In den Internierungslagern der Schweiz entstand Ende November 1944 eine Zeitung von Flüchtlingen für Flüchtlinge.
In den Internierungslagern der Schweiz entstand Ende November 1944 eine Zeitung von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Schweizerisches Nationalmuseum

Eine Zeitung von Flücht­lin­gen für Flüchtlinge

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erschien in der Schweiz eine Zeitung, die nicht öffentlich verbreitet werden durfte und dennoch im ganzen Land kursierte. Sie wurde in den Internierungslagern der Emigranten geschrieben.

Gabriel Heim

Gabriel Heim

Gabriel Heim ist Buch- und Filmautor sowie Ausstellungsmacher. Er befasst sich vor allem mit Recherchen zu Themen der Neueren Zeitgeschichte und lebt in Basel.

Eine kleine Zeitungsnotiz in der Weltwoche weist, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine Publikation hin, deren öffentliche Verbreitung verboten war: «Über die Grenzen nennt sich eine Flüchtlingszeitschrift, die heute bei der fünften Nummer angelangt ist und dereinst bibliophilen Wert erlangen könnte. Sie behandelt mit viel Takt und Klugheit die Fragen des Emigrantendaseins, sammelt kurze Aufsätze und Gedichte, Briefe und Berichte, enthält Zeichnungen und ausgezeichnete Karikaturen.» Über die Grenzen war eine Zeitung von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Das Blatt der Emigranten hing nirgends aus, war an keinem Kiosk erhältlich und dennoch im ganzen Land verbreitet. «Wir durften bis jetzt denken, was wir schreiben wollten; nun wollen wir schreiben, was wir denken», gibt ein – im Internierungslager Wallisellen arbeitender – Redaktor im November 1944 der ersten Ausgabe zum Geleit. Die Autorinnen und Autoren des Blattes waren über die ganze Schweiz verstreut, denn das System der Arbeits- und Internierungslager hatte die über 40’000 geduldeten, meist staatenlosen Flüchtlinge in alle Regionen und Täler des Landes verteilt.
Karikatur zur Beziehung zwischen der Schweiz und den Flüchtlingen, 1945.
Karikatur zur Beziehung zwischen der Schweiz und den Flüchtlingen, 1945. Nachdruck der Originalausgabe, Ascona 1988
Schon in der ersten Ausgabe zeugen Einsendungen aus dem Flüchtlingsheim Lindenhof in Churwalden (GR), dem Arbeitslager Möhlin (AG), dem Arbeitslager Zweidlen-Weiach (ZH) oder dem Schul- und Arbeitslager Davesco (TI) von der organisierten Zerstreuung der Heimatlosen. Die behördlichen Massnahmen zur Isolierung und Abschottung, denen auch der überlebenswichtige geistige Austausch der vertriebenen oder geflüchteten Menschen zum Opfer fallen musste, blieben zwar über das Kriegsende hinaus in Kraft – nun  jedoch mit mehr Spielraum für die Belange der Internierten. So konnte das Bedürfnis, sich nach den stummen Jahren mit einer Zeitschrift einen geistigen Ausdruck zu verschaffen, Gestalt annehmen. Oder wie es die ersten Sätze auf der Titelseite der ersten Ausgabe formulierten: «Es dämmert, Schatten der Nacht weichen. Wege werden sichtbar.»

Spätere Kultur­pro­mi­nenz der DDR

Treibende und schreibende Kräfte waren Stephan Hermlin, später ein einflussreicher DDR-Autor und enger Vertrauter Erich Honeckers, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der ebenfalls in die DDR gegangen war, sich aber 1963 in den Westen absetzte und der Dramatiker Michael Tschesno-Hell, der in Ostberlin zu höchsten Ehren gelangt ist. Sie alle hatten dem antifaschistischen Widerstand angehört und sich auf  unterschiedlichen Wegen in die Schweiz gerettet, wo sie interniert wurden. Ein weiterer prägender Mitarbeiter war der Zeichner Werner Saul, der mit seinen stets hintergründigen Karikaturen so manchen Nagel auf den Kopf traf.
DDR-Kulturschaffende bei einem Besuch in der UdSSR, 1948. Mit dabei. Michael Tschesno-Hell (Dritter von links) und Stephan Hermlin (ganz rechts).
DDR-Kulturschaffende bei einem Besuch in der UdSSR, 1948. Mit dabei. Michael Tschesno-Hell (Dritter von links) und Stephan Hermlin (ganz rechts). Wikimedia
Die Zeitung zu machen war ein schwieriges Unterfangen. Die Mitglieder der Redaktion sassen in verschiedenen Lagern fest. «Ich erhielt mit Zustimmung der Behörden ein eigenes Zimmer in einer Baracke des Lagers Wallisellen», berichtet der Abschlussredaktor Stephan Hermlin. «In diesem Zimmer wohnte ich allein. Es war etwa dreimal drei Meter, enthielt einen Tisch mit Schreibmaschine, einen Stuhl, einen Schrank, einen eisernen Ofen und ein Feldbett. Eine wahre Wohltat!  Monatlich machte ich den Umbruch in der Druckerei im nahegelegenen Affoltern.» Die Finanzierung, der Preis pro Heft belief sich auf 30 Rappen, erfolgte ausschliesslich durch Beiträge der Flüchtlinge. Honorare gab es nicht. Der Vertrieb konnte mit Hilfe der «Zentralleitung der Arbeitslager» organisiert werden und für die Teilnahme an den Redaktionssitzungen musste jedes Mal ein Urlaubsgesuch eingereicht werden. Das vollzog sich nicht problemlos. «Wie unsere Zeitung entsteht», zeigt eine Karikatur in Heft drei. Dennoch schaffte man es bis Ende 1945 insgesamt 14 Ausgaben zu publizieren.
Der Entstehungsprozess der Zeitung, wie ihn Zeichner Werner Saul mit einem Augenzwinkern festhielt.
Der Entstehungsprozess der Zeitung, wie ihn Zeichner Werner Saul mit einem Augenzwinkern festhielt. Nachdruck der Originalausgabe, Ascona 1988
Auch auf der von Entrechtung und Verfolgung verschonten «Insel Schweiz» erhofften sich gegen Kriegsende viele Flüchtlinge Orientierung und Hilfe. Im Zentrum ihres Bangens und Hoffens standen brennende Fragen wie: Wohin? Rück- oder Weiterwanderung? Welche Zukunft steht uns offen? Angesichts der prekären Perspektiven im zerstörten Europa konnte es nicht die Aufgabe der Redaktion sein, eine beschaulich literarische Zeitschrift herauszugeben. Es ging vor allem darum, das Selbstbewusstsein der Heimatlosen zu stärken und ihnen ein Forum im Hinblick auf ihre Zukunft  zu schaffen. Doch Über die Grenzen war trotz der vielen Zuschriften, Rat gebenden Artikeln und kontrovers geführten Diskussionen viel mehr als das. «Es gelang eine politische und literarische Kultur sichtbar zu machen. Den heutigen Lesern ist es ein beeindruckendes Dokument über die Hoffnungen der Menschen am Ende des Krieges und ihrer Bereitschaft, an einer besseren Welt mitzuarbeiten», schreibt der deutsche Exilforscher Werner Mittenzwei in seinem Kommentar zum Faksimile-Neudruck der Zeitung, welcher 1988 erschienen ist.
Das Leben nach dem Krieg wurde von Nummer zu Nummer wichtiger.
Das Leben nach dem Krieg wurde von Nummer zu Nummer wichtiger. Nachdruck der Originalausgabe, Ascona 1988
Im Sommer 1945 wurde der öffentliche Verkauf der Zeitschrift an Schweizer Leserinnen und Leser gestattet. Da hatte sich schon längst herumgesprochen, dass sich das Blatt auch um Aufgaben bemühte, die nicht nur «im Interesse der Flüchtlinge, sondern auch der Schweizer lägen», wie die NZZ am 5. März 1945 betonte. Auch inhaltlich und redaktionell öffnete sich das Blatt. Der Schweizer Maler und Grafiker Hans Erni stiftete mehrfach Zeichnungen zum Abdruck. Der am Zürcher Schauspielhaus engagierte Wolfgang Langhoff blickte auf «Zehn Jahre Exil» zurück und im September 1945 macht das grosse Titelbild von Schauspielerin Therese Giehse auf Leopold Lindtbergs Flüchtlingsdrama Die letzte Chance aufmerksam. Die Fülle guter Autoren machte zudem eine hochkarätige Schriftenreihe zu aktuellen Fragen der Zeit möglich. Über die Grenzen wurde nun auch über der Grenze gelesen.
Therese Giehse auf dem Cover der Zeitung vom September 1945.
Therese Giehse auf dem Cover der Zeitung vom September 1945. Nachdruck der Originalausgabe, Ascona 1988
Titelbild der Zeitung «Über die Grenzen» von Hans Erni, Oktober 1945.
Titelbild der Zeitung Über die Grenzen von Hans Erni, Oktober 1945. Nachdruck der Originalausgabe, Ascona 1988
In der Abschiedsnummer, zu Weihnachten 1945 legte die Redaktion ein letztes Mal «Rechenschaft» ab: Über die Grenzen – von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Dieser Untertitel war schon bald überholt. Schweizer Freunde boten ihre Mitarbeit an und die Zeitung drang über den Kreis der Flüchtlinge hinaus. Heute verabschieden wir uns von alten und neuen Freunden. Das geistige Band bleibt bestehen und auch die Überzeugung, dass es nicht nur eine Frage ist, die Flüchtlinge angeht, ob Menschen wegen ihrer Abstammung, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung verfolgt werden.

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