne Demokratie» war auch im Kanton Wallis geprägt durch das politische Ringen unterschiedlicher Regionen. Im Wallis ging es in einem ersten Schritt um die Durchsetzung der politischen Gleichheit des oberen und unteren Landesteiles. Das Oberwallis war mehrheitlich konservativ und das Unterwallis stärker liberal-radikal geprägt. Die alte Republik Wallis besass aber bereits vormoderne demokratische Strukturen. Sie war ein Staatenbund aus sieben souveränen «Zenden», die als selbständige Kleinstrepubliken gemeinsam mit dem Bischof von Sitten das Unterwallis als Untertanengebiete durch Landvögte regierten. Die Zenden waren ähnlich organisiert, gliederten sich in weitere Untereinheiten und genossenschaftlich verfasste Gemeinden sowie Korporationen und Pfarreien. Gemeinsames und höchstes Organ des Kantons war der Landrat (später als Legislative der Grosse Rat), dessen Mitglieder Abgesandte der einzelnen Zenden waren. Die Beschlüsse des Landrats kamen in den einzelnen Gemeinden zur Abstimmung, schlussendlich entschied die Mehrheit der Zenden endgültig über ein Geschäft. Dieses Recht kann als «föderalistisches Referendum» bezeichnet werden und ist zweifellos eine wichtige Wurzel der späteren Demokratieentwicklung im Kanton Wallis und in der übrigen Schweiz.
Kreuzer der Republik Wallis, 1628.
Kreuzer der Republik Wallis, 1628. Schweizerisches Nationalmuseum
Das «föderalistische Referendum» wurde während der Regeneration (1830–1848) im Rahmen der politischen Kämpfe des Kantons Wallis weiter entwickelt. So fand in der neuen Kantonsverfassung vom Januar 1839 das Veto (Vorform des fakultativen Referendums) Eingang. Das Walliser Veto wurde bereits in der August-Verfassung 1839 in ein «Vetoreferendum» umgewandelt, das einem obligatorischen Referendum, also der zwingenden Volksabstimmung über sämtliche Erlasse des Grossen Rates, schon sehr nahe kam. Zudem war dieses Volksrecht im Gegensatz zu früheren Formen des Kollektivvotums nun ein Individualvotum. In diesem Zusammenhang wurden die Aktivbürger regelmässig einberufen, um an Urversammlungen zu diversen Erlassen Stellung nehmen zu können.

Erster Kanton mit obliga­to­ri­schem Referendum

Besonders die Katholisch-Konservative betonten, das neue Volksrecht sei doch nichts anderes als der Ausfluss und Ausdruck der Volkssouveränität, indem sich das Volk nämlich nur solchen Gesetzen unterziehe, die es sich in freier Bestimmung selbst gegeben habe. 1843 brachte den Konservativen die Mehrheit im Grossen Rat und im Staatsrat, was zu einer Verschärfung der Polarisierung zu den Liberal-Radikalen führte. Mit einer neuen Verfassung von 1844 versuchte man mehr Ruhe in den Kanton zu bringen. Die Katholisch-Konservativen bemühten sich aktiv um einen Ausgleich und förderten eine neue Verfassung, die sich weitgehend an die liberale Augustverfassung von 1839 anlehnte und die Freiheitsrechte beibehielt. Die neue Verfassung unterschied sich von der Vorgängerin in zwei wesentlichen Punkten: Einerseits stärkte sie die Stellung der Kirche im Staat, andererseits baute sie die Rechte des Volkes wesentlich aus. Bezüglich der Volksrechte bedeutete dies die Weiterentwicklung des Vetoreferendums zu einem obligatorischen Referendum. Eine knappe absolute Mehrheit der Walliser Aktivbürger nahm im Oktober 1844 die neue Verfassung an. Der Kanton Wallis war damit der erste Schweizer Kanton, der ein obligatorisches Referendum einführte; deshalb kommt den Katholisch-Konservativen dieses Kantons zweifellos eine Pionierrolle zu. Eine weitere grosse Leistung der Konservativen war der längst überfällige Erlass eines Schulgesetzes. Dieses führte die allgemeine Schulpflicht ein und sah die Gründung einer Normalschule und eines Lehrerseminars vor. Die geistlichen und die weltlichen Behörden teilten sich die Leitung des Schulwesens.
Doch auch mit dieser neuen Verfassung und mit dem obligatorischen Referendum konnte die Walliser Bevölkerung nicht lange Erfahrungen sammeln. Nach dem zweiten Freischarenzug gegen Luzern im März 1845 trat das Wallis der Schutzvereinigung der katholischen Kantone, dem Sonderbund, bei. Nach dem kurzen Sonderbundskrieg 1847 dekretierten die liberal-radikalen Sieger im Kanton Wallis im Januar 1848 eine neue Verfassung, die kein Referendum mehr enthielt und die Grundlage für einen reinen Repräsentativstaat darstellte. Es dauerte im Wallis danach Jahrzehnte, bis die Volksrechte wieder Schritt für Schritt eingeführt wurden.
Der zweite Freischarenzug von 1845 (im Bild das Gefecht von Malters) vertiefte die Gräben zwischen den Konfessionen und führte schliesslich in den Sonderbundskrieg.
Der zweite Freischarenzug von 1845 (im Bild das Gefecht von Malters) vertiefte die Gräben zwischen den Konfessionen und führte schliesslich in den Sonderbundskrieg. Schweizerisches Nationalmuseum

Und heute?

Nach 1840 entstand im Kanton Luzern aus der katholisch-konservativen Volksbewegung der «Ruswiler Verein», der später zur ersten katholisch-konservative Partei mutierte. Erst 1912 wurde die Katholische Volkspartei (KVP) aus der Taufe gehoben, die 1970 in der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) aufging. Anfang 2021 fusionierte die CVP mit der BDP (Bürgerlich-demokratische Partei) und wurde so in den meisten Kantonen (ausser unter anderem im Kanton Wallis) zur Partei «Die Mitte».

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