Im Namen der Gerechtigkeit: Ein Schiedsrichter soll die Einhaltung der Regeln kontrollieren. Illustration von Marco Heer.
Im Namen der Gerechtigkeit: Ein Schiedsrichter soll die Einhaltung der Regeln kontrollieren. Illustration von Marco Heer.    

Unpartei­isch? Die Figur des Schieds­rich­ters im Wandel 

Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter gelten vordergründig als neutrale Figuren. Gleichsam sind sie umstritten. Ein Blick zurück zeigt die Herkunft des Schiedsrichterwesens und die Funktionen dieser Vorstellung im Recht und im Sport auf.

Michael Jucker

Michael Jucker

Michael Jucker ist Sporthistoriker, Leiter von Swiss Sports History und Co-Leiter des FCZ-Museums.

Wenn heutzutage im Fussball Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter ausgepfiffen, beschimpft und als parteiisch betitelt werden, so wird ihre Funktion als neutrale Figur gänzlich in Frage gestellt. Denn die Neutralität ist Voraussetzung für das Funktionieren eines Spiels oder Wettkampfes. Bestechungsskandale, Fehlentscheide und Vorwürfe der Käuflichkeit begleiten die modernen Sportarten jedoch seit Beginn. Bilder von in die Kabinen fliehenden Schiedsrichtern, die von Spielern oder vom Publikum angegangen werden, kennt man in der Schweiz aus den 1990ern. Sie sind zumindest in den oberen Ligen seltener geworden.
Der Abpfiff bei Sion - Wettingen: Schiedsrichter Bruno Klötzli wurde von den Wettinger angegriffen und verfolgt. SRF Schweizer Radio und Fernsehen
Die Geschichte der neutralen Figur und des unparteiischen Kampf- und Schiedsrichterwesens reicht allerdings bedeutend weiter zurück. Dahinter steht die Idee, dass eine neutrale Person das Spielgeschehen oder einen Wettkampf und die Einhaltung der Regeln kontrolliert. Die Figur des Schiedsrichters kommt ursprünglich jedoch nicht aus dem Sport, sondern aus dem Gerichtsverfahren. Der Schiedsrichter war eine neutrale Person, die in Schiedsverfahren versuchte, die gegnerischen Parteien zu einem Konsens zu bringen und eine einvernehmliche Lösung anzustreben. Gerade in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft war das Schiedsverfahren ein üblicher Rechtsvorgang, sowohl unter den Orten als auch unter Einzelpersonen. Meist waren es hochangesehene, adelige Männer, welche die Funktion des Schiedsrichters ausfüllten: Landvögte, Landammänner, bisweilen auch Räte, Stadtschreiber und Bürgermeister. Aber auch Königinnen und Könige fungierten als Schiedsrichter. Das biblische salomonische Urteil war Vorbild.
Das salomonische Urteil ist eine biblische Erzählung in der König Salomo als Richter agiert.
Das salomonische Urteil ist eine biblische Erzählung mit König Salomo als Richter: Zwei Frauen streiten sich um ein Kind. Salomo schlägt vor, das Kind zu teilen, woraufhin die wahre Mutter ihre Ansprüche aufgibt, um das Kind zu retten. So erkennt Salomo ihre Liebe und gibt ihr das Kind. Wikimedia
Die fehlende Gewaltentrennung war vordergründig kein Problem, denn das Ziel war sowohl Einigkeit bei der Wahl des Schiedsrichters und beim Kompromissverfahren als auch allgemeine Zufriedenheit mit dem Ausgang. Häufig war dieser Lösungsweg langwierig und umständlich, denn die Verfahrensteilnehmenden konnten die Figur des Schiedsrichters anzweifeln oder durch Verweigerung das Verfahren in die Länge ziehen. Dennoch konnten zahlreiche Konflikte dadurch befriedet werden. Die Figur des neutralen Schiedsrichters und des Schiedsgerichts verschwand mehrheitlich durch das Aufkommen des römischen Rechts und den entsprechenden auf Indizien und Rechtsgrundsätzen basierenden Verfahren. Eine Renaissance erlebte das Schiedsrichterwesen im Völkerbund 1920, als die Nationen kompromissorientierte Konfliktlösungen anstrebten. Bis heute kennt man Schiedsgerichte jedoch im Handelsrecht, bei internationalen Konflikten und als oberste Instanz im Sportschiedsgericht (CAS) in Lausanne.
«It is a bad rule that don't work both ways». Karikatur zum Alabama-Schiedsgericht von Thomas Nast auf der Titelseite des New Yorker Harper's Weekly, Journal of Civilization, 27. Juli 1872.
«It is a bad rule that don't work both ways». Karikatur zum Alabama-Schiedsgericht von Thomas Nast auf der Titelseite des New Yorker Harper's Weekly, Journal of Civilization, 27. Juli 1872. Internet Archive

Von Gladia­to­ren­kämp­fen bis zur Regelüberwachung

Im sportlichen Wettkampf ist die neutrale Schiedsrichterfigur zentral. Bereits bei den römischen Gladiatorenkämpfen kannte man Kampfrichter. Meist leiteten sie den Kampf zu zweit, bestimmten, wann Pausen zur Erholung nötig waren, und achteten auf das Einhalten der Regeln. Allerdings hatten das Publikum und der Kaiser das letzte Wort über Sieg und Niederlage – von einer neutralen Entscheidung kann also nicht ausgegangen werden.  
Gladiatoren aus dem Zliten-Mosaik, Libyen, ca. 200 n. Chr.
Gladiatoren aus dem Zliten-Mosaik, Libyen, ca. 200 n. Chr. Wikimedia
Auch im sportlichen Mittelalter kannte man das Schiedsrichterwesen: Die Aufgabe von Kampfrichtern war beispielsweise, die Abläufe der Kämpfe und die Einhaltung von Regeln an Ritterturnieren zu kontrollieren. Bisweilen galt es hier auch, Tote und Schwerverletzte zu verhindern. Dies vor allem angesichts der Tatsache, dass die Kirche solche Kämpfe verbieten und ein christliches Begräbnis ablehnen konnte. Bei Ritterturnieren oblag die Regeldurchsetzung meist einem Herold. Bei grösseren Turnieren und Kämpfen waren mehrere Turnierrichter anwesend. Sie bändigten die teils gewaltsamen und durchaus gefährlichen Kämpfe. Besonders gut dokumentiert ist ein Turnier mit rund 200 Kämpfern von 1436 in Schaffhausen. Eine Reiseerzählung eines kastilischen Diplomaten erzählt: «20. Februar 1436: [...] am Montag, wurden nach dem Mittagsmahl alle Helme in jenen Saal gebracht, und die ganze Gesellschaft begab sich dann zur Probe nach dem Kampfplatze. Die grossen Herren kamen mit ihren Vasallen und wer über keine solchen gebot, kam allein oder mit zwei oder drei andern Edelleuten. Vom Turnierplatze begab sich von den Damen, wer Lust hatte, in den Saal, um die Helme zu betrachten. Und da bezeichnete eine jede den Helm des Ritters, über den sie Klage zu führen hatte.»
Am Tag vor Turnieren werden die Helmziere ausgestellt. Zahlreiche Damen wohnen der Helmschau bei. Von einem, der nicht Turniergenosse ist, verlangt man die Entfernung des Helms. Miniatur im Wappenbuch Conrads von Grünenberg, um 1480.
Am Tag vor Turnieren werden die Helmziere ausgestellt. Zahlreiche Damen wohnen der Helmschau bei. Von einem, der nicht Turniergenosse ist, verlangt man die Entfernung des Helms. Miniatur im Wappenbuch Conrads von Grünenberg, um 1480. Bayerische Staatsbibliothek
Das Schiedsrichterwesen im Mittelalter ist gar in den deutschen Sprachschatz übergegangen: Ritter, die sich unritterlich verhielten, wurden vom Schiedsrichter gebüsst oder bisweilen geradezu «in die Schranken verwiesen», also mit Turnierausschluss bestraft. Das Turnier selbst wurde gleichsam als eine Art Schiedsgericht betrachtet: Militärische Konflikte und insbesondere Fehden wurden an Ritterturnieren quasi symbolisch ausgefochten. Der standesinterne Kampf mit festgelegten Regeln sollte grössere Konflikte vermeiden, sublimieren oder gar befrieden. Quellen, dass Schiedsrichter als parteiisch oder bestechlich galten und deshalb angezweifelt wurden, sind aus dem Mittelalter kaum bekannt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Formen der Beeinflussung gab. Aber im kompromissorischen Verfahren wurden Zweifel am Schiedsrichter nicht verschriftet. Dennoch sind die Schiedsrichterbeeinflussung, das Hinterfragen der Neutralität und die Bestechung keine modernen Phänomene. Im griechischen und römischen Wettkampf gab durchaus solche Fälle und es waren Bestrafungen der Fehlleistungen vorgesehen. Insofern kann trotz der schlechten Forschungs- und Quellenlage davon ausgegangen werden, dass mittelalterliche Schiedsrichter «auch nur Menschen» waren und es durchaus denkbar ist, dass sie teilweise beeinflusst wurden.

Vom Captain zum Referee: Die Entste­hung des Schieds­rich­ter­we­sens im Fussball

Die Figur des Schiedsrichters entspringt somit dem Gerichtswesen und ist wohl älter als der Sport selbst. Seit der Antike kennt man die Figuren jedoch auch im sportlichen Wettkampf. Mit der zunehmenden Verregelung der Wettkämpfe und des Sportbetriebs wurde dem Schiedsrichterwesen vermehrt Wichtigkeit zugeschrieben. Dies gilt nicht nur für die Domestizierung der ursprünglich eher wild verlaufenden Ritterturniere, sondern lässt sich abschliessend auch am Beispiel des Fussballs aufzeigen: Die ersten Regeln entstanden in England um 1863. Man durfte nur den Ball und nicht auch die Spieler treten; 1866 folgen Eckball-, Freistoss- und Offsideregeln; seit 1871 dürfen nur noch die Goalies den Ball in die Hände nehmen. Die Regelauslegung war Sache der Spieler, die Captains entschieden darüber. Was heute im Kinder- und Freizeitfussball immer noch üblich ist, funktionierte allerdings im Geburtsland des modernen Fussballs nicht lange gut. 1874 wurde dann ein neutraler «referee» eingeführt, der das Spiel leitete, vier Jahre später wurde er mit Trillerpfeife ausgestattet und ab 1889 bekam er zwei Linienrichter zur Unterstützung.
Schiedsrichter Buchmüller beim Münzwurf im Cupfinal 1955: FC La Chaux-de-Fonds gegen FC Thun.
Schiedsrichter Buchmüller beim Münzwurf im Cupfinal 1955: FC La Chaux-de-Fonds gegen FC Thun. Dukas
Im 20. Jahrhundert entwickelte sich das Schiedsrichterwesen im Fussball vor allem auf technischer Seite weiter. Kommunikationsmittel wie Funksysteme, der an Rasierschaum erinnernde Freistossspray und in gewissen Ligen auch die Torlinientechnik unterstützen die Unparteiischen. Wie in vielen Sportarten sind auch im Fussball die Geschlechterunterschiede gross. Als in den ausgehenden 1960er Jahren erste Frauen Fussball spielen wollten, durften sie das in der Schweiz gemäss den Reglementen nicht. Als Entschädigung wurden beispielsweise Madeleine Boll und weiteren Pionierinnen angeboten, eine Schiedsrichterinnenausbildung zu machen und Juniorenspiele pfeifen zu dürfen. Ein billiges Trostpflaster, welches nicht alle annahmen. Erst ab 1970 durften Frauen in einer eigenen Liga kicken, natürlich geleitet von Männern. An der ersten Frauenfussball-WM 1991 setzte die FIFA dann erstmals auch Frauen als Unparteiische ein. Grössere Bekanntheit erreichte dann Nicole Petignat, die erste Schweizerin, welche auch auf höchster Stufe in der Schweiz und in Österreich Spiele der Männer leitete. Am 14. August 2003 war sie die erste Frau, die ein UEFA-Cupspiel der Männer leitete. Sie pfiff an internationalen Frauenturnieren wie beispielsweise an den Weltmeisterschaften von 2003 in den USA und 2007 in China oder an der Frauen-EM 2005 in England. Bis heute sind Frauen im Schiedsrichterwesen jedoch klar in der Minderheit und werden in den Medien kritischer bewertet als Männer.
24.4.2008: BSC Young Boys Bern - FC Luzern 0:1. Die Schiedsrichterin Nicole Petignat (M) mit den Luzern-Spielern Alain Wiss (l.) und Dusan Veskovac (r.)
24.4.2008: BSC Young Boys Bern - FC Luzern 0:1. Die Schiedsrichterin Nicole Petignat (M) mit den Luzern-Spielern Alain Wiss (l.) und Dusan Veskovac (r.) Dukas
In Zeiten von zahlreichen TV-Kameras im Stadion sind Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter unter ständiger Beobachtung und ihre Fehler sind nicht mehr übersehbar, dies zumindest in den grösseren Sportarten. Das war unter anderem ein Grund zur Einführung des durchaus umstrittenen VAR ab 2016, der das Schiedsrichterwesen im Fussball wieder neutraler und nachvollziehbarer machen soll. Ob dies das Publikum vom Pfeifen und Beschimpfen und dem Zweifeln an der neutralen Funktion der Unparteiischen abhält, ist jedoch höchst unwahrscheinlich.

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