Die Verteilung des Gratisbuches auf dem Zürcher Helvetiaplatz, 1971.
Die Verteilung des Gratisbuches auf dem Zürcher Helvetiaplatz, 1971. Foto: Eric Bachmann

Literatur für alle

Mit einem Gratisbuch liessen zwei junge Kulturschaffende 1971 die Welt aufhorchen. Sie verteilten es in der ganzen Deutschschweiz und hatten dabei prominente literarische Unterstützung.

Dominik Landwehr

Dominik Landwehr

Dominik Landwehr ist Kultur- und Medienwissenschafter und lebt in Zürich.

Im Jahr 1971 wurde auf Schweizer Strassen und Plätzen ein Gratisbuch verteilt. Auflage: 40’000 Exemplare. Das Werk mit Beiträgen zahlreicher zeitgenössischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller war zwar kostenlos zu haben, aber alles andere als ein «billiges» Produkt. Theo Ruff und Peter K. Wehrli, zwei junge Kulturschaffende, initiierten das Projekt mit dem Ziel, die Literatur in breitere soziale Schichten zu tragen und damit zu demokratisieren. Doch bis das Werk endlich verteilt werden konnte, war ein weiter Weg zu gehen. Begonnen hatte dieser Weg mit einer Plakat-Aktion von Theo Ruff. Peter K. Wehrli sah das Plakat in einer Galerie und schloss sich Ruff sofort an. Die ursprüngliche Idee war, junge Autoren zu ermuntern, Texte einzureichen, doch die meisten der rund 300 Einsendungen waren enttäuschend. «Sie stammten zum grössten Teil von jungen Leuten zwischen 15 und 25 Jahren. Wir gaben den Texten damals den Namen ‹Weltschmerzlyrik›», erinnert sich Peter K. Wehrli. Deshalb entschieden sich die Initianten, bekanntere Autoren anzuschreiben. Etwa Peter Bichsel, Max Frisch oder Adolf Muschg.
Wehrli (links) und Ruff, die beiden Initianten des Gratisbuches.
Wehrli (links) und Ruff, die beiden Initianten des Gratisbuches. Foto: Eric Bachmann
Die Angeschriebenen reagierten sehr positiv: 49 der 50 Kunstschaffenden unterstützten das Projekt. Nur Friedrich Dürrenmatt liess nichts von sich hören. Und so blieben seine Seiten leer, denn Ruff und Wehrli hatten fest mit einem Beitrag des Berners gerechnet und konnten deshalb nicht mehr reagieren. Eine böse Absicht steckte allerdings nicht dahinter. Der Schriftsteller hatte schlicht weg vergessen, die Anfrage zu beantworten. Dafür lieferten andere. Besonders stolz waren die Initianten auf den Text von Hugo Loetscher. Der Schriftsteller und Journalist hatte 1964 fürs Schweizer Fernsehen einen Film über Portugal gedreht – das Land litt in jenen Jahren unter der Diktatur von Antonio de Oliveira Salazar. Der Film «Ach, Herr Salazar» des Zürchers war ein Plädoyer für die Freiheit des Landes. Nachdem die portugiesische Botschaft vom Vorhaben des Schweizer Fernsehens erfahren hatte und sich darüber beschwerte, stoppte die Fernsehdirektion den Film kurz vor dessen Ausstrahlung.
Friedrich Dürrenmatt (rechts) mit dem Westschweizer Verleger Marc Lamunière, 1958.
Friedrich Dürrenmatt (rechts) mit dem Westschweizer Verleger Marc Lamunière, 1958. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Hugo Loetscher stellte den Text des umstrittenen Filmes dem Buch zur Verfügung. Hier ein Auszug aus diesem Text: «Ach Herr Salazar, bald sind es vierzig Jahre, dass sie regieren. Wer dem Land so lange dient, muss es lieben. Der Namen sind so viele, so viel es Sehenswürdigkeiten gibt. Dies aber, Herr Salazar, ist ihre Sehenswürdigkeit. Die Festung von Caxias, siebzehntes Jahrhundert, mit politischen Gefangenen des zwanzigsten.» Nach diesem Eklat konnte Loetscher bis zur Nelkenrevolution von 1974, die Salazars Diktatur ein Ende setzte, nicht mehr nach Portugal reisen.
Das Echo auf die «Aktion Gratisbuch» war gross. So meldete sich zum Beispiel nach einem Radiointerview ein Fuhrunternehmer und stellte einen Lastwagen für eine Lesung am Zürcher Helvetiaplatz zur Verfügung. Auch die internationale Presse berichtete über das 96-seitige Buch. So schrieb zum Beispiel der San Francisco Cronicle am 25. November 1971 «A Swiss book named ‹gratis›» und drei Monate später doppelte die International Herald Tribune nach: «No money can buy this Swiss book». Der Erfolg war so gross, dass es nach drei Jahren eine neue Auflage mit 4000 neuen Büchern gab – nun waren es rund 60 Texte, die im Buch versammelt waren.
TV-Beitrag über das Gratisbuch. SRF
Was damals revolutionär war, ist seit Ende der 1990er-Jahre zu einer sich wiederholenden PR-Aktion des Buchhandels geworden. Mit Gratisbüchern wird die Bevölkerung heute zum Lesen animiert. Und natürlich auch zum Kauf von Büchern. Fazit: Gleiches Mittel, anderer Zweck.
Die Bilder zum Gratisbuch stammen vom Schweizer Fotografen Eric Bachmann (1940-2019). Er realisierte zahlreiche Reportagen im In- und Ausland und porträtierte unzählige Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts wie Muhammad Ali, Friedrich Dürrenmatt, Bob Marley, Astrid Lindgren und viele mehr. Sein Archiv wird in Kaiserstuhl aufbewahrt und ist unter ericbachmann.ch teilweise digital zugänglich.

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