Die Lusitania verlässt den Hafen von New York am 1. Mai 1915 zur letzten Reise (Ausschnitt). National Archives

Der Untergang der Lusitania

Die Versenkung des britischen Passagierschiffs RMS Lusitania am 7. Mai 1915 durch ein Deutsches U-Boot gehört zu den schlimmsten Schiffskatastrophen der jüngeren Geschichte. 1193 Männer, Frauen und Kinder kamen vor der irischen Küste ums Leben. Die Geschichten der Schweizer Personen an Bord der Lusitania bieten einzigartige Einblicke in die sich dem Ende neigende Edwardischen Epoche.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Webseite: worldhistory.org
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert emigirierten Tausende von Schweizerinnen und Schweizer nach Grossbritannien und an verschiedene Orte im Britischen Empire. Vor allem in den Handelsmetropolen London, Liverpool, Montreal und Sydney gründeten sie Restaurants und Hotels, beteiligten sich an Banken oder gründeten Finanzinstitute und fanden in den grossen Häusern der britischen Aristokratie Arbeit als Hausangestellte oder Köche. Die Briten der Edwardischen Epoche schätzten die Mehrsprachigkeit, ihre Präzision und Pünktlichkeit sowie ihre Manieren. Im Gegenzug verdienten die Schweizerinnen und Schweizer höhere Löhne und genossen einen höheren Lebensstandard in Grossbritannien und im Britischen Empire im Vergleich zu dem, was sie in der Schweiz zurückliessen. Dank Volkszählungen, Heirats- und Taufeinträgen sowie Briefen lässt sich das Leben der Schweizer Personen an Bord der Lusitania auf ihrer letzten Reise rekonstruieren: Adolf Samuel Nussbaum aus Delémont (1885-1915), John Frederick Deiner aus Liverpool (1883-1967), Elise Oberlin aus Lachen (1888-1915). Das Schicksal und die Umstände verbanden ihr Leben mit Grossbritannien, dem britischen Empire und schliesslich mit der Katastrophe der Lusitania, die das Ende der Edwardischen Epoche markierte.
Werbung der Cunard Line für die «schnellsten Dampfschiffe der Welt», 1914.
Werbung der Cunard Line für die «schnellsten Dampfschiffe der Welt», 1914. National Archives
Im Gegensatz zur berühmten Titanic, die auf ihrer Jungfernfahrt im April 1912 sank, verkehrte die Lusitania der britischen Reederei Cunard Line bereits sieben Jahre lang vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf den Weltmeeren. Die 1906 vom Stapel gelaufene Lusitania, die zum Teil durch ein grosszügiges Regierungsdarlehen in Höhe von 2,6 Millionen Pfund finanziert wurde, erwies sich als ein äusserst rentables und beliebtes Schiff. Bei ihrer Betriebsaufnahme 1907 rang sie Deutschland das begehrte «Blaue Band» ab – eine inoffizielle Auszeichnung für die schnellste Atlantiküberquerung. Mit einer Länge von 239, einer Breite von 27 und einem Tiefgang von 8,3 Metern, sieben Decks über und drei Decks unter der Wasserlinie, war die Lusitania das technische Wunderwerk ihrer Zeit. Sie erreichte eine Geschwindigkeit von 25 Knoten (46 km/h) und konnte über 2000 Passagiere und 800 Besatzungsmitglieder befördern. Mehr als 320 km elektrische Leitungen durchzogen ihren Aufbau, und ihre beiden Anker wogen jeweils über 10 Tonnen. Auf See wie an Land herrschten strenge Klassenunterschiede, so auch an Bord der Lusitania mit drei verschiedenen Dienstklassen. Ausgestattet mit einer Bibliothek, Rauchsalons, einer Arztpraxis, einem Musikzimmer, einem Friseursalon, einem begrünten Veranda-Café und sogar Aufzügen war die Lusitania ein schwimmender Palast mit einem Gewicht von fast 32’000 Tonnen. Während andere Ozeanriesen sie in punkto Luxus und Grösse übertrafen, behielt die Lusitania ihre glamouröse Aura. Zusammen mit ihrem ebenso berühmten Schwesterschiff, der Mauretania, war die Lusitania das schnellste Schiff der Welt – der «Windhund des Atlantiks». Sie verkörperte den britischen Handel und das britische Imperium, den Luxus und das nationale Selbstvertrauen, als Grossbritannien seinen imperialen Zenit erreichte.
Die Lusitania (rechts) und die Mauretania um 1911. Die beiden Schiffe der Reederei Cunard Line waren die grössten, schnellsten und luxuriösesten Ozeanschiffe ihrer Zeit.
Die Lusitania (links) und die Mauretania (rechts) um 1911. Die beiden Schiffe der Reederei Cunard Line waren die grössten, schnellsten und luxuriösesten Ozeanschiffe ihrer Zeit. Wikimedia

Einblicke in das Leben der Schweizer in der Edwardi­schen Epoche

Da die Berufsaussichten in der Schweiz begrenzt waren, wanderte der in Delémont (JU) geborene Adolf Samuel Nussbaum nach England aus, um seine Karriere als Koch zu starten. Er arbeitete zunächst als Küchenchef in einer Pension und später in einem Hotel in Cheltenham. In England fand Adolf die Liebe und heiratete 1907 die aus Hamburg stammende Johanna Wilhelmina Bergundthal. Das Paar freute sich über die Geburt von Tochter Elise, die einige Jahre nach der Heirat in London geboren wurde. Um 1911 erhielt Adolf die Chance seines Lebens, als Cunard ihn als Suppenkoch auf der Lusitania anstellte. Dies war eine prestigeträchtige Position, denn in den vier Speisesälen der Lusitania wurden täglich mehr als 10’000 Mahlzeiten serviert, und ihre erstklassige Küche zählte zu den besten in Europa. Die Tatsache, dass Cunard Adolf anstellte, ist somit eine Bestätigung seines Talents. Ausserdem neigte Cunard, wie auch die rivalisierende White Star Line, dazu, ausschliesslich britisches Personal einzustellen. Es gab zwar Ausnahmen, aber die beschränkten sich in der Regel auf die Küchen. Adolf befand sich an Bord in guter Gesellschaft, denn er arbeitete an der Seite des italienischen Küchenchefs der Lusitania (Giovanni Battista Ottino), des französischen Extrakochs (Etienne Pierre Seurre) und des spanischen Saucenkochs (José Ulgar Leon). Obwohl seine Tage lang waren – 14-Stunden-Schichten waren in den Küchen der Lusitania Routine – erhielt Adolf einen konkurrenzfähigen Lohn, den er an seine geliebte Frau und seine Tochter weitergab.
Die Küche der Lusitania, Arbeitsplatz von Adolf Samuel Nussbaum.
Die Küche der Lusitania, Arbeitsplatz von Adolf Samuel Nussbaum. Wikimedia
Lounge und Musiksalon der Ersten Klasse, Arbeitsplatz von John Frederick Deiner.
Die beliebte Lounge und Musiksalon der Ersten Klasse. Wikimedia
Speisesaal der Dritten Klasse.
Speisesaal der Dritten Klasse. Wikimedia
John Frederick Deiner kannte Adolf wahrscheinlich, da auch er zur Besatzung der Lusitania gehörte. Als Sohn eines Schweizers und einer Irin wurde Frederick in Liverpool geboren und gehörte zu einer grossen, zweisprachigen Familie. Stolz auf seine Schweizer Wurzeln, behielt Fredericks Vater Johan seine Schweizer Staatsbürgerschaft. Er hatte als Kellner in den grossen Hotels von Vevey gearbeitet, bevor er in den 1870er-Jahren nach England übersiedelte. Frederick folgte dem Beispiel seines Vaters und machte eine Lehre als Kellner in Hotels und Restaurants in der Nähe von Liverpool, bevor er um 1903 eine Anstellung bei Cunard fand. Frederick nahm jedoch die britische Staatsbürgerschaft an. Er begann um 1913 auf der Lusitania als Kellner erster Klasse zu arbeiten. Dies war ein Glücksfall, da er 1909 Maria White heiratete und kurz nacheinander zwei Söhne, Ernest und Norman, bekam. Fredericks Position war mit grosser Verantwortung verbunden, die er stilvoll in der Livrée von Cunard gekleidet wahrnahm. Ähnlich wie Adolf arbeitete Frederick lange Schichten, aber inmitten von Luxus und zur steten Verfügbarkeit von Reichen und Berühmten im exquisiten Speisesaal der ersten Klasse. Die Essenszeiten wurden dort streng eingehalten, und es herrschten englische Traditionen und Etikette. Europäer und Amerikaner, die mit den strengen englischen Sitten und Gebräuchen nicht vertraut waren, wussten oft nicht, wie sie sich während und nach den Mahlzeiten verhalten sollten. Frederick hatte also die Aufgabe, nicht nur höflich zu bedienen, sondern auch die bedürftigen Passagiere sanft zu führen, was nicht immer einfach war.
Porträt von John Frederick Deiner.
Porträt von John Frederick Deiner. National Archives
Illustration des Speisesaals der Ersten Klasse auf der Lusitania, um 1906.
Illustration des Speisesaals der Ersten Klasse auf der Lusitania, um 1906. Wikimedia
Im Gegensatz zu Adolf und Friedrich lebte und arbeitete Elise Oberlin in einem grossen Herrenhaus in Montréal, Kanada. Ausser ihrem Geburtsort Lachen (SZ) ist über ihr frühes Leben wenig bekannt. Im August 1913 stellte Frances Stephens – eine der bedeutendsten Frauen Kanadas – Elise als Zofe ein. Elises Leben änderte sich augenblicklich. Frances war eine wohlhabende, aus Schottland stammende Witwe, die sich für wohltätige Zwecke engagierte. Sie wohnte in wunderschönen Anwesen, trug aus London und Paris importierte Couture-Kleider und besass angeblich die schönste Schmucksammlung Kanadas. Obwohl wohlhabende britische Frauen wie Frances dazu neigten, deutsche oder französische Dienstmädchen einzustellen, um ihren gehobenen Status in der edwardischen Gesellschaft zu unterstreichen, wurden Schweizer Dienstmädchen für ihre Liebe zum Detail und ihre sorgfältige Organisation geschätzt. Elise unterstützte Frances bei einer Reihe täglicher häuslicher Tätigkeiten: Sie half ihr beim Ankleiden und Frisieren, pflegte ihre Garderobe und überwachte ihren lebhaften gesellschaftlichen Kalender. Sie kümmerte sich auch um Frances' persönliche Einkäufe und beaufsichtigte ihre Reisevorbereitungen. Elise schickte regelmässig begeisterte Briefe an ihre Familie in Kanton Schwyz, in denen sie berichtete, wie sehr sie das Leben in Kanada genoss. Das edwardianische Montréal war eine wohlhabende und schöne Stadt, die von den vergoldeten Villen auf der Golden Square Mile dominiert wurde, und das gesellschaftliche Leben war erfüllt von legendären Gesellschaftsbällen und Eislaufpartys, an denen auch die britische Königsfamilie teilnahm. Elise kehrte Anfang 1914 für einen letzten, glücklichen Besuch in die Schweiz zurück und reiste im April desselben Jahres wieder nach Kanada.
Frances Stephens
Frances Stephens war eine prominente Dame der Gesellschaft von Montréal. Sie starb beim Untergang der Lusitania. Ihr Leichnam wurde gefunden und sollte auf der Hesperian nach Kanada rückgeführt werden, als auch dieses Schiff vom selben U-Boot, das bereits die Lusitania torpediert hatte, versenkt wurde. Wikimedia
Suite der Ersten Klasse auf der Lusitania. In einer solchen haben Frances Stephens gewohnt und Elise Oberlin gearbeitet.
Suite der Ersten Klasse auf der Lusitania. In einer solchen haben Frances Stephens gewohnt und Elise Oberlin gearbeitet. Wikimedia

Erster Weltkrieg und der Untergang der Lusitania

Grossbritannien erklärte Deutschland und seinen Verbündeten am 4. August 1914 den Krieg. Die Cunard Line betrieb die Route der Lusitania zwischen Liverpool und New York City nach Ausbruch des Krieges monatlich als «öffentliche Dienstleistung». Als Vergeltung für die britische Seeblockade gegen Deutschland erklärten die Deutschen im Februar 1915 die an die britischen Inseln angrenzenden Gewässer zum «Kriegsgebiet». In der Folgezeit nahm Deutschlands neue tödliche Waffe, die Unterseeboote, die britische Schifffahrt mit zunehmenden Erfolg ins Visier – sehr zum Leidwesen der britischen Regierung. Die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder, die 1914 und 1915 auf der Lusitania fuhren, schlossen jedoch die Möglichkeit aus, dass die Lusitania von den Deutschen angegriffen werden könnte. Sie war einfach zu schnell, um von einem U-Boot erfasst zu werden, und die Deutschen würden es nicht wagen, ein Schiff mit so vielen Unschuldigen an Bord zu versenken. Dennoch transportierte die Lusitania regelmässig Handfeuerwaffen, Munition und Aluminiumpulver, das Grossbritannien für seine Kriegsanstrengungen von den Vereinigten Staaten erwarb. Diese Tatsache war den Passagieren und der Besatzung nicht bekannt, wohl aber – dank Spionage – der deutschen Regierung.
Die Lusitania erreicht den Hafen von New York. Foto vom September 1907.
Die Lusitania erreicht den Hafen von New York. Foto vom September 1907. Library of Congress
Am 1. Mai 1915 bestiegen die Passagiere in New York die Lusitania zu ihrer 202. Überfahrt. Am selben Tag erschien in den New Yorker Zeitungen eine offizielle Warnung der deutschen Botschaft vor den Gefahren, die die Passagiere auf britischen Schiffen erwarteten. Viele Passagiere bekamen sie nie zu Gesicht, andere ignorierten sie völlig. Mit 1266 Passagieren und 696 Besatzungsmitgliedern an Bord sollte dies die meistbelebte Überfahrt seit Kriegsbeginn, zehn Monate zuvor, werden. Die meisten Passagiere an Bord der Lusitania waren Briten oder Bürger des Britischen Empire (1596), US-Bürger (159) und Bürger des Russischen Kaiserreichs (70). Adolf und Frederick waren dankbar, dass sie trotz des Krieges ihre Arbeit behalten hatten, und wollten unbedingt nach Liverpool zurückkehren. Die Einkünfte aus ihrer Arbeit waren trotz der Gefahren, denen sie auf See ausgesetzt waren, für den Unterhalt ihrer Familien in der Kriegswirtschaft von grösster Bedeutung. Elise ging an Bord der Lusitania, um ihre Dienstherrin in der ersten Klasse auf einer privaten Familienreise nach England zu begleiten. Dies sollte ihr erster längerer Aufenthalt in Grossbritannien sein, und sie war begeistert. Bevor sie in See stach, schickte Elise ihrer Familie eine Karte, in der sie mitteilte, dass sie in den Vereinigten Staaten sei, aber mit der Lusitania nach Europa zurückkehre und sich melden werde.
Warnung der deutschen Botschaft in den USA in den New Yorker Zeitungen.
Warnung der deutschen Botschaft in den USA in den New Yorker Zeitungen. Die Reisenden werden darauf hingewiesen, dass sich Deutschland im Krieg mit Grossbritannien befindet und dass Schiffe unter britischer Flagge zerstört werden könnten. Wikimedia
Karte des von Deutschland deklarierten «Kriegsgebiets» um die britischen Inseln. Am rot markierten Ort sank die Lusitania am 7. Mai 1915.
Karte des von Deutschland deklarierten «Kriegsgebiets» um die britischen Inseln. Am rot markierten Ort sank die Lusitania am 7. Mai 1915. Wikimedia
Die Lusitania verlässt den Hafen von New York.
Die Lusitania verlässt den Hafen von New York. National Archives
Die Lusitania verliess den Hafen von New York und nahm Kurs auf Liverpool. Die Reise über den Atlantik verlief ereignislos – die Passagiere genossen die Annehmlichkeiten des Schiffes und vertrieben sich die Zeit. Am Abend des 6. Mai 1915 erreichte die Lusitania das «Kriegsgebiet». Der Morgen des 7. Mai 1915 begann damit, dass die Lusitania in dichten Nebel geriet. Kapitän William Turner, ein erfahrener Seemann mit über 32 Dienstjahren bei der Cunard Line, musste das Schiff abbremsen, um seine genaue Position zu bestimmen. Die britische Admiralität hatte ihn über U-Boote informiert, die vor der irischen Küste lauerten, aber er kannte ihre genaue Position nicht. Um 11 Uhr lichtete sich der Nebel und die Passagiere wurden mit strahlendem Sonnenschein und einem atemberaubenden Blick auf die irische Küste belohnt. Viele an Bord, insbesondere die irischen Passagiere der Lusitania, werteten dies als ein gutes Zeichen. Gegen 13.20 Uhr erblickte Kapitänleutnant Walther Schwieger, der Kommandant des deutschen U 20, vom Kommandoturm seines U-Boots aus die Lusitania in der Ferne. Schwieger war sich nicht sicher, ob er das Schiff ins Visier nehmen konnte, aber er befahl seiner Besatzung, abzutauchen und den Weg der Lusitania durch sein Periskop zu verfolgen. Genau zur gleichen Zeit befahl Turner, dass die Lusitania landeinwärts schwenken sollte, in Richtung Old Head of Kinsale und somit direkt in den Weg von U 20. Schwieger konnte sein Glück nicht fassen – die Lusitania bewegte sich direkt auf sein U-Boot zu. Als die Lusitania nur noch 365 m entfernt war, befahl er, einen einzigen Torpedo abzufeuern, der das Schiff um 14.10 Uhr auf der Steuerbordseite, direkt unter der Kapitänsbrücke, traf. Es dauerte nur 18 Minuten, bis die Lusitania unter die Wellen der Keltischen See glitt.
Das deutsche U-Boot U 20 (vordere Reihe, zweites von links) im Hafen.
Das deutsche U-Boot U 20 (vordere Reihe, zweites von links) im Hafen. Library of Congress
William Turner, Kapitän der Lusitania.
William Turner, Kapitän der Lusitania. Wikimedia
Zwei Explosionen erschütterten das Schiff in rascher Folge, wobei die zweite katastrophal war. Die Lusitania kippte um 15 Grad nach Steuerbord, als Wasser mit einer Geschwindigkeit von 100 Tonnen pro Sekunde in die Aufbauten strömte. Bei der zweiten Explosion wurden die Dampfleitungen des Schiffes beschädigt, so dass die Lusitania nicht mehr steuerbar war, obwohl Turner vergeblich versuchte, das Schiff zu stranden. Wahrscheinlich war Elise nach dem Mittagessen mit dem Packen in ihrer Kabine auf dem D-Deck beschäftigt – die Lusitania sollte am nächsten Morgen früh in Liverpool eintreffen – und Adolf arbeitete in der Küche, als der Torpedo einschlug. Um 14.14 Uhr fiel die zentrale Stromversorgung der Lusitania aus, und das Schiff wurde in völlige Dunkelheit getaucht. Es ist grauenhaft, sich die letzten Momente der Menschen in den unteren Decks vorzustellen. Die ohrenbetäubenden Schreie derjenigen, die versuchten, aus den dunklen Kabinen und Gängen zu entkommen, und die verzweifelten Hilferufe derjenigen, die in den elektrischen Aufzügen der Lusitania gefangen waren, sollten die Überlebenden für den Rest ihres Lebens verfolgen.
Illustration des Torpedo-Einschlags, kurz nach dem Treffer war die Lusitania in der Keltischen See versunken.
Illustration des Torpedo-Einschlags, kurz nach dem Treffer war die Lusitania in der Keltischen See versunken. Library of Congress
Frederick hatte mehr Glück. Er war gerade dabei, seine Mittagsschicht zu beenden und hatte Zugang zum Bootsdeck. Man weiss, dass er das ihm zugewiesene Rettungsboot Nr. 4 an der Backbordseite des Schiffes aufsuchte. Die Lusitania verfügte nicht über ein Lautsprechersystem, und so wurden geschriene Anweisungen entweder missverstanden oder widersprachen sich. Es kam zu Panik und Chaos, da die Passagiere und die Besatzung sich selbst überlassen waren, was tödliche Folgen hatte. Die starke Schlagseite der Lusitania machte es fast unmöglich, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen, da sie auf der Steuerbordseite ausser Reichweite und auf der Backbordseite zu weit nach innen geschwenkt waren. Frederick wurde wahrscheinlich Zeuge, wie das Rettungsboot Nr. 4 gegen das Deck krachte und Dutzende von Menschen tötete. Von den 48 Rettungsbooten der Lusitania wurden nur sechs erfolgreich herabgelassen – alle von der Steuerbordseite aus. Aus Angst, in ein Rettungsboot zu steigen, stürzte Frederick in das kalte, tückische Wasser, als die Lusitania mit voller Wucht in die Tiefe stürzte. Es gelang ihm, einen Liegestuhl zu finden, an den er sich stundenlang in dem elf Grad warmen Wasser klammerte, bis ein Fischtrawler ihn rettete und nach Cobh, Irland, brachte.
Überlebende des Unglücks.
Überlebende des Unglücks. National Archives
Die Leiche eines Opfers des Untergangs wird von einem Schiff geladen, 24. Mai 1915.
Die Leiche eines Opfers des Untergangs wird von einem Schiff geladen, 24. Mai 1915. Library of Congress

Lehren aus dem Untergang der Lusitania

Die Nachricht vom Untergang der Lusitania machte am nächsten Morgen weltweit Schlagzeilen, als besorgte Angehörige auf Nachricht von ihren Lieben warteten. Adolfs Witwe Johanna erhielt die schreckliche Nachricht, dass ihr Mann nur wenige Tage nach der Katastrophe gestorben war. Sie zog später nach Basel, wo sie bis zu ihrem Tod 1967 lebte. Adolfs Name steht auf einem Ehrenplatz unter den 36’000 Kriegstoten am Tower Hill Memorial in London. Der Bote der Urschweiz berichtete in der Ausgabe vom 12. Mai als erster, dass Elise auf der Lusitania gewesen sein könnte. Der March Anzeiger bestätigte Elises Tod zehn Tage später. Elises Brief aus den Vereinigten Staaten erreichte ihre erschütterte Familie in Lachen bald danach. Elises Überreste wurden – wie die von Adolf und 800 anderen Passagieren – weder gefunden noch identifiziert. Frederick war einer von nur 763 Überlebenden. Er reiste nach dem Untergang nach Liverpool und fand dort seine überglückliche Familie wieder. Später unterstützte Frederick die Familien der Opfer, indem er ihnen in den Jahren nach der Katastrophe seine Erinnerungen an ihre verlorenen Angehörigen mitteilte. Frederick blieb der Cunard Line für den Rest seines Lebens treu und diente in den 1920er- und 1930er-Jahren in verschiedenen Funktionen an Bord der Aquitania, der Carmania und der Scythia. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging er in den Ruhestand und starb 1967 im Alter von 83 Jahren in Liverpool.
Opfer und Überlebende der Lusitania in einem Zeitungsartikel des Le Miroir vom 23 Mai, 1915.
Opfer und Überlebende der Lusitania in einem Zeitungsartikel des Le Miroir vom 23 Mai, 1915. Wikimedia
Viel zu oft wird die Lusitania auf eine düstere Geschichte verschwörerischer Intrigen oder auf eine juristische Übung reduziert, bei der die Schuld an ihrem Untergang Grossbritannien, den Vereinigten Staaten oder Deutschland zugeschrieben wird. Während die Lusitania-Katastrophe immer noch zu sachdienlichen Diskussionen über die Rolle der Neutralität, die Schuld am Handel mit Munition und die Definition von Kriegsverbrechen anregen sollte, werden ihre reichen menschlichen Geschichten leider oft ignoriert. Der Untergang der Lusitania markiert das Ende der Edwardischen Epoche – und damit auch den Beginn einer neuen Ära, in der Kriege immer tödlicher wurden. Die Erlebnisse von Adolf, Frederick und Elise unterstreichen die grossen gesellschaftlichen Veränderungen im Westen, die durch die zweite Welle der industriellen Revolution, die Sozialreformen und den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurden. Ihr Leben verweist uns zudem auf die faszinierende Geschichte der Schweizer Teilhabe an der spätviktorianischen und edwardianischen britischen Gesellschaft – eine Geschichte, die erforscht und untersucht werden sollte. Auf der anderen Seite werfen sie Licht auf viele andere Schweizer Geschichten, die noch erzählt werden müssen: Diejenigen von Schweizer Männern, Frauen und Kindern, die in Konflikten gefangen waren, die sie nicht selbst verursacht hatten und die sich ihrer Kontrolle entzogen.
Die Versenkung der Lusitania wurde von den USA und Grossbritannien für die Rekrutierungspropaganda genutzt. Plakat von 1917.
Die Versenkung der Lusitania wurde von den USA und Grossbritannien für die Rekrutierungspropaganda genutzt. Plakat von 1917. Library of Congress

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