Lugano mit dem Monte San Salvatore und dem Monte Bré.
Lugano mit dem Monte San Salvatore und dem Monte Bré. Schweizerisches Nationalmuseum

Uomini che partono – Tessiner Künstler in Europa

Vom Ufer des Luganersees wanderten über die Jahrhunderte Persönlichkeiten aus, die es in ganz Europa zu bedeutenden Architekten und Künstlern brachten.

Bernhard Graf

Bernhard Graf

Bernhard Graf ist Kulturvermittler und wohnt seit vielen Jahren im Tessin.

Erinnern Sie sich an «den Borromini», der Synonym war für eine Hunderternote der Schweizerischen Nationalbank? Ab 1976 trugen wir diesen Tessiner mit uns durch die Lande und wenn er in Wechselstuben auf der ganzen Welt erschien, so war er gleichsam Botschafter der kunstfertigen Schweiz. Seine Frisur und überhaupt sein Portrait verrieten, dass er nicht unser Zeitgenosse war. Und tatsächlich handelt es sich um einen Mann, der als Francesco Castelli 1599 in Bissone am Luganersee geboren und 68 Jahre später in Rom gestorben war. Wohl wird er bereits als Kind gut gezeichnet haben können; sicher ist, dass er in der Bauhütte des Petersdoms in Rom arbeitete bei seinem Onkel Carlo Maderno aus Capolago, wo die Bahn auf den Monte Generoso ihren Ausgangspukt hat.
Francesco Borromini auf der 100-Franken-Note aus der Serie von 1976.
Francesco Borromini auf der 100-Franken-Note aus der Serie von 1976. Schweizerische Nationalbank
Wenn man ein Auge auf das werfen will, was Tessiner Architekten, Maler oder Bildhauer auswärts geschaffen haben, fährt man nach Genua. Zwischen der mittelalterlichen Altstadt und der neuzeitlichen Quartiere in Zentrumsnähe liegt die Strada Nova, ein grandioses Vestibül der alten Handels- und Universitätsstadt, an welcher sich ein Palast an den nächsten reiht. Nie käme man beim Flanieren auf dieser Strasse auf die Idee, eine Brücke ins südlichste Tessiner Tal zu schlagen. Weshalb auch?! Einen Grund gibt es aber durchaus: geplant wurde die prachtvollste Strasse Genuas im dritten Drittel des 16. Jahrhunderts nämlich von Bernardino Agustoni aus Cabbio im Muggio-Tal. Er verliess, wie viele vor ihm, die Tessiner Bergwelt Richtung Flachland und darüber hinaus ans Meer, wo sich bereits kleine Tessiner Gemeinschaften gebildet hatten, welche in den selben Strassen wohnten, beim selben Bäcker das Brot, bei der selben Frau den Fisch und im selben Keller den Wein kauften.
Casa Cantoni, Sitz des Museo etnografico della Valle di Muggio.
Casa Cantoni, Sitz des Museo etnografico della Valle di Muggio. mendrisiottoturismo.ch

Steht man vor dem Talmuseum in Cabbio, sieht man, was als Import eines Baustils beschrieben wird, den man von Spaziergängen durch Genua kennt. Die Bauherrschaft war nämlich eine der im Tal heimischen Familien Cantoni, deren Leben und Wirken in Ligurien bis heute Spuren hinterliess.

So war das also: ein begabter Mann verlässt sein Tal, lernt auswärts sein Handwerk und beschenkt später seine Heimat mit seiner Kunst. Vielleicht wäre hinter das Geschenk ein Fragezeichen zu setzen, denn womöglich fanden es die Hiergebliebenen oder die weniger Erfolgreichen nicht lustig, ständig feststellen zu müssen, dass sie dieses Glück nicht hatten...

Vom Zwischenmenschlichen ist in der älteren Literatur über die im nahen und fernen Ausland berühmt gewordenen Tessiner Künstler selten etwas zu lesen. Heutzutage ist das glücklicherweise anders, nicht zuletzt deshalb, weil verschiedentlich Familienarchive erforscht werden, in denen beispielsweise Briefe von Eltern an ihre Söhne erhalten sind. Stefania Bianchi gibt in ihrem sehr lesenswerten Buch «Uomini che partono» Einblick die Emigration aus der italienischen Schweiz des 16. bis 19. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel des Persönlichen und des Alltäglichen. Und das Alltägliche ist durchaus wörtlich gemeint, wenn es beispielsweise um das Schicken des geliebten Käses aus dem Muggio-Tal nach Savona in Ligurien geht...

Mendrisio und der Monte Generoso auf einer Postkarte von 1916.
Mendrisio und der Monte Generoso auf einer Postkarte von 1916. Schweizerisches Nationalmuseum

In der Gemeinde Arogno war man vor ein paar Jahren versucht, die Piazza Valecc in Piazza Adamo da Arogno umzutaufen. Damit hätte man einem Mann die Ehre erwiesen, der im 13. Jahrhundert den Namen seines Geburtsortes nach Oberitalien getragen hatte, wo man ihm unter anderem in Trento 1212 die Erbauung des Domes anvertraute. Vom 3,5 Kilometer entfernten Maroggia stammen die Bildhauer der Familie Rodari, welche um 1490 am Figurenwerk der Domfassade in Como beteiligt waren. Auf der Baustelle der Certosa di Pavia arbeitete man am Ende des 14. Jahrhunderts nach Plänen von Marco da Carona. Die Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden, denn wenn wir uns am See zwischen Melide, Capolago und Morcote bewegen, so begegnen wir auf Schritt und Tritt Hinweisen zu Emigranten, denen wir zum Teil berühmte Werke in ganz Europa zu verdanken haben.

Solche Begegnungen haben manchmal etwas sehr Überraschendes: Am Eingang des Friedhofs von Morcote stossen wir auf eine Grabplatte, die den Namen von Gaspare Fossati (1809 – 1883) trägt. Fossati war nach Russland emigriert und hatte 1837 vom Zar den Auftrag erhalten, die russische Botschaft in Istanbul zu bauen. Zur deren Eröffnung war auch der türkische Sultan Abdülmecid geladen, dem die Architektur so gut gefiel, dass er den Urheber kennenlernen wollte. Diesem wollte er ein Projekt anvertrauen, das nicht jeder zu meistern verstehen würde. Und so kam es, dass in der 1847 komplett restaurierten weltberühmten Hagia Sophia ein Schild angebracht wurde, auf dem Gaspare Fossati als Architekt und verantwortlicher Planer für die Sanierung einer der ältesten erhaltenen Kirchen der christlichen Welt genannt ist.

Historienbild: Richard Löwenherz empfängt in der Hagia Sophia das Abendmahl. Gemalt von Gaspare Fossati, 1849.
Historienbild: Richard Löwenherz empfängt in der Hagia Sophia das Abendmahl. Gemalt von Gaspare Fossati, 1849. Schweizerisches Nationalmuseum

Im Grunde war die Welt schon vor Jahrhunderten globalisiert, nur nannte man das damals nicht so. Und wir glauben, es handle sich um ein Phänomen unserer Zeit. Umso mehr staunen wir immer wieder, wohin unsere Landsleute gingen, um ein besseres, manchmal vielleicht sogar ein gutes Leben zu führen. Sie verliessen ihre Heimat (ihre Komfortzone), reisten strapaziös ins Ungewisse, bezogen als Ausländer Revier und erlebten genau das, was heute erlebt, wer in die Schweiz kommt auf der Suche nach einem guten Leben für kürzere oder längere Zeit. Und damals wie heute wurde ein vorübergehender Aufenthalt unvorhergesehen zum Entscheid fürs Leben und aus dem Fremden ein Einheimischer.

P.S.: Dass in diesem Text keine Frauen vorkommen, hat mit dem Zeitfenster zu tun, durch welches die Auswanderung aus dem Tessin von mit der Architektur Beschäftigten betrachtet wird. Ginge es um Malerei und Graubünden, so ergäbe dies natürlich eine andere Geschichte...

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