Die Schwarzenbach-Initiative
Es war wohl eine der umstrittensten Abstimmungen in der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts: Die Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach vom 7. Juni 1970.
Die Vorlage war radikal. Sie verlangte, dass der Ausländeranteil in der Schweiz maximal zehn Prozent betragen dürfe. Würde sie angenommen, müssten 350'000 Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Koffer packen und heimfahren. Lanciert hatte es die 1961 gegründete Nationale Aktion. Kopf der Initiative war der Zürcher Nationalrat James Schwarzenbach.
Das Volksbegehren kam am 7. Juni 1970 mit einer rekordverdächtigen Stimmbeteiligung von fast 75 Prozent an die Urne. Es wurde mit 54 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Aber 46 Prozent der Stimmberechtigten – damals noch ausschliesslich Männer – stimmten für die Initiative. Das hatte in dieser Form keiner erwartet: Sämtliche Parteien, die Arbeitgeberorganisationen, Gewerkschaften und auch die Kirchen lehnten das Ansinnen ab. Trotzdem waren viele für die Initiative, namentlich auch Arbeiter, die der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften nahe standen. Sie fürchteten, die Ausländer könnten ihnen die Arbeit wegnehmen. Im Abstimmungskampf gab es viel Polemik zu hören und die Initianten sahen Schweizer Werte in Gefahr. Unter den damaligen Gastarbeitern löste die 1968 lancierte Initiative Angst und Schrecken aus. Im Buch «Jagt sie weg»beschreibt der italienische Journalist Concetto Vecchio diese Stimmung im Leben seiner Eltern, die ihre Kinder mit dem Satz «Sonst kommt Schwarzenbach» zur Ruhe mahnten.
Nationalist, Katholik, Verleger
Hinter der Initiative stand der Zürcher Politiker James Schwarzenbach (1911 – 1994). Er stammte aus einer Zürcher Industriellenfamilie und war der Cousin der Schriftstellerin und Künstlerin Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942). Er studierte in den 1930er-Jahren Geschichte in Zürich und Freiburg und war Mitglied der nationalsozialistischen Nationalen Front. Schwarzenbach konvertierte früh zum Katholizismus und übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg den ebenfalls katholischen Thomas-Verlag. 1967 bis 1979 sass er im Nationalrat. Zuerst für die Nationale Aktion, später für die von ihm gegründete Republikanische Bewegung, die bereits Ende 1970er-Jahre wieder verschwand. Schwarzenbach wird von Zeitgenossen als kluger und rhetorisch beschlagener Einzelgänger beschrieben, der aber auch sehr aristokratisch und abgehoben wirkte Die Familie Schwarzenbach ist auch Thema des 2015 erschienenen dokumentarischen Romans Stürmische Jahre: Die Manns, die Riesers, die Schwarzenbachs der Schweizer Schriftstellerin Eveline Hasler.
Der Urnengang von 1970 war zwar die erste Abstimmung zum Thema der Überfremdung, eine ähnliche Initiative gab es aber bereits 1968, sie wurde jedoch zurückgezogen. Auch wenn Schwarzenbach 1970 die Abstimmung verloren hatte: Das Thema verschwand bis zum heutigen Tag nicht mehr aus der Schweizer Politik. Der Wunsch, die Zahl der Ausländer zu begrenzen, kommt immer wieder. Eine Reihe von ähnlichen Initiativen scheiterte. Das Unbehagen gegen die Einwanderung war einer der Gründe, dass der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftraum EWR am 6. Dezember 1990 mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,3 Prozent abgelehnt wurde.
Industrialisierung erhöhte den Ausländeranteil
Auch wenn das Resultat vom 7. Juni 1970 viele überraschte, war die Diskussion damals nicht neu: Seit der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schweiz auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Gründe waren der wachsende Aufschwung, die steigenden Bedürfnisse von Industrie, Hoch- und Tiefbau, aber auch der Bau von Eisenbahnlinien und Alpentunnels. Betrug der Ausländeranteil um 1850 gerade mal 3 Prozent so lag er 1910 bereits über 14 Prozent. Eine Mehrheit der ausländischen Arbeitskräfte lebte in den Städten. Genf hatte 1910 einen Ausländeranteil von 40, Zürich von 34 Prozent. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sorgte in Zürich etwa der hohe Anteil von Deutschen für Polemiken. Der Schweizer Schriftsteller Meinrad Inglin (1893 – 1971) beschreibt das in seinem Roman Schweizerspiegel von 1938 auf eindrückliche Weise. Aber auch die Italiener spielten damals eine tragende Rolle in der Schweizer Wirtschaft, so kamen mehr als 80 Prozent der Arbeitskräfte beim Eisenbahnbau aus Italien. Das Verhältnis zu den Schweizern war nicht immer einfach. 1893 und 1896 kam es in Bern und Zürich zu eigentlichen Krawallen zwischen Einheimischen und Italienern, die Auseinandersetzungen sind als Käfigturmkrawall respektive als Italienerkrawall in die Geschichtsbücher eingegangen.
Der Begriff Überfremdung – ein verräterisches Sprachbild – findet sich erstmals 1900 in einer Broschüre des Zürcher Armensekretärs Carl Alfred Schmid. Hatte die Schweiz bis 1914 eine relativ liberale Einwanderungspolitik praktiziert, zog man nun die Bremse an. Dabei wurde immer wieder mit der bedrohten kulturellen Identität der Schweiz argumentiert. In diesem Kontext muss auch die Gründung der Fremdenpolizei im Jahr 1917 gesehen werden. Sie regelte und überwachte fortan ausländische Staatsbürger. Es gab auch andere Stimmen: Der Schriftsteller Max Frisch schrieb 1965 in einem berühmten Aufsatz «Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen». Auch die italienische Presse kritisierte die unmenschlichen Bedingungen für Saisonarbeiter in überfüllten, überteuerten Baracken am Rand der Schweizer Städte.
Bis zur Annahme der Bilateralen Verträge mit der Europäischen Union brauchte jeder Arbeiter aus dem Ausland eine Bewilligung. Viele durften jeweils nur eine Saison bleiben. Diese Regelungen wurden abgeschafft, als die Schweiz im Jahr 1999 Freizügigkeitsabkommen und die Bilateralen Verträge mit der EU unterzeichnete. Die italienische Arbeitsmigration wird heute sowohl von der Schweiz als auch von Italien als erfolgreicher Prozess betrachtet. Seit den 1980er-Jahren hat sich der Schwerpunkt der Diskussion von der Ausländer- auf die Asylpolitik verlagert. Dabei ist auch die Auseinandersetzung mit dem Islam wichtiger geworden. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit liessen sich nicht ausrotten – mit dem Antirassismus-Gesetz von 1995 gibt es hier aber eine bessere Handhabe.