Wird mit deutschen oder mit französischen Karten gespielt? Die «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Grenze für die Verwendung von französischen oder deutschen Spielkarten in der Schweiz. Illustration auf Basis einer Karte aus der Sammlung Atlas der Schweizerischen Volkskunde.
Wird mit deutschen oder mit französischen Karten gespielt? Die «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Grenze für die Verwendung von französischen oder deutschen Spielkarten in der Schweiz. Illustration auf Basis einer Karte aus der Sammlung Atlas der Schweizerischen Volkskunde. Fotoarchiv der SGV, Basel / Schweizerisches Nationalmuseum

Die Entdeckung der «Brünig-Napf-Reuss-Linie»

In der Zeit der Geistigen Landesverteidigung tauchte in der damals stark geförderten wissenschaftlichen Volkskunde die These einer Schweizer Binnenkulturgrenze auf. Diese Kulturgrenze, die nicht entlang der Sprachgrenze verläuft, sollte Beweis für nationale Identität und kulturelle Vielfalt sein.

Birgit Huber

Birgit Huber

Birgit Huber ist Kulturanthropologin und promoviert an der Universität Basel zum «Atlas der Schweizerischen Volkskunde».

Am 16. November 1946 fand an der Universität Zürich die Antrittsvorlesung für einen neugeschaffenen Lehrstuhl für Volkskunde statt. Unter dem Titel «Schweizerischer Kulturraum auf volkskundlichen Karten» sprach der frischgebackene Professor Richard Weiss über folgende Entdeckung: Nicht nur an den Sprachgrenzen oder der Grenze Alpen- zu Mittellandzone, nein, auch «entlang einer Grenzzone, die durch die Wasserscheide des Brünig, des Napfgebietes und durch den untersten Reuss- und Aarelauf markiert ist», zeigten sich kulturelle Unterschiede. Weiss sprach in seiner Antrittsvorlesung von der sogenannten «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Kulturgrenze zwischen der Ost- und der Westschweiz. Zuvor hatten Forschende in der Dialektforschung und im «Sprachatlas der deutschen Schweiz» auf einen Teil dieser Grenze hingewiesen. Doch Weiss hat die erweiterte Linie – vermutlich mit seinem Kollegen, dem Basler Volkskundler Paul Geiger – auf den ersten Kartenentwürfen für den Atlas der Schweizerischen Volkskunde (ASV) entdeckt. Die beiden waren Leiter des Atlasprojekts, das zum Ziel hatte, kartografisch eine Momentaufnahme des Alltags und Brauchtums in der Schweiz um die 1930er-Jahre festzuhalten. Dafür wurde zwischen 1937 und 1942 eine Datenerhebung in rund 400 Gemeinden und Städten durchgeführt. Rund zehn Mitarbeitende befragten um die 1200 Personen, wobei sie den Auftrag hatten – ob Bergdorf oder Grossstadt – möglichst eine Person pro Ort zu finden, die ihnen stellvertretend für den ganzen Ort zu 150 Fragen Auskunft geben konnte. Ausnahme waren ein paar Fragen, die sie direkt an Frauen, Kinder oder spezifische Berufsgruppen stellen sollten. Pro Ort standen ihnen dabei drei Arbeitstage zur Verfügung. Aus dieser Datenerhebung entstand umfangreiches Quellenmaterial, das nach 1942 kartografisch ausgewertet wurde; erst von Weiss und Geiger selbst, bald schon kamen drei weitere Kartografierende dazu. Das ganze Material befindet sich im Archiv der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und wird zurzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts digital zugänglich gemacht.
Einladungskarte zur Antrittsvorlesung Richard Weiss, Professor für Volkskunde an der Universität Zürich am 16. November 1946.
Einladungskarte zur Antrittsvorlesung Richard Weiss, Professor für Volkskunde an der Universität Zürich am 16. November 1946. Archiv der Uni Zürich

Die These

Während der Röstigraben heute vielen ein Begriff ist, kennen die «Brünig-Napf-Reuss-Linie» wohl vor allem volkskundlich Interessierte. Die These zu dieser Linie als Ost-West-Kulturgrenze besagt, dass sich gewisse kulturelle Aspekte nicht an den Sprachgrenzen unterscheiden, sondern eben entlang dieser Linie. Weitestgehend handle es sich, so Weiss 1946, um die einstige Grenze zwischen Bern und den Gemeinen Herrschaften, die sich als Konfessionsgrenze erhalten habe. Gerade an weniger beachteten, «unbedeutenden» Kulturgütern zeigten sich regionalspezifische Ausprägungen. Als Beispiele nannte Weiss etwa die Gewohnheit, am Samstag Kartoffelsuppe aufzutischen, die Verwendung von deutschen oder französischen Spielkarten oder wie die Gestalt heisst, die an Weihnachten Geschenke bringt. Angesichts der Verbreitung dieser «unbedeutenden» Kulturgüter liessen sich Aussagen über Kulturbewegungen treffen. Weiss und Geiger ging es um das Verorten einer (ursprünglichen) «Kultur des Volkes». Im Streben um die Abbildung eines «objektiven Kulturraums» und dessen Grenzen, waren sie sich durchaus auch der kulturellen Komplexität und der kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozesse bewusst. Viele ihrer Überlegungen zu Vorgehen und Daten hielten sie etwa in Kommentartexten zu den Atlaskarten fest.
Sprachgrenzen der Schweiz. Glasdia aus der Sammlung «Atlas der Schweizerischen Volkskunde» im Fotoarchiv der SGV, Basel.
Konfessionsgrenzen der Schweiz. Glasdia aus der Sammlung «Atlas der Schweizerischen Volkskunde» im Fotoarchiv der SGV, Basel.
Sprachen- (links) und Konfessionsgrenzen (rechts) der Schweiz auf zwei Glasdias. Wahrscheinlich haben Richard Weiss und Paul Geiger sie für ihre Referate verwendet. Fotoarchiv der SGV, Basel / Fotoarchiv der SGV, Basel

Der Hinter­grund

Die These zur «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Kulturgrenze kristallisierte sich bereits Ende der 1930er-Jahre heraus. Sie fusst auf den Forschungsarbeiten der 1930er- und 1940er-Jahre, die geprägt waren vom Geist ihrer Zeit: von Nationalismus und der Konstruktion nationaler Identität über kulturelle Eigenschaften, von Nationalsozialismus und Faschismus, Krieg und Mobilmachung. Gerade weil der Atlas der Schweizerischen Volkskunde einen Beitrag zur Debatte über das Verhältnis von Sprach- zu Kulturgrenzen leisten konnte, fügte er sich gut in das politische Kulturprogramm der Geistigen Landesverteidigung ein. Einerseits fiel das Unterfangen, die «Volkskultur» zu erfassen, in den 1930er-Jahren auf fruchtbaren Boden – was ist die gemeinsame, einende Kultur einer viersprachigen Nation? Die Hervorhebung in den ersten Auswertungen des Forschungsprojekts, dass Sprachgrenzen nicht einfach identisch sind mit Kulturgrenzen, bot auch eine wissenschaftlich begründete Rechtfertigung des nationalen, vier Sprachregionen umfassenden Grenzverlaufs. Andererseits ermöglichte die These nach Kriegsende 1945 auch eine politische Positionierung auf der Siegerseite durch eine Absage an die «völkische» Volkskunde: ein Lob auf die Einheit in der Vielfalt, über eine Einheit von Sprache und Kultur hinaus. Dabei ermöglichte die damalige politische Lage überhaupt erst eine solche Anerkennung der Relevanz volkskundlicher Fragen. Und hierin ist auch die Gründung eines Lehrstuhls für Volkskunde mit der Antrittsvorlesung von Richard Weiss zu verorten. Seit 1941 unterrichtete Weiss als Privatdozent an der Universität Zürich, 1945 wurde er zum Professor ernannt. Da er davor noch den Atlas abschliessen wollte – was letztlich erst 1995 geschah – hielt er seine Antrittsvorlesung erst 1946.
Grenzverläufe verschiedener kultureller Aspekte auf einem Glasdia: Richard Weiss hat diese Visualisierung für seine Argumentation zur «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Kulturgrenze verwendet.
Grenzverläufe verschiedener kultureller Aspekte auf einem Glasdia: Richard Weiss hat diese Visualisierung für seine Argumentation zur «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Kulturgrenze verwendet. Fotoarchiv der SGV, Basel

Die Nachwir­kun­gen

Geiger und Weiss, aber auch die drei späteren Atlaskartografinnen und -kartografen, griffen die These zur «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als Kulturgrenze in der Folge, bis auf zwei Nennungen Anfang der 1950er-Jahre, nicht mehr auf und überprüften sie auch nicht an den letztlich publizierten Karten. Das ASV-Projekt hingegen wurde bis in die 2010er-Jahre als gerne hinzugezogenes Beispiel für eine sich vom Nationalsozialismus abgrenzende Schweizer Wissenschaft verwendet. Das, sowie die Tücken dieser Argumentation hat der Kulturwissenschaftler Konrad Kuhn 2017 herausgearbeitet: Einerseits habe das Projekt wie auch das neu entstehende universitäre Fach «Volkskunde» massiv von der Geistigen Landesverteidigung profitiert – unter anderem mit steigendem Interesse an volkskundlichen Fragen und der Möglichkeit sich identitätspolitisch zu positionieren. Andererseits konnte Kuhn Netzwerke der Schweizer Volkskundler mit NS-Volkskundlern, sowie die Rolle der Schweizer Volkskundler in deren Rehabilitation aufzeigen. In dem etwa die Schweizer Volkskundler Fachvertreter aus dem Nachbarsland, die dort unter Berufsverbot standen, zu Referaten in die Schweiz einluden, erleichterten sie diesen die Rückkehr an die Universitäten in ihrem Herkunftsland. Ferner begünstige das bis Ende der 2010er-Jahre wirksame Narrativ einer sich von der «völkischen Wissenschaft» abgrenzenden, objektiven und politisch neutralen Schweizer Volkskunde, mit dem Atlas der Schweizerischen Volkskunde als «Vorzeigeprojekt», dass eine kritische Aufarbeitung der eigenen Fachperspektive aufgeschoben werden konnte. Mit diesem Wissen im Hinterkopf und der Verortung im Kontext ihrer Zeit sind denn auch die Karten des ASV und ihre Aussagen zu «Kulturgrenzen» zu betrachten.
ASV-Glasdias in der Restaurierung im Atelier der Fotorestauratorin Regula Anklin in Basel. Die Dias wurden vermutlich von Richard Weiss und Paul Geiger in Referaten verwendet.
ASV-Glasdias in der Restaurierung im Atelier der Fotorestauratorin Regula Anklin in Basel. Die Dias wurden vermutlich von Richard Weiss und Paul Geiger in Referaten verwendet. Foto: Birgit Huber
Die erste Professorin für Volkskunde in Basel stellte zu Beginn der 1990er-Jahre die «Brünig-Napf-Reuss-Linie» als «Weiss’schen Mythos» in Frage, andere wollen weniger von einer Linie als von einem «breiten Band» sprechen. Unbestritten bleibt ein Einfluss der historisch gewachsenen, politischen, wirtschaftlichen sowie konfessionellen Grenzverläufe auf die Bevölkerung und ihr Tun. Wie damals die Daten gesammelt und ausgewertet wurden, verdient unsere Aufmerksamkeit, wenn wir heute die Karten des Atlas der Schweizerischen Volkskunde und aus diesem Kontext die These zur «Brünig-Napf-Reuss-Linie» für Argumente über frühere «Kulturgrenzen» in der Schweiz verwenden. Hierzu sind durch die aktuelle (digitale) Aufarbeitung des Atlasmaterials neue Erkenntnisse zu erhoffen. Diese betreffen etwa Fragen der Repräsentation (wessen Angaben wurden erhoben und sichtbar gemacht, was und wer wurde dabei unsichtbar?), aber auch Fragen der Methodik (inwiefern prägte das Ziel einer Visualisierung in Karten die Datenerhebung, warum fanden gesammelten Angaben teils keinen Eingang in die Publikationen?). Ganz grundsätzlich geht es aber auch um die Frage, wie diese volkskundlich-historische Sammlung digital zugänglich gemacht werden kann.

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