In Cevio lädt ein Lehrpfad des Museo di Valmaggia zum Entdecken der Grotti ein. Im Vordergrund das «Grotto del Sole».
Jean-Luc Rickenbacher

Das Tessiner Grotto

Ein Besuch in einem Grotto bereichert jeden Aufenthalt im Tessin. Es ist ein Erlebnis, lokale Produkte und Gerichte unter Schatten spendenden Bäumen zu geniessen. Welche Geschichten erzählen die beliebten Steinbauten?

Jean-Luc Rickenbacher

Jean-Luc Rickenbacher

Jean-Luc Rickenbacher ist Historiker und Kurator im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern.

Als es noch keine Kühlschränke gab, mussten andere Methoden für die Konservierung gefunden werden. Im Tessin lagerten die Menschen ihre Lebensmittel in Felshöhlen. Dabei machte man sich ein natürliches Phänomen zu Nutze: durch die Hohlräume strömt aufgrund der Temperaturunterschiede ein permanentes Lüftchen. Die Luftzirkulation führt dazu, dass es in den Grotten übers ganze Jahr kühl ist und die Temperatur konstant bleibt. Ideale Bedingungen, um Fleisch, Käse und Wein zu lagern. Gab es in den Felshöhlen zu wenig Platz für den Vorrat, wurden sie weiter ausgehöhlt oder im Aussenbereich mit kleinen Steinhäusern erweitert. Auf dem Vorplatz bauten die Bauern einen Steintisch und eine Sitzbank auf. In den seltenen Momenten der Ruhe setzten sie sich in den Schatten der Kastanien, assen einen Happen Fleisch und erzählten sich bei einem Glas Wein einige Anekdoten.

Felsenkeller bei Cevio im oberen Maggiatal.
Jean-Luc Rickenbacher

Bauern beim Verspeisen ihrer Erzeugnisse.
Dante Peduzzi

Beliebte Begegnungsstätten

Die Vorratskammern von einst entwickelten sich zu wichtigen Begegnungsstätten für die lokale Bevölkerung. Die Vorplätze wurden vergrössert und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste Ausschankgenehmigungen ausgestellt. Das Grotto Morchino in Pazzallo bei Lugano fand sogar Erwähnung in der 1919 erschienenen Novelle «Klingsors letzter Sommer» von Hermann Hesse, der sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Tessin niederliess. Den Wein tranken die Tessiner traditionellerweise aus dem «Boccalino» oder dem «Tazzino». Einige Exemplare der von Hand hergestellten und individuell bemalten Tongefässe sind regelrechte Zeugnisse der Handwerkskunst. Der Wein wurde entweder pur getrunken oder mit «Gazzosa», einem aromatisierten und kohlesäurehaltigem Limonadegetränk, verdünnt. Beliebt waren ausserdem die Boccia-Bahnen, die neben einigen Grotti entstanden. Stundenlang wurde gewetteifert, wer seine Kugel am nächsten ans «Pallino» (die kleine weisse Kugel) wirft. Neben angeregt geführten Gesprächen wurde mancher Besuch im Grotto musikalisch mit einem Lied oder mit der Mandoline begleitet.

Boccalino mit zwei Ausgüssen zwischen den Henkeln, um 1850 hergestellt. Fayence, bemalt, glasiert.
Schweizerisches Nationalmuseum

Boccia-Bahnen vor den Grotti in Cama GR, Anfang 20. Jahrhundert.
Dante Peduzzi

Ein altes Paar sitzt auf den Granitstufen eines Tessiner-Hauses – der Mann hält ein «Boccalino» in der Hand. Die Frau − mit Kopftuch und durchlöcherter Schürze - dreht eine Handspindel. Fotografiert von Rudolf Zinggeler-Danioth (1864 - 1954).
Schweizerisches Nationalmuseum

Tragödie am Luganersee

Die Grotti sollten jedoch nicht zu einem Ort der Begegnung verklärt werden, wo jederzeit Freude und Heiterkeit herrschte. Der Alltag der bis weit ins 20. Jahrhundert agrarisch geprägten Gesellschaft war hart. Der Name des «Grotto America» in Tegna ist bezeichnend für die Emigration Zehntausender Tessiner nach Übersee, die ihre Heimat verliessen, um der verbreiteten Armut und Arbeitslosigkeit zu entgehen. Grosse Teile der Bevölkerung in den Grenzregionen versuchten ihren spärlichen Verdienst mit Schmuggel aufzubessern. In den Grotti teilte man sich dementsprechend ebenfalls seine Sorgen mit, liess dem Frust freien Lauf oder trank auch einmal ein Gläschen über den Durst. Ausserdem sind tragische Zwischenfälle dokumentiert, die sich in der Nähe der Grotti ereigneten. Für Aufsehen sorgte im Jahr 1930 das mysteriöse Verschwinden des damaligen Chefs des Grenzwachtpostens von Cantine di Gandria. Als Mario Vaccani nach einem Besuch im nahe gelegenen Grotto ans gegenüberliegende Ufer rudern wollte, wurde sein Boot in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni inmitten des Luganersees leer aufgefunden. Von ihm fehlt noch heute jede Spur.

Gandria, Anfang 20. Jahrhundert. Bis 1936 konnte das am Fusse des Monte Brè gelegene Dorf nur mit dem Boot oder über beschwerliche Wege erreicht werden. Das malerische Gandria hat sein ursprüngliches Dorfbild mit den steilen Treppen und engen Gässchen bis heute bewahrt.
Archivio di Stato del Cantone Ticino

Der verschollene Grenzwächter Mario Vaccani (1894-1930) in Uniform mit seiner Tochter Maria.
Fabio Masdonati

Eine Schmugglergruppe wartet in einem Grotto in Scudellate (Muggiotal) auf die Nacht.
Archivio di Stato del Cantone Ticino

Der Inbegriff von Genuss

Nach dem Zweiten Weltkrieg liess die zunehmende Verbreitung des Kühlschranks die Nutzung der Grotti zurückgehen. Weil sie ihre traditionelle Funktion als Vorratskammern verloren, wurden sie oft vernachlässigt. Andere ergänzten die Vorplätze mit zusätzlichen Sitzgelegenheiten und bauten ihre Grotti massiv aus. Manche unterschieden sich kaum mehr von gewöhnlichen Tavernen und Restaurants. Bei Touristen entwickelten sie sich zu beliebten Zielen von Tagesausflügen. Die aus dem Tessin als Souvenirs mitgebrachten «Boccalini» waren bald schweizweit bekannt und die in Bügelflaschen abgefüllten «Gazzose» werden mittlerweile in allen Landesteilen angeboten. Im Tessin und in den italienischsprachigen Tälern des Bündnerlands gibt es verschiedene Bestrebungen, das kulturelle und kulinarische Erbe der Grotti zu reaktivieren. Sie haben ihren rustikalen Charakter behalten und stehen heute stellvertretend für Genuss und Entschleunigung.

Der Wein und das «Gazzosa» finden Gefallen bei Jung und Alt.
Dante Peduzzi

Dokumentarfilm zu den Grotti mit humoristischen Kommentaren des Tessiner Schriftstellers Sergio Maspoli (1920-1987).
Radiotelevisione Svizzera, «Da tempo nostro», 2.9.1964

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