Aushängeschild des schweizerischen Handelskonsulats in Bordeaux, 1815.
Schweizerisches Nationalmuseum

Neustart in Wien

Am Wiener Kongress 1815 wurde Europa neu aufgeteilt. Doch was sollte man mit der Schweiz machen? Schliesslich blieb das Land unabhängig und fungierte als Puffer zwischen den Grossmächten.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Wien im Sommer 1815. In einem Noblen Palais tagt hinter verschlossenen Türen das «Schweizer Komitee». Am Tisch: Zwei Russen, zwei Engländer, ein Preusse und ein Franzose. Die Schweizer Delegation wartet draussen.

Ursache des Wiener Kongresses war Napoleon. Der Korse hatte die Welt aus den Fugen und Europa in blutige Kriege getrieben. Nun war er besiegt und die Sieger sowie Frankreich trafen sich, um zu besprechen, wie der Kontinent künftig aussehen sollte. Es ging um Grenzverläufe, internationales Recht und die Wiederherstellung der alten Ordnung. Sehr viel weiter unten auf der Traktandenliste stand die Frage: Was tun mit der Schweiz? Sie Frankreich zuzuschlagen kam nicht in Frage, sie unter den vier Siegermächten aufteilen, verhiess erneute Konflikte. Ausserdem wollten die Grossmächte einen Puffer zwischen Frankreich und Österreich. Also sollte die Schweiz weiterbestehen – obwohl sie innerlich völlig zerstritten war.

Zerstritten waren auch ihre drei offiziellen Vertreter: De Montenach und Reinhart zankten sich vor dem «Schweizer Komitee». Wieland diskutierte gar nicht erst mit den beiden und las stattdessen lieber Cäsars «Vom Gallischen Krieg». Währenddessen waren in den Vorzimmern die Agenten einzelner Kantone unterwegs. Waadt, Aargau, Thurgau und Tessin lobbyierten für ihre Gleichstellung mit den übrigen Kantonen. Bern dagegen pochte darauf, dass diese wieder zu Untertanengebieten wurden. Genf wiederum wollte sich grosse Teile Savoyens einverleiben, wogegen Zürich Sturm lief, weil die Aufnahme frankophoner Katholiken die Übermacht der deutschsprachigen Protestanten zu Fall gebracht hätte. Und die Walliser träumten ohnehin von einer unabhängigen Republik. Wichtigster Lobbyist war vermutlich Frédéric­-César de La Harpe. Er bewog den russischen Zaren dazu, sich für die Unabhängigkeit der Waadt stark zu machen – und für den Fortbestand der Schweiz.

Am Ende wurden die Grenzen neu gezogen. Die Schweiz verlor das Veltlin, Chiavenna, Bormio und Mülhausen, dafür erhielt sie das Gebiet der heutigen Kantone Neuenburg und Jura sowie das Fricktal, Rhäzüns, Tarasp und einige Gemeinden um Genf. Die Kantone wurden einander gleichgestellt, Bern verlor die Waadt und einen Teil des Aargaus, erhielt zum Trost aber den Jura und damit das nächste Problem. Für die Schweiz waren die fremden Richter ein Glücksfall: Sie war innerlich so zerstritten, dass Wieland bemerkte, inländische Richter hätten einen Bürgerkrieg ausgelöst. Nur unter massivem ausländischem Druck konnte die Schweiz als Gefüge gleichwertiger Kantone neu geformt werden.

Mit der Resolution des Wiener Kongresses anerkannten die Grossmächte die Schweiz als unabhängigen Staat. Und verordnete ihr die bewaffnete Neutralität. Diese nahm 1815 allerdings kaum jemand ernst. Sie ging beinahe vergessen und wurde noch während des Kongresses ein erstes Mal verletzt, als Soldaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft – zusammengesetzt aus den Milizen mehrerer Kantone − unter der Führung von General Niklaus Franz von Bachmann im Burgund einmarschierten. Napoleons Rückkehr aus der Verbannung hatte sie mobilisiert. Der Angriff endete allerdings in einem Fiasko. Ihre fast schon mystische Strahlkraft erhielt die Neutralität erst im 20. Jahrhundert durch die beiden Weltkriege.

Porträt von Niklaus Franz von Bachmann in der Uniform eines französischen Generalleutnants. Das Gemälde wurde von Felix Maria Diogg angefertigt.
Schweizerisches Nationalmuseum

Politische Lage nach dem Wiener Kongress im Juni 1815. Karte: Wikimedia / Alexander Altenhof

17 Kommentare

F. Pauli
19.11.2024 – 08:33

Zu M. Weixelbaum: Die erste Aussage ist wohl nicht ganz falsch. Die zweite allerdings kolossal: Demokratie gab es hier bereits im Mittelalter (Landsgemeinden, Alpkorporationen, Gemeindeversammlungen, etc.). Ferner gab es später den Radikaldemokraten Rousseau. Napoleon hat sie nach dem unrühmlichen Zwischenspiel des ancien régime – diktatorisch – bloss wieder aufgewärmt. Und noch zum «aufrechten Gang»: Dieser scheint heute leider ziemlich stark zu erodieren: Offenbar aus Bequemlichkeit werden immer wie mehr Tätigkeiten nicht nur des unqualifizierten Bereichs, sondern neu auch Verantwortungs- und Qualifikationsjobs an Ausländer*innen vergeben.

Dario
09.09.2023 – 21:45

Ich habe mal gehört, dass die Grossmächten von damals einen Vertrag unterzeichnet haben, dass wenn jemand die Schweiz angreift, die damaligen Grossmächten die Schweiz aus der Patsche helfen sollten. Jedoch habe ich noch nirgends ein Wort irgendwo gelesen von so etwas. Existiert überhaupt so ein Vertrag und falls ja wäre er noch gültig?

F. Pauli
18.09.2023 – 20:19

Du hast viell. mal etwas gehört vom 2. Weltkrieg, wo General Guisan mit Frankreich kurz nach Ausbruch ein improvisiertes Abkommen schloss, dass F im Falle eines dt. Einmarschs der Schweiz im Raum Basel/nördl. Kt. Solothurn, also klar eingegrenzt, mit Truppen zu Hilfe kommen würde. Aus Neutralitätsgründen wurde danach auch bei Hitler angefragt, wo ein analoges Angebot bei frz. Angriff aber abgelehnt wurde.
Möglich, dass so etwas heute auch mit der NATO improvisiert zustande käme, aber völkerrechtlich haben wir als neutrales Land wie gesagt grundsätzlich heute darauf kein Anrecht.

F. Pauli
18.09.2023 – 12:04

Ob es das damals gab, weiss ich nicht. Klar ist, dass es heute nix solches gibt, NATO-Staaten würden die neutrale Schweiz nicht verteidigen helfen, und auch das neutrale Österreich nicht.

Alecs Hanselmann
18.03.2023 – 00:19

Die Behauptung die Schweiz verlor Mulhouse finde ich etwas seltsam. Das war nur ein zugewandter Ort und kein volles Mitglied der Eidgenossen (gilt auch fürs Wallis). Neuenburg kam meines Wissens auch erst 1848 dazu.

Ich fänds interessant eine Karte der Alten Eidgenossenschaft zu haben (nur die Vollmitglieder) und die Fläche von 1797 mit 1815 zu vergleichen. Da kommen noch die Bistümer St. Gallen und Basel in die Kantone der Schweiz hinein.
Könnte es sein, dass da 15% Land zur Eidgenossenschaft neu dazukam oder ist es weniger? Und wieso kam das Veltlin, Sondrio und andere Gebiete weg? Waren die Besitzverhältnisse umstritten oder handelte es sich um einen echten Flächenmässigen abtausch?

F. Pauli
29.03.2023 – 06:56

Zwei Fehler gefunden in meiner Darstellung: Veltlin war GR-Vogtei, nicht -Zugewandter; und das Bistum Basel war zwar Zugewandter der Eidg., aber nicht ganz bis 1797.

F. Pauli
28.03.2023 – 11:32

Ihre gewünschte Karte finden Sie in der Wikipedia unter Dreizehn alte Orte, die hatte m.W. weitestgehend bis 1797 Bestand. Erwähnenswert dazu, dass auch das deutsche Rottweil und bei Genf die heute französischen Pays de Gex und vermutlich Annemasse Zugewandte waren. Zum Pays de Gex konnte 1815 immerhin ausgehandelt werden, dass es noch als Freihandelszone mit der Eidg. verbunden blieb. Wallis, Genf und Neuenburg wurden dann 1815 vollwertige Kantone (letzteres, obwohl es zeitgleich noch preussisches Fürstentum war…) . Bezüglich dem heute italienischen Veltlin (Sondrio ist ein Städtchen drin) weiss ich soviel, dass es ursprünglich bereits von Napoleon abgetrennt wurde. Danach, 1815, war offenbar die Bereitschaft nicht mehr gross, es wieder zurück zu geben (Pikant dazu: Anlässlich des 1. Weltkriegs wollte der Bündner Generalstabschef von Sprecher seinen Zugewandten an der Seite Deutschlands zurückerobern – General Wille pfiff dann diesen potenziell flagranten Neutralitätsverstoss noch zurück [der Bundesrat hätte es natürl. letztlich entscheiden müssen]).
15% Neuland hat die CH 1815 sicherlich nicht dazu gewonnen, abzüglich der verlorenen Zugewandten war das Gebiet wohl doch eher kleiner als zuvor.
Bistum BS und Abtei St. Gallen waren bis 1798 Zugewandte.

Bernhard Schneider
23.03.2023 – 13:12

Zürich war mit Mülhausen deutlich stärker verbunden als mit den Waldstätten, was sich u.a. dadurch belegen lässt, dass Mülhausen in einem lutheranisch dominierten Gebiet zwinglianisch war. Sie haben Recht, Herr Hanselmann, dass die Bistümer – auch Engelberg – nicht zur «Eidgenossenschaft» zählten. Das lose Staatenbündel verfügte nicht über ein gemeinsames Territorium, beispielsweise beteiligte sich Bern nicht an der gemeinen Herrschaft Thurgau. Alle territorialen Rechte lagen bei den einzelnen Ständen. Vor 1798 kann daher keine Rede sein von einem eidgenössischen Gebiet, wie die zahllosen Grenzkonflikte – etwa zwischen Zürich und Luzern zwischen Ottenbach und Merenschwand – belegen: Die Hoheit der Stände über ihr Gebiet war nach der formellen Loslösung vom Reich vorbehaltlos. Der Helvetische Zentralstaat verfügte zwar theoretisch über die Hoheit auf dem ihm zugewiesenen Gebiet, konnte diese aber nicht wahrnehmen und wurde in der Mediation wieder aufgelöst. Damit lag die abschliessende Gebietshoheit wieder bei den einzelnen Ständen.
Da keine handlungsfähige gemeinsame Delegation der künftigen Schweiz am Wienerkongress agierte, nahmen allein die Delegierten der einzelnen Städte und Landorte Einfluss. Die exakte Grenzziehung war auch eine Folge von deren Lobbying. Die protestantischen Städte wehrten sich gegen zusätzliche Katholiken, die Deutschschweizer Stände gegen zusätzliche Romands – und umgekehrt. Das von Ihnen angesprochene Neuenburg wurde dem Schweizer Staatenbund als Kanton zugeschlagen, blieb aber gleichzeitig bis 1848 preussisches Fürstentum, eine einmalige und in Neuenburg höchst umstrittene Konstruktion.
Interessant ist, dass das Gebiet zwischen Rhein, Jura und Alpen im 18. Jahrhundert aus deutscher Sicht einheitlicher wirkte als aus hiesiger. Goethe beschrieb seine drei «Schweizerreisen», obwohl damals noch keine Schweiz existierte. Hingegen wehrten sich die Innerschweizer noch stärker als die Städter gegen gemeinsame staatliche Institutionen und Hoheitsrechte. 1815 lobbyierten die Innerschweizer erfolgreich dafür, dass die Schweiz lediglich zum Staatenbund wurde. 1847 erzwangen die reformierten Städte im Sonderbundskrieg die Bildung des Bundesstaates. Fazit: Beziffern lässt sich das Territorum der Schweiz seit 1815, eine gemeinsame staatliche Organisation entstand aber erst 1848 mit der ersten Bundesverfassung, damals von konservativen Kreisen noch heftiger bekämpft als heute eine Regelung der Integration in den europäischen Wirtschaftsraum.

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