Einer der 1938 gesetzten Grenzsteine auf der Testa Grigia.
Einer der 1938 gesetzten Grenzsteine auf der Testa Grigia. Wikimedia / swisstopo

Der Grenzfall Testa Grigia

Der Bau einer Seilbahn vom italienischen Breuil auf die Testa Grigia rief 1937 die Bundesbehörden auf den Plan: Die Endstation lag im sensiblen italienisch-schweizerischen Grenzgebiet.

Felix Frey

Felix Frey

Felix Frey ist historischer Fachexperte beim Bundesamt für Landestopografie swisstopo.

Es war ein Projekt von bis dahin ungekannten Ausmassen. 1935 begann das italienische Unternehmen S.A. Cervino mit dem Bau der damals höchstgelegenen Luftseilbahn der Welt. Sie führte von Breuil im Aostatal hinauf zur Felskuppe Testa Grigia auf 3479 Metern über dem Meer. Auf einer Strecke von 7,3 Kilometern überwand die Bahn 1450 Höhenmeter und konnte 256 Personen pro Stunde transportieren. Die Ruhe auf der Testa Grigia, die bis dahin nur von unerschrockenen Bergsteigerinnen und pflichtbewussten Grenzwächtern besucht wurde, fand damit ein Ende. Zwei Jahre nach Baubeginn wandte sich die S.A. Cervino an die schweizerischen Auslandsvertretungen in Turin und Rom: Die Bauleitung wollte nun den oberen Abschnitt der Seilbahn errichten. Die Endstation der Seilbahn sollte auf der Testa Grigia stehen, einer Felskuppe, die aus dem Gletschermeer herausragte. Die italienisch-schweizerische Landesgrenze verlief mitten durch diese Felskuppe. Damit berührte das Bauvorhaben das Grenzgebiet, was 1937 besonders sensibel war: Zum faschistischen Mussolini-Regime hatte die Schweiz damals eine angespannte Beziehung, die sich zwischen Entgegenkommen und Distanzwahrung bewegte.
Damals noch ohne Eintrag in der Karte: Bei der Höhenkote 3480 (rosa Ellipse) befand sich die Felskuppe Testa Grigia.
Damals noch ohne Eintrag in der Karte: Bei der Höhenkote 3480 (rosa Ellipse) befand sich die Felskuppe Testa Grigia. Topographischer Atlas der Schweiz, Blatt 535 «Zermatt», 1933
Die Aussicht, dass eine italienische Seilbahn täglich hunderte Passagiere an die Landesgrenze bringen könnte, sorgte in Bern für Stirnrunzeln. Aus der Perspektive von Zoll und Armee war das Hochgebirge nicht zuletzt auch ein Schutzwall aus Stein und Eis. Er erschwerte unerlaubte Grenzübertritte, Schmuggel und militärische Angriffe. Der Bau einer Luftseilbahn, mit der sich 1450 Höhenmeter innerhalb von 20 Minuten überwinden liessen, stellte diese einstige Gewissheit plötzlich infrage. Der für auswärtige Angelegenheiten zuständige Bundesrat Giuseppe Motta hatte 1937 grosse Bedenken.

Das Vorhan­den­sein einer Endsta­ti­on […], die Zugang zu weitläu­fi­gen Skigebie­ten in der Schweiz bietet, scheint zudem aus Sicht der Grenzkon­trol­le eine gewisse Gefahr darzustellen […].

Bundesrat Motta in einem Brief an das Departement für Post und Eisenbahn, 1937
Neben der Seilbahnstation wollte die S.A. Cervino auch ein Restaurantgebäude errichten. Es sollte vollständig auf dem Schweizer Teil der Testa Grigia zu stehen kommen. Bundesrat Rudolf Minger, Vorsteher des Militärdepartements, befürchtete aber eine Zweckentfremdung des Restaurantgebäudes. 1938 rief er zu grösster Wachsamkeit auf: «Es ist daher von Wichtigkeit, durch regelmässige scharfe Kontrolle während des Baues dafür zu sorgen, dass keinerlei bauliche Einrichtungen angebracht werden, die andern als dem Restaurantsbetrieb dienen können.» Er meinte beispielsweise ein Munitionsmagazin oder einen unterirdischen Stollen zur Endstation. Aus Sicht des Bundesrats und der betroffenen Behörden war es von Vorteil, wenn die Bergstation der Luftseilbahn teilweise auf Schweizer Boden zu stehen komme. So sei ein gewisses Mass an Kontrolle über die Vorgänge auf der entlegenen Felskuppe gewährleistet. Entsprechend stellte man der italienischen Baufirma im Mai 1937 in Aussicht, die nötige Konzession zu erteilen.
Das italienische Bauvorhaben stimmte Bundesrat Giuseppe Motta nachdenklich. Porträt aus den 1940er-Jahren.
Das italienische Bauvorhaben stimmte Bundesrat Giuseppe Motta nachdenklich. Porträt aus den 1940er-Jahren. Schweizerisches Nationalmuseum

Podcast swisstopo historic

Interessiert Sie die Geschichte der Landesgrenze? Im Podcast von swisstopo historic erfahren Sie mehr. Hören Sie rein – auf Spotify, Apple Podcasts oder hier.

Stillschwei­gend gesprengt

Doch im Sommer 1937 wurde es still in Sachen Testa Grigia – die S.A. Cervino meldete sich monatelang nicht mehr bei den Schweizer Behörden zurück. Am 29. Juli 1937 rapportierte der Schweizer Grenzschutz aber eine überraschende Beobachtung: Ohne Rücksprache mit den Schweizer Behörden hatte die Firma auf der Testa Grigia stillschweigend eine Hilfsbahn installiert, Pfeiler für Strom- und Telefonleitungen errichtet und einen Teil der Sprengungen für die Endstation der Seilbahn vorgenommen. Wie der Oberzollinspektor berichtete, stellten sich die Italiener auf den Standpunkt, dass die Bauarbeiten auf der Testa Grigia die Schweiz nicht tangierten. Eine «im Fels der Testa Grigia vorgefundene kupferne Grenzmarke» belege nämlich: «Die ganze Kopfstation der Bahn komme auf italienischen Boden zu liegen, weitere Verhandlungen mit den schweizerischen Behörden seien daher überflüssig.»
Leitungsmasten (links) und Hilfsbahn (Mitte): Die «wild» errichteten Bauten auf der Testa Grigia, aufgenommen im August 1937.
Leitungsmasten (links) und Hilfsbahn (Mitte): Die «wild» errichteten Bauten auf der Testa Grigia, aufgenommen im August 1937. Schweizerisches Bundesarchiv
Der Direktor der Eidgenössischen Landestopografie Karl Schneider konnte schnell nachweisen, dass es sich bei der vorgefundenen Metallmarke um keinen Grenzpunkt handelte. Er stellte richtig, dass der Bolzen vielmehr einen Triangulationspunkt markiere. Er liege vollständig auf Schweizer Territorium, und sowieso gebe es auf der Testa Grigia gar keine Grenzsteine oder -marken. Wo die Grenze genau verlief, war mit Schneiders Richtigstellung aber nicht geklärt. Die italienisch-schweizerische Landesgrenze auf der Testa Grigia war ausschliesslich durch die Wasserscheide definiert. Wo das Wasser vom Felskamm zur Rhone floss, war die Schweiz, wo es zum Po floss, befand man sich in Italien. Dass die Wasserscheide im Raum Testa Grigia als Grenze galt, war eine jahrhundertealte Regelung, deren fortwährende Gültigkeit sich die beiden Nachbarstaaten 1931 erneut bestätigt hatten.
Der Wasserscheide entlang: die schweizerisch-italienische Landesgrenze in der italienischen Militärkarte in einem Massstab 1:20’000.
Der Wasserscheide entlang: die schweizerisch-italienische Landesgrenze in der italienischen Militärkarte im Massstab 1:20’000. Istituto geografico militare, «Monte Cervino, Conca del Breil», Firenze 1922
Im Hochgebirge war die Wasserscheide das Mittel der Wahl, um eine Grenze zu definieren. Sie ersparte aufwändige Vermessungs- und Vermarkungsarbeiten in schwer zugänglichem Gelände. Stattdessen zeichneten beide Länder den ungefähren Verlauf der Wasserscheide in ihre offiziellen Karten ein. Diese Linie war aber keine präzise Grenzdefinition, sondern eine blosse Annäherung. Karl Schneider betonte deshalb: «Wir dürfen diese generell gezogene, flach gebogene Linie nicht geometrisch als richtig ansehen und ohne weiteres so in die Natur übertragen.» Musste man wie auf der Testa Grigia 1937 ganz genau wissen, wo die Grenze lag, reichte dies nicht aus. Die Nachbarländer mussten stattdessen vor Ort gemeinsam und zentimetergenau ausmessen, wo die Wasserscheide im Detail verlief. Angesichts der italienischen Bauarbeiten auf der Testa Grigia war im Herbst 1937 klar, dass die Grenzlinie so bald wie möglich im Detail bestimmt werden musste. Die Landestopografie veranlasste, dass die italienisch-schweizerische Grenzkommission die Frage endgültig klärte, sobald der Frühling die Kuppe vom Schnee befreite und günstigeres Wetter eine Begehung erlaubte. Am 22. April 1938 war es schliesslich soweit.
Grenzverläufe auf der Testa Grigia: Gestrichelt gemäss der italienischen Militärkarte und in Kreuzen gemäss den italienischen Ansprüchen vom April 1938. Die gepunktete rote Linie zeigt die letzten Endes vereinbarte und mit fünf Grenzsteinen markierte Wasserscheidelinie.
Grenzverläufe auf der Testa Grigia: Gestrichelt gemäss der italienischen Militärkarte und in Kreuzen gemäss den italienischen Ansprüchen vom April 1938. Die gepunktete rote Linie zeigt die letzten Endes vereinbarte und mit fünf Grenzsteinen markierte Wasserscheidelinie. Schweizerisches Bundesarchiv
Wie die Eidgenössische Zollverwaltung berichtete, stiess die binationale Grenzbegehung auf zwei Schwierigkeiten. Erstens liess sich die natürliche Wasserscheide kaum mehr feststellen, «da die Kuppe der Testa Grigia in letzter Zeit durch die Ab- und Ausgrabungen für die Vorarbeiten des Baues der Seilbahn ordentlich verändert worden ist». Noch schwerer wog das zweite Problem: Der Vertreter der italienischen Seite, Major Lavizzari, behauptete bei der Grenzbegehung, dass die Wasserscheide so verlaufe, dass die gesamte Felskuppe der Testa Grigia auf italienischem Boden liege. Auch vor Ort war die Wasserscheide nämlich nicht vollständig objektiv feststellbar. Sie blieb also ein Stück weit Verhandlungssache.

Nach dem Mittag­essen kam Major Lavizzari auf die Sache zurück, änderte seine Ansicht beträcht­lich & erklärte, dass ein ‹malinteso› vorliege. […] Nach längerem Hin- & Her einigte ich mich mit ihm auf einen Grenzver­lauf. Es steht ausser Zweifel, dass wir mit dieser Grenzli­nie zufrieden sein müssen & dürfen.

Oberst Schnetzer, Leiter der Schweizer Delegation in seinem Bericht über die Grenzbegehung
Im Mai 1938 wurde der vereinbarte Verlauf der Wasserscheide auf der Testa Grigia mit fünf Grenzsteinen markiert. Zwischen den Steinen verlief die Grenze jeweils in einer geraden Linie. Damit war sie endlich präzise genug definiert, um eindeutig zu sagen, welches Gebäude des Seilbahnkomplexes auf welcher Seite der Grenze lag.
Postkarte der Testa Grigia aus den 1940er-Jahren. Im Hintergrund ist das Matterhorn zu erkennen.
Postkarte der Testa Grigia aus den 1940er-Jahren. Im Hintergrund ist das Matterhorn zu erkennen. e-pics
Die Geschichte der Landesgrenze auf der Testa Grigia zeigt, wie viel Definitionsarbeit hinter der scheinbar selbstverständlichen Landesgrenze der Schweiz steht. Sie ist das Produkt zahlloser Verhandlungen, Konferenzen und Begehungen, die oft in unwegsamem Gelände und bei schwierigem Wetter stattfanden – denn, wenn man es genau wissen musste, reichte der Strich auf der Karte nicht mehr aus. Im Fall der Testa Grigia konnte die Grenzfrage zwischen Italien und der Schweiz einvernehmlich geklärt werden. Die Einigung ebnete auch den Weg für die Fertigstellung der Luftseilbahn, die den Klärungsbedarf überhaupt erst erschaffen hatte: Nach vier Jahren Bauzeit nahm sie im März 1939 den Betrieb auf.

Weitere Beiträge