Gemälde von Gottfried Keller, 1855.
Gemälde von Gottfried Keller, 1855. e-manuscripta

Kellers Liebe zur Eiche

Gottfried Keller wünschte sich nichts sehnlicher, als Maler zu werden und die Natur darzustellen. Das tat er schliesslich auch, aber vor allem in Worten.

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin an der Universität Basel.

Im Oktober 1881 bricht Gottfried Keller auf ein «bescheidenes Kunstreischen» in die Zentralschweiz auf. Ein erster Abstecher führt ihn an den neblig verhangenen Urnersee. Hier bemalt Ernst Stückelberg gerade die Wände der neu gebauten Tellskappelle mit Fresken aus der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft. Dann fährt der Dichter nach Luzern und schaut sich ein neues Gemälde von Arnold Böcklin an, bevor ihn «das Glück (…) in das stille Landhaus des Herrn Robert Zünd» führt. Auch der ist Maler. Kellers Begeisterung für die Malerei geht weit zurück. Schon als junger Mann wünschte er, sie zu seinem Beruf zu machen, wofür er die Heimatstadt Zürich verliess und sein Glück in der Kunstmetropole München versuchte. Lieblingsmotive waren Landschaften, vorwiegend Wälder und immer wieder der Lieblingsbaum, die majestätische Eiche. Wenn man fähig sei, einen ganzen Wald «wahr und treu zu malen», schrieb Keller später im autobiographischen Roman Der grüne Heinrich, dann erlaube diese Kunst «eine Art wahren Nachgenusses der Schöpfung». Über Jahre versuchte er, diese Fähigkeit mit Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden zu erreichen, doch der erhoffte Durchbruch blieb ihm versagt, seine Werke verkauften sich schlecht. Nach ein paar Jahren zog es ihn nochmals nach Deutschland – nach Heidelberg und Berlin –, bevor er sich 1855 wieder in Zürich niederliess und den Pinsel endgültig zur Seite legte.
Porträt von Gottfried Keller, 1890.
Porträt von Gottfried Keller, 1890. Schweizerisches Nationalmuseum
Manuskript des Waldlieds von Gottfried Keller.
Manuskript des Waldlieds von Gottfried Keller. Zentralbibliothek Zürich
Kellers Heimatstadt hatte sich inzwischen durch den technischen Fortschritt und den enormen wirtschaftlichen Aufschwung verändert. Der im gleichen Jahr wie Keller geborene Alfred Escher machte Zürich zum Eisenbahnknotenpunkt und durchzog die Schweiz mit einem Schienennetz. Dies machte das Reisen schneller, bequemer und effizienter, doch der Bau ging nicht ohne Kollateralschäden an Kellers geliebten Wäldern vor sich. Eisenbahnschwellen fertigte man aus Eichenholz an. Zu diesem Zweck rodete man unzählige über Jahrhunderte gewachsene Bäume und ersetzte sie durch schneller nachwachsende Arten. Die Wälder um Zürich, in die sich der junge Gottfried Keller so gern zurückgezogen hatte, existierten nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form.
Die aufkommende Eisenbahn in der Schweiz braucht viel Ressourcen wie Holz für die Schwellen. Dafür werden unzählige Bäume gefällt.
Die aufkommende Eisenbahn in der Schweiz braucht viel Ressourcen wie Holz für die Schwellen. Dafür werden unzählige Bäume gefällt. ETH Bibliothek Zürich
Nun steht er vor Robert Zünds Staffelei. Überwältigt blickt er auf ein noch unfertiges Gemälde: ein Eichenwald so perfekt wiedergegeben, wie es nur die Natur fertigbringe: «Die Phantasie oder Vorstellungskraft des Künstlers hat hier nicht zu erfinden. Aber ohne sie würden diese Perlen, die kein Anderer gesehen hätte, nicht gefunden.» Das Bild zeigt die zweite, grosse Version des Eichenwaldes, den Zünd bereits 1859 gemalt hat. Als der Künstler seine weiteren Naturstudien hervorholt, würde Keller sie am liebsten gleich mit einem Rahmen versehen. Sie erinnern ihn an Gedichte – die Kunstform, mit der er die Eichen unsterblich gemacht hat: «Arm in Arm und Kron' an Krone steht der Eichenwald verschlungen, // Heut hat er bei guter Laune mir sein altes Lied gesungen», schrieb er 1845 im ersten Waldlied, das zum Kulturgut nicht nur der Deutschschweizer, sondern der gesamten deutschsprachigen Poesie wurde. Der Eichenwald als Spiegel einer idealen Gesellschaft, deren Mitglieder sich umarmen, Kopf an Kopf, harmonisch.
Robert Zünds Eichenwald faszinierte Keller.
Robert Zünds Eichenwald faszinierte Keller. Kunstmuseum Luzern
Eichenwälder waren in der Schweiz über Jahrhunderte weit verbreitet. Sie wurden von den Menschen nicht nur genutzt, sondern oft übernutzt – als Holzlieferanten, aber auch als Weiden für Vieh, insbesondere Schweine, die sich mit Vorliebe von Eicheln ernährten. Doch nichts hat sie so schnell und radikal verändert wie die Dynamik der industrialisierten Wirtschaft im jungen Bundesstaat. Wie Wälder durch die Geldgier der Menschen vernichtet werden, beschrieb Keller auf humoristische Weise in seiner letzten Novelle aus dem Zyklus Die Leute von Seldwyla. Alles wird zu Geld gemacht, nur die erhabene uralte Eiche steht zum Schluss noch, dieser Baum, der «ein Monument darstellt, wie kein Fürst der Erde und kein Volk es mit allen Schätzen hätte errichten oder auch nur versetzen können». Doch auch sie wird dem Kapitalismus zum Opfer fallen. Auch wenn Keller noch miterlebte, wie sich die Schweiz ein eidgenössisches Forstgesetz gab und am Eidgenössischen Polytechnikum die ersten Förster ausbildete, um die Wälder zu schützen: Die «ideale Reallandschaft» oder «reale Ideallandschaft», die er in Zünds Gemälde ausmacht, wird noch während seinen Lebzeiten immer mehr zum Ideal, das mit der Realität der Schweizer Landschaft wenig gemein hat.
Die Forstschule am Polytechnikum, 1866.
Die Forstschule am Polytechnikum, 1866. Eidgenössische Forschungsanstalt WSL

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