
Mussolini und die Schweiz
Als rebellischer Sozialist mischte Benito Mussolini Anfang des 20. Jahrhunderts die Schweiz auf. Einige Jahrzehnte später wurde er als faschistischer Diktator zur Bedrohung für das Land.
Die ersten zwei Wochen in der curiosa repubblica, der seltsamen Republik, wie er die Eidgenossenschaft nennt, wurden zur Enttäuschung. Wenige Tage hielt er als Bauhandlanger bei der Schokoladenfabrik Peter in Orbe durch und schleppte zu einem Stundenlohn von 32 Rappen elf Stunden täglich schwerste Lasten. Dann fuhr er nach Lausanne, wo er nun kurz vor seinem 19. Geburtstag in einer Zelle einsitzt. In seinem Besitz ein Reisepass, eine Studienlizenz und 15 Rappen.

In Bern im Gefängnis
Bereits in Bern, wo er seit Anfang März 1903 lebt und arbeitet, hat er aufrührerische Reden gehalten, was der Polizei nicht verborgen bleibt. Im Juni wird er auf die Wache vorgeladen und nach zehn Tagen Haft nach Italien ausgeschafft. Als Vorwand dienen ungültige Ausweispapiere. Er kehrt zurück und wird auch in Genf, wo er sich an der Universität einschreiben will, verhaftet. Wohlgesinnt ist man ihm in Lausanne. Hier besucht er in seinen letzten Schweizer Monaten Vorlesungen an der Universität, er verschlingt – so seine eigenen Worte – «eine ganze Bibliothek», schreibt Artikel, übersetzt sozialistische Schriften vom Französischen ins Italienische und reist als Redner durch die Schweiz. Längst hat er in italienisch-sozialistischen Kreisen Bekanntheit erlangt. Für Mussolini sind die Monate in Lausanne eine stimulierende Zeit. Er hat Affären und führt ein Bohème-Leben in revolutionären Kreisen.

Der Sozialist wird zum faschistischen Diktator
Mit der Gründung der faschistischen Bewegung nach Kriegsende beginnt Benito Mussolinis Aufstieg zum italienischen Diktator. Il Popolo d’Italia wird bis 1943 sein Parteiblatt, damit bringt er die faschistische Propaganda unters Volk. Seine ehemaligen sozialistischen Genossinnen und Genossen lässt er während der über 20 Jahre dauernden Gewaltherrschaft unversöhnlich verfolgen. Tausende gehen ins Exil, auch in die Schweiz.

Im Sommer 1943, als die Niederlage im Zweiten Weltkrieg absehbar ist, wird der Duce von den eigenen Leuten entmachtet. Deutsche Truppen besetzen den Norden des Landes und installieren Mussolini als Führer der faschistischen Republik RSI am Gardasee. Die offizielle italienische Regierung flüchtet sich nach Süditalien. Zu ihr nimmt die Schweiz diplomatische Beziehungen auf, mit Mussolinis Republik unterhält Bern informelle Beziehungen. Die wirtschaftlichen Interessen in Norditalien wiegen zu schwer, um die Verbindungen ganz abzubrechen. Mit seiner neuen Regierung unterstützt der Duce in seinen letzten zwei Lebensjahren das grausame Vorgehen der Deutschen gegen sein eigenes Volk, bis die Partisanenverbände beim Anrücken der Alliierten im April 1945 die Oberhand gewinnen.

Flucht in Richtung Schweiz
Nach einem improvisierten Tribunal werden Mussolini und Petacci am 28. April erschossen. Bilder ihrer geschändeten Leichen, die am folgenden Morgen auf der Mailänder Piazzale Loreto kopfüber von einer Tankstelle hängen, gehen um die Welt. Diese posthume Demütigung wäre dem Duce, der die mediale Inszenierung zum elementaren Teil seiner Herrschaft gemacht hat, erspart geblieben, hätte er es in die Schweiz geschafft. Er wäre ausgeliefert worden, es wäre zum Prozess gekommen. Doch bis zur Grenze kam er nicht – ein Schicksal, das er mit Unzähligen teilt, die seinen eigenen Schergen zu entkommen versuchten.
