Adieu Heimat: Fünf Benediktinerinnen brachen in die USA auf, um ein Kloster zu gründen. Illustration von Marco Heer.
Adieu Heimat: Fünf Benediktinerinnen brachen in die USA auf, um ein Kloster zu gründen. Illustration von Marco Heer.

«Lebe wohl, schönes liebes Land!»

Am 17. August 1874 verliessen fünf Klosterschwestern das Benediktinerinnenkloster Maria-Rickenbach (NW) und wanderten in den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten aus. Die Schwester Maria Beatrix Renggli (1848-1942) verfasste einen ausführlichen Reisebericht über ihre Emigrationsreise.

Jasmin Gauch

Jasmin Gauch

Jasmin Gauch studiert Geschichte und Sozialanthropologie im Master an der Universität Bern.

Das Benediktinerinnenkloster Maria-Rickenbach befindet sich mitten im Engelbergertal auf rund 1200 Metern über Meer im Wallfahrtsort Niederrickenbach (NW). Dort liessen sich 1857 die ersten Ordensfrauen nieder und gründeten ein Kloster.
Eine Postkarte aus dem Jahr 1911 zeigt das Kloster Maria-Rickenbach.
Eine Postkarte aus dem Jahr 1911 zeigt das Kloster Maria-Rickenbach. e-pics
Das Kloster entstand in einer Periode der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und dem entstehenden liberalen Schweizer Nationalstaat: Durch die sich ausbreitende Säkularisierung verlor die katholische Kirche ihren Einfluss auf die Gesellschaft und das öffentliche Leben. Während dem 19. Jahrhundert versuchte die Kirche daher, zu ihrer früheren Macht zurückzufinden und ihre Autorität wiederherzustellen. Diese als «Kulturkämpfe» bezeichneten Konflikte waren Teil von langfristigen Modernisierungsprozessen, welche nach dem Sonderbundskrieg 1847 langsam abflachten. Rund um die Annahme der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 spitzen sich die Machtkämpfe ein letztes Mal zu. Grund dafür waren ausgebaute anti-katholische Ausnahmeartikel, welche unter anderem die Errichtung und Wiederherstellung von Klöstern verboten.

Schweizer Benedik­ti­ne­rin­nen und Benedik­ti­ner in den USA

Aus Angst vor kulturkämpferisch bedingten Klosteraufhebungen emigrierten Schweizer Ordensmänner und Ordensfrauen in die Vereinigten Staaten, um dort neue Klöster als mögliche Fluchtorte zu gründen. So reisten 1873 die beiden Patres Frowin Conrad (1833-1923) und Adelhelm Odermatt (1844-1920) aus dem Kloster Engelberg in die USA und gründeten im Nordosten von Missouri Benediktinerniederlassungen in Maryville und Conception. Schon bald äusserten sie den Wunsch nach Unterstützung von Ordensschwestern aus Maria-Rickenbach, welche sich um karitative Angelegenheiten, die weibliche Jugend und den Unterricht der deutschsprachigen Kinder kümmern sollten. Das Kloster Maria-Rickenbach kam der Bitte von Conrad und Odermatt mit Freuden nach, insbesondere weil so die Möglichkeit entstand, Tochterklöster in den USA zu eröffnen. Mit der Entsendung der Schwestern wurde Maria-Rickenbach zum ersten katholischen Schweizer Frauenkloster, welches sich auf einem anderen Kontinent betätigte. Insgesamt emigrierten im Zeitraum von 1874 bis 1891 27 Schwestern und rund 50 Kandidatinnen vom Kloster Maria-Rickenbach in die USA. Die Frauen waren im Schulwesen tätig, übernahmen sozial-karitative Aufgaben für die katholische Kirche oder beteiligten sich an der Mission an indigenen Menschen.

Kandida­tur in der benedik­t­i­ni­schen Gemeinschaft

Die Kandidatur ist die erste Phase des Klostereintritts und dauert ein Jahr. Danach können die Kandidatinnen oder Kandidaten ins Noviziat eintreten und werden im Ordensgewand eingekleidet. Am Ende des einjährigen Noviziats steht die Profess, das Ordensgelübde.
Mit Hilfe der Benediktinerinnen sollte der christliche Glaube in den USA weiterverbreitet und gestärkt sowie der katholischen Kirche zu erneutem Wachstum verholfen werden. Die Hoffnung auf einen grösseren Einfluss der katholischen Kirche führte dazu, dass sich die katholische Mission im 19. Jahrhundert zu einem Massenphänomen entwickelte. Viele Missionierende sahen ihre Aufgabe nicht nur in der Verbreitung des christlichen Glaubens – sie fühlten sich aufgrund entwicklungstheoretischer Vorstellungen und dem europäischen Überlegenheitsanspruch zur «Zivilisierung» indigener Menschen berufen. Der Versuch, die indigene Bevölkerung in die europäische und christliche Kultur einzugliedern, mündete oftmals in der Zerstörung derer Identität, Kultur und Spiritualität.

Von Nieder­ri­cken­bach nach Maryville

Am 17. August 1874 verliessen die Ordensschwestern Beatrix Renggli (1848-1942), Anselma Felber (1843-1883), Agnes Dalie (1839-1915), Adela Eugster (1848-1929) und Augustina Kündig (1851-1879) das Kloster Maria-Rickenbach. Renggli erzählte in ihrem Reisebericht eindrücklich vom Verlassen der Heimat und dem Aufbruch in die ihr noch unbekannten USA. Dieser wurde im Jahr nach ihrer Auswanderung als Separatdruck und fortlaufend in der Zeitung Nidwaldner Volksblatt publiziert.
Das Titelblatt von Beatrix Rengglis Reisebericht.
Das Titelblatt von Beatrix Rengglis Reisebericht. Staatsarchiv Nidwalden
Nach dem Abschied von Niederrickenbach reisten die Benediktinerinnen per Pferdefuhrwerk nach Luzern. Dort bestieg die Reisegruppe, der sich in der Zwischenzeit weitere Auswanderer angeschlossen hatten, den Zug und reiste über Basel nach Paris und schliesslich nach Le Havre. Renggli beschrieb in ihrem Bericht die Natur und die Gruppendynamik dieser ersten Etappe, aber auch diverse Sehenswürdigkeiten, wie beispielsweise den Louvre, den Arc de Triomphe und einige sakrale Bauten, die sie während dem kurzen Zwischenstopp in Paris besichtigen konnten.
Emigrantinnen und Emigranten in einem Zug der Compagnie Generale Transatlantique, der sie zum Hafen von Le Havre bringt. Stich von 1883.
Emigrantinnen und Emigranten in einem Zug der Compagnie Generale Transatlantique, der sie zum Hafen von Le Havre bringt. Stich von 1883. Britannica Imagequest, Lebrecht Music & Arts
Nur wenige Tage später bestieg die Reisegruppe am 21. August 1874 in Le Havre das Dampfschiff Oder der Schifffahrtslinie Norddeutsche Lloyd. Renggli schilderte wirkungsvoll das bunte Treiben auf Deck und die vielen Abschiedsszenen voller Wehmut und Trauer, aber auch voller Heiterkeit und Frohsinn. Der Abschiedsschmerz fiel bei ihr selbst nur klein aus, da der Abschied von Heimat und Vertrautem bereits einige Tage zuvor stattfand.

In Basel […] nahmen wir sodann Abschied von unserem theuren Vaterlan­de – vom Lande der Alpen, dem Lande, so reich an heiligen Stätten, an welchen unerschöpf­li­che heilige Gnaden­strö­me entsprin­gen! Lebe wohl, schönes liebes Land! Lebe wohl, du, unsere Heimath! Lebet wohl, Mutter und Geschwis­ter! Gottes Schutz walte über dem Lande, das wir kaum mehr sehen und über all‘ den Lieben, von denen wir fortan wohl für immer getrennt sein werden!

Auszug aus Beatrix Rengglis Reisebericht
In einem Grossteil ihres Reiseberichts befasste sich Beatrix Renggli mit der Atlantiküberfahrt. Dabei gab sie Einblicke in das Leben auf hoher See und hob insbesondere die Annehmlichkeiten hervor, welche sie als Reisende der II. Passagierklasse genoss. Gleichzeitig verwies sie humorvoll auf den äusserst schlechten Kaffee und bezeichnete diesen gar als «Magentyrannei». Neben dem ausführlichen Beschrieb der Oder wusste sie auch über die Herausforderungen und Gefahren der Atlantikpassage zu berichten: So litten viele Passagiere, unter anderem auch alle Klosterschwestern, an der Seekrankheit. Das stürmische Wetter verstärkte dies, Renggli schrieb über riesige Wellenberge und peinigende Kälte. Die Schweizer Reisegruppe fürchtete sich von einem möglichen Untergang und fühlte sich dem Atlantik ausgeliefert. Neben der Seekrankheit berichtete Renggli auch von weiteren aussergewöhnlichen Erlebnissen auf hoher See, wie beispielsweise von einem in Not geratenem Frachtschiff. Das Segelschiff war aufgrund eines Sturms in Schwierigkeiten geraten und die Besatzung der Oder eilte zu Hilfe.
Die Oder war zwei Jahre im Atlantikdienst, anschliessend diente das Schiff als erster deutscher Reichspostdampfer. 1887 lief sie bei der Rückreise aus Shanghai auf ein Riff. Bei der Erkundung der Lage kamen vier Besatzungsmitglieder ums Leben. Die verbliebenen 111 Besatzungsmitglieder und 61 Passagiere konnten gerettet werden. Wikimedia
Ungeschönt erzählte Renggli zudem vom Tod eines Heizers, welcher aufgrund einer Erkältung verstarb und sodann ohne Bestattung über Bord geworfen wurde. Darüber zeigte sie sich als tiefgläubige und fromme Klosterschwester äusserst schockiert. Trotz diesen Herausforderungen fern jedes Klosteralltages zeichnete Renggli in ihrem Reisebericht ein äusserst positives Bild der Atlantikpassage. Dies zeigte sich einerseits in ihrem Beschrieb der Vorzüge an Bord, andererseits in ihren Ausführungen über den Zeitvertreib der Passagiere, als ab dem 29. August 1874 endlich gute Witterung herrschte. Die Schiffsreisenden gesellten sich in Scharen auf das offene Deck, vertrieben sich mit heiteren Spielen und fröhlichem Geplauder die Zeit, genossen die Weite und Schönheit des tiefblauen Meeres sowie dessen tierischer Vielfalt. Mit ihrer positiven Berichterstattung versuchte sie wohl auch, den zurückgebliebenen Frauen von Maria-Rickenbach die Überfahrt und die Auswanderung schmackhaft zu machen. Um einiges negativer fiel ihr Bericht über die Weltstadt New York aus: Am 31. August 1874 legte die Oder am Ufer des Hudson Rivers an und die Klosterfrauen betraten erstmals amerikanischen Boden. Unmittelbar sahen sie sich mit den riesigen Dimensionen der Grossstadt konfrontiert. Die laute und hektische Stadt überwältigte Renggli; sie fühlte sich verloren und vermisste die Stille und Vertrautheit von Maria-Rickenbach.
Über New York schrieb Beatrix Renggli: «Wie oft dachten wir da an unser liebes Maria Rickenbach! Welchen Gegensatz. Dort die liebe stille Einsamkeit, hier wildes Treiben und Lärmen; dort das Wallfahrtskirchlein mit betenden Pilgern, hier keine Spur von Frömmigkeit und stillem Beten, dort das frohe Glück des Opferlebens, hier unheimliches, unruhiges Jagen nach Genuss und Besitz; dort Alles so heimelig im Schwesternkreise und hier Alles unbekannt dem Menschen und der Sprache fremd!»
Über New York schrieb Beatrix Renggli: «Wie oft dachten wir da an unser liebes Maria Rickenbach! Welchen Gegensatz. Dort die liebe stille Einsamkeit, hier wildes Treiben und Lärmen; dort das Wallfahrtskirchlein mit betenden Pilgern, hier keine Spur von Frömmigkeit und stillem Beten, dort das frohe Glück des Opferlebens, hier unheimliches, unruhiges Jagen nach Genuss und Besitz; dort Alles so heimelig im Schwesternkreise und hier Alles unbekannt dem Menschen und der Sprache fremd!» Wikimedia
Dementsprechend erfreut zeigte sich Renggli, als die Reisegruppe zwei Tage später New York verliess und mit der Eisenbahn über St. Louis (Missouri) nach Maryville weiterreiste. Schliesslich erreichten die Benediktinerinnen nach 20-tägiger Reise am 5. September 1874 ihr Ziel. Renggli beschrieb Maryville als sehr einfach und dessen kirchliche Infrastruktur als baufällig, die Kinder als wild und unerzogen. Sie hob aber auch die Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Frömmigkeit der Ortsansässigen hervor. Dabei erwähnte Renggli, dass die Bevölkerung «das Ordenskleid nicht fürchtet, sondern liebt und ehrt» und spielte so auf die kulturkämpferischen Auseinandersetzungen in der Schweiz an. Die Frauen sahen sich in ihrer neuen Heimat mit vielen unbekannten Situationen konfrontiert, der Reisebericht kontrastierte ausführlich die Ausgangs- und Zielkultur, die Heimat und die Fremde. Renggli bezog sich immer wieder auf ihr Mutterkloster und versuchte ihre Erlebnisse, wohl aus Heimweh, aber auch um ihre Erfahrungen greifbarer für das Schweizer Publikum zu machen und mit ihrem Herkunftsgebiet zu verbinden. Eine besonders grosse Herausforderung für die Neuankömmlinge war die Verständigung, da sie die Landessprache nicht verstanden. So mussten sie auch von ihrem eigentlichen Ziel, eine deutsche Schule in Maryville zu eröffnen, absehen. Die Beherrschung der englischen Sprache nahm in den USA einen viel höheren Stellenwert ein als die deutsche Sprache. Einige der Klosterfrauen hatten Mühe, sich an die fremde Kultur und Sprache anzupassen. Nicht so Beatrix Renggli, die schnell Englisch lernte und bald mit dem Unterrichten begann. Aufgrund von Konflikten innerhalb der Emigrationsgruppe zog sie kurz nach ihrer Ankunft mit den Schwestern Adela und Anselma ins nahe gelegene Conception und führte dort eine Schule.
Aufnahme der Schwestern vom Kloster Maria Stein in Pocahontas aus dem Jahr 1892.
Aufnahme der Schwestern vom Kloster Mariastein in Pocahontas aus dem Jahr 1892. Google Books
Nach einigen Jahren in den USA kehrte Renggli, nun als Oberin des 1887/88 gegründeten Konvents Mariastein in Pocahontas (Arkansas), im Sommer 1889 kurz nach Niederrickenbach zurück, um weitere Ordensfrauen für die Arbeit in den USA zu rekrutieren und diese auf ihrer Emigrationsreise zu begleiten. Über diese Reise im November 1889 verfasste die Schwester Clara Haus (1841-1902), wohl inspiriert von Renggli, ebenfalls einen Reisebericht.

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