Uomini che partono – Tessiner Künstler in Europa
Vom Ufer des Luganersees wanderten über die Jahrhunderte Persönlichkeiten aus, die es in ganz Europa zu bedeutenden Architekten und Künstlern brachten.
Steht man vor dem Talmuseum in Cabbio, sieht man, was als Import eines Baustils beschrieben wird, den man von Spaziergängen durch Genua kennt. Die Bauherrschaft war nämlich eine der im Tal heimischen Familien Cantoni, deren Leben und Wirken in Ligurien bis heute Spuren hinterliess.
So war das also: ein begabter Mann verlässt sein Tal, lernt auswärts sein Handwerk und beschenkt später seine Heimat mit seiner Kunst. Vielleicht wäre hinter das Geschenk ein Fragezeichen zu setzen, denn womöglich fanden es die Hiergebliebenen oder die weniger Erfolgreichen nicht lustig, ständig feststellen zu müssen, dass sie dieses Glück nicht hatten...
Vom Zwischenmenschlichen ist in der älteren Literatur über die im nahen und fernen Ausland berühmt gewordenen Tessiner Künstler selten etwas zu lesen. Heutzutage ist das glücklicherweise anders, nicht zuletzt deshalb, weil verschiedentlich Familienarchive erforscht werden, in denen beispielsweise Briefe von Eltern an ihre Söhne erhalten sind. Stefania Bianchi gibt in ihrem sehr lesenswerten Buch «Uomini che partono» Einblick die Emigration aus der italienischen Schweiz des 16. bis 19. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel des Persönlichen und des Alltäglichen. Und das Alltägliche ist durchaus wörtlich gemeint, wenn es beispielsweise um das Schicken des geliebten Käses aus dem Muggio-Tal nach Savona in Ligurien geht...
In der Gemeinde Arogno war man vor ein paar Jahren versucht, die Piazza Valecc in Piazza Adamo da Arogno umzutaufen. Damit hätte man einem Mann die Ehre erwiesen, der im 13. Jahrhundert den Namen seines Geburtsortes nach Oberitalien getragen hatte, wo man ihm unter anderem in Trento 1212 die Erbauung des Domes anvertraute. Vom 3,5 Kilometer entfernten Maroggia stammen die Bildhauer der Familie Rodari, welche um 1490 am Figurenwerk der Domfassade in Como beteiligt waren. Auf der Baustelle der Certosa di Pavia arbeitete man am Ende des 14. Jahrhunderts nach Plänen von Marco da Carona. Die Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden, denn wenn wir uns am See zwischen Melide, Capolago und Morcote bewegen, so begegnen wir auf Schritt und Tritt Hinweisen zu Emigranten, denen wir zum Teil berühmte Werke in ganz Europa zu verdanken haben.
Solche Begegnungen haben manchmal etwas sehr Überraschendes: Am Eingang des Friedhofs von Morcote stossen wir auf eine Grabplatte, die den Namen von Gaspare Fossati (1809 – 1883) trägt. Fossati war nach Russland emigriert und hatte 1837 vom Zar den Auftrag erhalten, die russische Botschaft in Istanbul zu bauen. Zur deren Eröffnung war auch der türkische Sultan Abdülmecid geladen, dem die Architektur so gut gefiel, dass er den Urheber kennenlernen wollte. Diesem wollte er ein Projekt anvertrauen, das nicht jeder zu meistern verstehen würde. Und so kam es, dass in der 1847 komplett restaurierten weltberühmten Hagia Sophia ein Schild angebracht wurde, auf dem Gaspare Fossati als Architekt und verantwortlicher Planer für die Sanierung einer der ältesten erhaltenen Kirchen der christlichen Welt genannt ist.
Im Grunde war die Welt schon vor Jahrhunderten globalisiert, nur nannte man das damals nicht so. Und wir glauben, es handle sich um ein Phänomen unserer Zeit. Umso mehr staunen wir immer wieder, wohin unsere Landsleute gingen, um ein besseres, manchmal vielleicht sogar ein gutes Leben zu führen. Sie verliessen ihre Heimat (ihre Komfortzone), reisten strapaziös ins Ungewisse, bezogen als Ausländer Revier und erlebten genau das, was heute erlebt, wer in die Schweiz kommt auf der Suche nach einem guten Leben für kürzere oder längere Zeit. Und damals wie heute wurde ein vorübergehender Aufenthalt unvorhergesehen zum Entscheid fürs Leben und aus dem Fremden ein Einheimischer.
P.S.: Dass in diesem Text keine Frauen vorkommen, hat mit dem Zeitfenster zu tun, durch welches die Auswanderung aus dem Tessin von mit der Architektur Beschäftigten betrachtet wird. Ginge es um Malerei und Graubünden, so ergäbe dies natürlich eine andere Geschichte...