Der faschistische Diktator Benito Mussolini hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Schweiz.
Der faschistische Diktator Benito Mussolini hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Schweiz. Wikimedia

Mussolini und die Schweiz

Als rebellischer Sozialist mischte Benito Mussolini Anfang des 20. Jahrhunderts die Schweiz auf. Einige Jahrzehnte später wurde er als faschistischer Diktator zur Bedrohung für das Land.

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin, Universitätsdozentin und Kuratorin.

Bei seinem Rundgang durch die Stadt entdeckt ein Lausanner Polizist im Juli 1902 im Morgengrauen einen schlafenden Mann in einer Kiste unter dem Grand-Pont. Er weckt ihn unsanft und bringt ihn wegen «Vagabondage» auf die Wache. Der Mann heisst Benito Amilcare Andrea Mussolini und ist zwei Wochen zuvor über Chiasso in die Schweiz eingereist. Er ist ausgebildeter Primarlehrer und Sozialist, seine Eltern haben ihn nach dem mexikanischen Reformer Benito Juárez und den italienischen Sozialisten Amilcare Cipriani und Andrea Costa benannt. Die ersten zwei Wochen in der curiosa repubblica, der seltsamen Republik, wie er die Eidgenossenschaft nennt, wurden zur Enttäuschung. Wenige Tage hielt er als Bauhandlanger bei der Schokoladenfabrik Peter in Orbe durch und schleppte zu einem Stundenlohn von 32 Rappen elf Stunden täglich schwerste Lasten. Dann fuhr er nach Lausanne, wo er nun kurz vor seinem 19. Geburtstag in einer Zelle einsitzt. In seinem Besitz ein Reisepass, eine Studienlizenz und 15 Rappen.
Unter der Grand-Pont in Lausanne nächtigte 1902 ein «Vagabund» namens Benito Mussolini.
Unter der Grand-Pont in Lausanne nächtigte 1902 ein «Vagabund» namens Benito Mussolini. e-pics
Die Geschichte der bitteren Armut des späteren Duce, vom Hunger und der Obdachlosigkeit in der Schweiz, ist oft kolportiert worden, zuallererst von ihm selbst. Nicht sehr lang sei sein Aufenthalt gewesen, schrieb er in «La mia vita», aber schwer – pieno di difficoltà und pieno di momenti duri. Wirklich in Not war er allerdings nur kurz. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis trifft er auf italienische Sozialisten, er tritt dem Sindacato muratori e manovali, der italienischen Maurergewerkschaft, bei und wird Ende August ihr Ortsgruppensekretär. Bald schreibt er Artikel für L’Avvenire del Lavoratore, die in Lausanne erscheinende Zeitung der italienischen Sozialisten. Es ist der Beginn einer erfolgreichen Karriere als Journalist. Und binnen Kurzem wird er zum gefragten Redner. Als er im August seinen ersten Auftritt vor italienischen Bauarbeitern in Montreux hat, leiht er sich anständige Hosen und einen Hut aus. Die Repräsentation ist ihm schon da ebenso wichtig wie der Inhalt.

In Bern im Gefängnis

Um die Jahrhundertwende wird im europäischen Sozialismus heftig gestritten. Reformisten fordern die Beteiligung sozialistischer Politiker an bürgerlichen Regierungen, um soziale Reformen durchzusetzen, der revolutionäre Flügel propagiert den kompromisslosen Klassenkampf. Beim Basler Maurerstreik, der unter führender Beteiligung von italienischen Arbeitern im April 1903 ausbricht, zeigt sich das Dilemma der Reformisten. Die Kantonsregierung, der seit Kurzem erstmals ein Sozialdemokrat angehört, fordert die Unterstützung der Armee gegen die Arbeiterschaft an. Mussolini reist nach Basel und hält Ansprachen vor seinen streikenden Landsleuten. Für ihn ist klar: Nur die Revolution kann zum Sieg des Sozialismus führen, Gewalt sieht er als legitimes Mittel. Bereits in Bern, wo er seit Anfang März 1903 lebt und arbeitet, hat er aufrührerische Reden gehalten, was der Polizei nicht verborgen bleibt. Im Juni wird er auf die Wache vorgeladen und nach zehn Tagen Haft nach Italien ausgeschafft. Als Vorwand dienen ungültige Ausweispapiere. Er kehrt zurück und wird auch in Genf, wo er sich an der Universität einschreiben will, verhaftet. Wohlgesinnt ist man ihm in Lausanne. Hier besucht er in seinen letzten Schweizer Monaten Vorlesungen an der Universität, er verschlingt – so seine eigenen Worte – «eine ganze Bibliothek», schreibt Artikel, übersetzt sozialistische Schriften vom Französischen ins Italienische und reist als Redner durch die Schweiz. Längst hat er in italienisch-sozialistischen Kreisen Bekanntheit erlangt. Für Mussolini sind die Monate in Lausanne eine stimulierende Zeit. Er hat Affären und führt ein Bohème-Leben in revolutionären Kreisen.
Blick in die Akte, welche die Berner Polizei 1903 von Mussolini erstellte. Dabei wandten die Beamten anthropometrische Methoden an, was er als erniedrigend empfand.
Blick in die Akte, welche die Berner Polizei 1903 von Mussolini erstellte. Dabei wandten die Beamten anthropometrische Methoden an, was er als erniedrigend empfand. Wikimedia
Nach 27 Monaten, die er mit kurzen Unterbrüchen im Land verbracht hat, verlässt der spätere Duce des Faschismus im November 1904 die Schweiz. In Italien macht er in der Sozialistischen Partei eine steile Karriere. Rücksichtslos setzt er seine Positionen und die Entmachtung des reformistischen Parteiflügels durch. In die Schweiz, wo Tausende italienische Arbeiter leben, reist er auch in den folgenden Jahren mehrfach für Vorträge. Als der 29-Jährige 1913 am 1. Mai in Zürich auftritt, ist er als Direktor der sozialistischen Parteizeitung Avanti einer der führenden italienischen Sozialisten.

Der Sozialist wird zum faschis­ti­schen Diktator

Im Ersten Weltkrieg kommt es zum Bruch mit der Partei. Der bis dahin unbeugsame Antimilitarist titelt beim Ausbruch im Sommer 1914 zwar Abasso la guerra, nieder mit dem Krieg, und spricht sich für absolute Neutralität aus. Doch bald macht er in der Kriegsfrage eine Kehrtwende. Die Parteispitze bleibt konsequent in ihrer Ablehnung eines Kriegseintritts von Italien und entzieht ihm die Direktion des Avanti. Als Reaktion gründet Mussolini eine eigene Zeitung, Il Popolo d’Italia. Die Bedeutung der Macht durch das geschriebene Wort kennt der eingefleischte Journalist seit Langem. Dieser Schritt besiegelt sein Ende bei den Sozialisten. Im November 1914 wird er nach einer im Tumult endenden Parteiversammlung ausgeschlossen. Mit der Gründung der faschistischen Bewegung nach Kriegsende beginnt Benito Mussolinis Aufstieg zum italienischen Diktator. Il Popolo d’Italia wird bis 1943 sein Parteiblatt, damit bringt er die faschistische Propaganda unters Volk. Seine ehemaligen sozialistischen Genossinnen und Genossen lässt er während der über 20 Jahre dauernden Gewaltherrschaft unversöhnlich verfolgen. Tausende gehen ins Exil, auch in die Schweiz.
Die Zeitung Il Popolo d‘Italia wird bis 1943 zum wichtigsten Propagandainstrument der Faschisten. Gegründet worden war sie 1914 als sozialistische Tageszeitung.
Die Zeitung Il Popolo d‘Italia wird bis 1943 zum wichtigsten Propagandainstrument der Faschisten. Gegründet worden war sie 1914 als sozialistische Tageszeitung. Wikimedia
Während Mussolinis Regierungszeit, die 1922 beginnt, kommt es zu italienischen Provokationen, Grenzverletzungen und Pressekampagnen gegenüber der Schweiz. Dennoch bemüht sich der Bundesrat um gute diplomatische Beziehungen, auch als der faschistische Diktator erbarmungslos gegen innere Gegner vorgeht, einen Giftgaskrieg gegen Äthiopien führt, sich mit Hitler verbündet und Rassengesetze einführt. Die unter konservativen und katholischen Schweizern verbreitete Bewunderung für den Begründer des Faschismus nimmt in den 1930er-Jahren ab. Als der Beschluss der Universität Lausanne bekannt wird, ihrem ehemaligen Studenten 1937 die Ehrendoktorwürde zu verleihen, ist die Empörung gross. Doch weder auf kantonaler noch auf Bundesebene interveniert man. Im Sommer 1943, als die Niederlage im Zweiten Weltkrieg absehbar ist, wird der Duce von den eigenen Leuten entmachtet. Deutsche Truppen besetzen den Norden des Landes und installieren Mussolini als Führer der faschistischen Republik RSI am Gardasee. Die offizielle italienische Regierung flüchtet sich nach Süditalien. Zu ihr nimmt die Schweiz diplomatische Beziehungen auf, mit Mussolinis Republik unterhält Bern informelle Beziehungen. Die wirtschaftlichen Interessen in Norditalien wiegen zu schwer, um die Verbindungen ganz abzubrechen. Mit seiner neuen Regierung unterstützt der Duce in seinen letzten zwei Lebensjahren das grausame Vorgehen der Deutschen gegen sein eigenes Volk, bis die Partisanenverbände beim Anrücken der Alliierten im April 1945 die Oberhand gewinnen.
Benito Mussolini genoss in Teilen der Schweiz Bewunderung, löste aber auch grosse Ängste aus. Insbesondere nach seinem Pakt mit Adolf Hitler. 
Benito Mussolini genoss in Teilen der Schweiz Bewunderung, löste aber auch grosse Ängste aus. Insbesondere nach seinem Pakt mit Adolf Hitler. Wikimedia

Flucht in Richtung Schweiz

Am 25. April, der als «Tag der Befreiung» in die Geschichte eingehen wird, ist Mussolini in Mailand. Sämtliche Hoffnungen auf politisches Asyl im Ausland haben sich zerschlagen. Als Erzbischof Ildefonso Schuster einen letzten Vermittlungsversuch zwischen den Faschisten und dem Nationalen Befreiungskomitee unternimmt, kontrollieren die Aufständischen bereits grosse Teile der Stadt. Mussolini, psychisch und physisch erschöpft, hat nichts mehr zu bieten als die bedingungslose Kapitulation. Doch dazu ist er nicht bereit. Mit seiner Geliebten Clara Petacci und ein paar getreuen Faschisten verlässt er unbemerkt die Stadt und wendet sich in Richtung Schweiz. Da die Strasse nach Como von Partisanen kontrolliert wird, gehen die Fliehenden am Seeufer entlang nach Norden, bis sie bei Menaggio auf deutsche Truppen treffen. Als kommunistische Partisanen den Konvoi stoppen, trägt der italienische Diktator eine deutsche Uniform. Nach einem improvisierten Tribunal werden Mussolini und Petacci am 28. April erschossen. Bilder ihrer geschändeten Leichen, die am folgenden Morgen auf der Mailänder Piazzale Loreto kopfüber von einer Tankstelle hängen, gehen um die Welt. Diese posthume Demütigung wäre dem Duce, der die mediale Inszenierung zum elementaren Teil seiner Herrschaft gemacht hat, erspart geblieben, hätte er es in die Schweiz geschafft. Er wäre ausgeliefert worden, es wäre zum Prozess gekommen. Doch bis zur Grenze kam er nicht – ein Schicksal, das er mit Unzähligen teilt, die seinen eigenen Schergen zu entkommen versuchten.
Benito Mussolini (Dritter von links) wurde neben seiner Geliebten Clara Petacci in Mailand aufgehängt. Eine Demütigung post mortem.
Benito Mussolini (vierter von rechts) wurde nach seiner Erschiessung neben seiner Geliebten Clara Petacci und führenden Faschisten in Mailand aufgehängt. Eine Demütigung post mortem. Schweizerisches Nationalmuseum

Weitere Beiträge