Berufsleute des Leinwandgewerbes in St. Gallen, um 1714, Maler unbekannt.
Berufsleute des Leinwandgewerbes in St. Gallen, um 1714, Maler unbekannt. Kulturmuseum St. Gallen

Zwei Vorzei­chen für dasselbe Jahrhundert

Politisch erstarrte das Ancien Régime im 18. Jahrhundert. Wirtschaftlich und gesellschaftlich dagegen entwickelte sich unser Land dynamisch. Eine hoch interessante Konstellation im Vorfeld von 1798.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Eines kann man dem Zuger Ammann Carl Franz Kreuel (1624–1706) nicht absprechen. Sein Vertrauen in das Regiment der «von Gott verordnetten rechten nattürlichen herren und obern» war unerschütterlich. Nach seiner eigenen Amtszeit als eidgenössischer Landvogt in Lugano hielt er in einer Tabelle fest, welcher der 13 eidgenössischen Orte in welchem Jahr das Recht hatte, eine der neun genannten gemeinsamen Landvogteien zu verwalten. Seine Übersicht setzte mit dem Jahr 1690 ein und endete – 16 Seiten später – mit dem Jahr 2000. Demnach wäre im Jahr 2000 in Lugano ein Freiburger Landvogt gewesen, in Locarno ein Solothurner, im Maggiatal ein Schaffhauser usw.

Änderung der Herrschaftsverhältnisse? Undenkbar!

Man gönnt es dem gewissenhaften Zuger Magistraten, dass er nicht mehr erleben musste, dass seine auf mehr als drei Jahrhunderte angelegte Liste bereits 1712 durch den vierten Landfrieden nutzlos geworden war. Keineswegs nutzlos ist seine Tabelle für uns. Was könnte das kollektive Welt- und Selbstverständnis der damaligen Führungsschicht treffender zum Ausdruck bringen? Wir die Herren, ihr die Untertanen, je in ihren Stand geboren. So ist es. So bleibt es. Nach 300 Jahren braucht jemand bloss eine neue «Ausstheilung» vorzunehmen.

Carl Franz Kreuel: Distributio Oder Deütlich- und ordentliche Ausstheilung der neun Landvogteyen / als Turgeüw / Baden / Reinthal / Freyämpter / Sargans / Lauwis [Lugano] / Luggarus [Locarno] / Maythal [Maggiatal] und Mondris [Mendrisio] / so die Hochlobl. regierende Orth der Eydtgnoschafft von Jahr zu Jahr dem Umbgang nach zu besetzen pflegen. Fangt an von Anno 1690. biss auf Anno 2000, gedruckt in Einsiedeln 1691.
Bild: Universitätsbibliothek Basel

Die Kraft der Zahl

Es gab aber noch eine andere Welt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung markant zu. Das Wachstum war gemäss André Holenstein begleitet von drei Stossrichtungen: a) von der Stadt auf das Land, b) vom Alpenraum ins Flachland, c) vom Bauernland zu Regionen mit Heimindustrie. Um 1800 hatten grössere ländliche Zentren für Gewerbe, Handel und Markt bevölkerungsmässig mit einigen Städten gleichgezogen, so etwa Langnau im Emmental mit Solothurn, die beide je rund 3‘500 Einwohner zählten. Die alte Zunftstadt Schaffhausen mit 5‘500 Einwohnern sah sich vom aufstrebenden Herisau mit 6‘000 Einwohnern überholt. Das spektakuläre Wachstum vor allem in ländlichen Gebieten der Ostschweiz führte im Verbund mit boomender Heimindustrie zu einer mehrfachen Gewichtsverlagerung, volkswirtschaftlich, demografisch, gesellschaftlich. Die Einwohner der regierenden Städte machten 1798 gemessen an der Gesamtbevölkerung nur noch einen geringen Anteil aus: in Zürich 13 Prozent, in Solothurn 8.5, in Bern bloss 3 Prozent. Die Asymmetrie war in Wirklichkeit noch viel eklatanter. Zieht man nur die effektiv zum engen abgeschlossenen Kreis zählenden Männer der Obrigkeit heran, kommt man, jedenfalls für Bern, in den Promillebereich. Die Wirtschaftskraft und die politische Macht waren derart unterschiedlich verteilt, dass sich ein Systemwechsel geradezu aufdrängte.

Beispiel Leinwandgewerbe in St. Gallen; qualitätsvolle Produkte erforderten zahlreiche Berufssparten (anklicken, um zu vergrössern): Kaufmann, Faktor, Feilträger, Leinwandmesser, Bauer, Bleicher (im roten Gewand), Leinwandschneider, Färber, Einbinder, Küfer, Fuhrmann und Maultiertreiber; um 1714, Maler unbekannt.
Kulturmuseum St. Gallen

Zwölf Berufsleute verkörpern Aufschwung und Umschwung

Das Bild fährt ein. Ein anonymer Maler fertigte 1714 ein Gemälde mit zwölf Berufsleuten aus dem Leinwandgewerbe an. Mit verhaltenem Berufsstolz präsentieren sie sich auf einer platzartigen Strasse im Vorgelände der turmreichen Stadtanlage von St. Gallen. Ausgestattet je mit einem Berufsgerät, sind sie aufgereiht nach Körpergrösse, die zugleich die Hierarchie ihrer Berufe manifestiert: zuvorderst, gross, Kaufmann und Faktor, zuhinterst, deutlich kleiner, Fuhrmann und Maultiertreiber. Bekrönt wird die Szene vom Reichswappen (warum eigentlich, fast sieben Jahrzehnte nach 1648?) und den beiden Stadtwappen von St. Gallen. Die Lorbeerkränze, die von zwei kleinen Engeln gehalten werden, gelten wohl traditionell der «Statt St. Gallen», wie das Spruchband verkündet. Hundert Jahre später hätte sich das Lob auch auf die gesamte Heimindustrie beziehen können, die sich im Raum zwischen Bern-Basel und dem Bodensee entwickelte. Sie machte die Schweiz zum stärksten industrialisierten Land des europäischen Kontinents. Dabei handelte es sich allerdings um sogenannte Protoindustrie, die noch nicht auf maschinellem Fabrikbetrieb basierte, sondern auf Verlag und dezentralisierter Heimarbeit. Der Verleger kaufte die Rohstoffe ein, «verlegte» sie für die jeweiligen Arbeitsschritte den Produzenten auf dem Lande, liess die Fertigprodukte schliesslich einsammeln und verkaufte sie. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Schweiz hinter dem britischen Lancashire der wichtigste Baumwollproduzent Europas. Das war nicht das Werk der Aristokraten, die Adelstitel kauften und dabei nachweisen mussten, dass sie nur von Zinsen lebten und «keine mechanischen Künste» betrieben. Die Wirtschaft war im Vorwärtsgang, das politische System im Stillstand.

Transport und Strassenbau im 18. Jahrhundert. Kupferstich von Balthasar Anton Dunker, 1795.
Bild: Staatsarchiv Bern

Gewerbe und Handel benötigen Strassen

Die Berner Zolldirektion liess das Titelblatt der Jahresrechnung 1795 mit einer passenden Darstellung schmücken. Rechts sind zwei Männer mit Bauarbeiten beschäftigt. Sie werfen Baukies gegen einen schräg gestellten Lattenrost. Dabei werden kleinere und grössere Steine voneinander getrennt, die nachher je für den passenden Zweck zu verwenden sind. Auf einem Karren, wendig mit nur einer Achse, haben die beiden Arbeiter Steinquader herbeigeschafft. Damit wird vermutlich der Strassenrand befestigt. Seit den 1740er-Jahren wurden vermehrt «Kunststrassen» gebaut. Im Vordergrund links ist eine vierspännige Fuhre auf einer solchen Strasse unterwegs. Die voluminöse Fracht wird mit einer Blache geschützt und zusammengehalten, da der schmale Wagen keine Seitenwände hat. An der Hinterachse hängt ein Topf mit «Karrensalbe», und aus Vorsicht werden in einem Koffer einige Werkzeuge mitgeführt, für einen Radbruch etwa. Aber auch Achsen, Naben, Deichseln können brechen. Der Fuhrmann sitzt – wie der Reiter der Kutsche hinten beim Gasthaus – auf dem Pferd rechts. Noch immer herrscht hier also Linksverkehr. Das sollte sich bald ändern. 1789 stellte Frankreich auf Rechtsverkehr um und setzte diese Neuerung auch in den besetzten Gebieten durch, unter anderem in der Eidgenossenschaft. 1798 exportierte Frankreich in die Schweiz aber noch ganz andere Neuerungen.

→ Lesen Sie morgen, wie 1789 in Paris die politischen Ketten gesprengt wurden – und wie 1794 dasselbe auch am Zürichsee versucht wurde.

1798 – Der erste Anlauf

In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.

Das historische Thema dieser Woche: Der Umbruch von 1798 – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich.

Montag:
Zwei Vorzeichen für dasselbe Jahrhundert
Politisch erstarrte das Ancien Régime im 18. Jahrhundert. Wirtschaftlich und gesellschaftlich dagegen entwickelte sich unser Land dynamisch. Eine hoch interessante Konstellation im Vorfeld von 1798.

Dienstag:
«Dieses ist keine gewöhnliche Revolution»
1789 verkündete die Ständeversammlung in Frankreich die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte». Im Stäfner Handel wurde erstmals das politische System auch in der Schweiz in Frage gestellt.

Mittwoch:
1798 – wo bleibt die Eidgenossenschaft?
Basel feiert. In Luzern dankt das Patriziat ab. Bern leistet Widerstand. Die Nidwaldner stürzen sich in einen Verzweiflungskampf. Aus dem losen Staatenverband der Eidgenossenschaft wird ein extremer Zentralstaat.

Donnerstag:
Von Freiheitsbäumen und ihren Schatten
Spötter befanden, die Freiheitsbäume hätten keine Wurzeln, und dem Freiheitshut fehle der Kopf. So einfach sollte man es sich mit Freiheitsbäumen nicht machen. Anspruch und Wirklichkeit klafften allerdings auseinander.

Freitag:
Demokratie? Episode? Bruch? Erster Anlauf?
Die Helvetik hat miserable Karten: a) von aussen aufoktroyiert, b) zeitlich eine Episode, c) quer zum Bisherigen, d) auch repariert von aussen. Dennoch gehört sie zum Wichtigsten, das der Schweiz je widerfuhr.

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