Matterhorn und Skier, 1965.
Skination Schweiz: Wie viel ist Realtität? Wie viel Mythos? Schweizerisches Nationalmuseum

Das ganze Volk fährt Ski! Das ganze Volk…?

Die Schweiz sieht sich als grosse Skination. Woher kommt dieses Selbstverständnis? Ist es mehr Mythos oder mehr Realität?

Simon Engel

Simon Engel

Simon Engel ist Historiker und bei Swiss Sports History für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Das Multi-Showbusiness-Talent Vico Torriani besang 1963 ein Schweizer Lebensgefühl und Nationalbewusstsein zugleich: Alles fahrt Ski, alles fahrt Ski. Ski fahrt die ganzi Nation. Alles fahrt Ski, alles fahrt Ski, d'Mamme, dr Bappe, dr Sohn. Es git halt nüt Schöner's, juhe, juhe, als Sunneschy, Bärge und Schnee. Für viele Schweizerinnen und Schweizer gehörte ab den 1960er-Jahren der Gang auf die Skipiste tatsächlich zum Alltag. Ein richtiger Schweizer fährt schliesslich Ski! Ob damals wirklich die ganze oder nur die halbe Nation Ski fuhr, ist schwierig zu eruieren, genaue Statistiken für diese Fragestellung fehlen. Dafür gibt es für die Gegenwart verlässliche Daten: Skifahren gehört gemäss Sport 2020, einer Studie über die Sportaktivität und das Sportinteresse der Schweizer Wohnbevölkerung, nebst Wandern, Velofahren, Schwimmen und Joggen zu den Top 5. Insgesamt fahren aber nur knapp 35 Prozent der Bevölkerung regelmässig Ski, was aber im Vergleich zu anderen Sportarten trotzdem ein sehr hoher Wert ist. Aber reicht dies, um sich als Skination zu bezeichnen?
Vico Torriani sang die Schweiz zur Skination. YouTube
Tourismusbranche, Politik und Medien beschwören trotzdem unbeirrt die Skination Schweiz: Keine Werbung ohne Verweis auf die lange Skitradition des Landes, kein Rückblick bei SRF Sport ohne die «Goldenen Tage von Sapporo». Es ist eine Erinnerungskultur, in der schneebedeckte Berge, Skilager und Skirennen am Fernsehen als Kollektivereignisse vorkommen. Oft untermalt mit Vico Torrianis Gassenhauer. Weil die Einführung des Skisports in der Schweiz aber auf ausländische Einflüsse zurückzuführen ist und das Produkt einer global vernetzten Schweiz war, musste das Skifahren erst «nationalisiert» werden. Zwischen den ersten Skisportlern in der Schweiz und dem nationalen Mantra «Alles fährt Ski» vergingen etwa 70 Jahre. Menschen, die auf Holzlatten durch den Schnee gleiten, gab es schon in der Steinzeit auf verschiedensten Erdflecken. Oft dienten die Ski Bauern und Handwerkern als Transport- und Fortbewegungsmittel. Die Norweger waren Mitte 19. Jahrhundert aber die Ersten, die daraus einen Sport machten: Skilaufen (also Langlauf) und Skispringen wurden eine geläufige Freizeitbeschäftigung aller Volksschichten. In die Schweiz kam der Skisport um 1890 durch norwegische Geschäftsleute und Akademiker, die mit Schweizern zu tun hatten, oder in der Schweiz lebten. Popularisiert wurde das Skilaufen aber vor allem durch das Buch Auf Schneeschuhen durch Grönland von Fridtjof Nansen, auch er ein Norweger. Nansen beschrieb darin seine für damalige Verhältnisse sensationelle Durchquerung Grönlands auf Skiern. Das belesene Stadtbürgertum Mitteleuropas war von der Erzählung Nansens fasziniert und liess sich begeistert «norwegische Schneeschuhe» liefern: Skilaufen versprach eine Flucht von der Hektik und dem Dreck der industrialisierten Städte in herrliche Winterlandschaften mit sauberer Luft.
Skifahren war Ende des 19. Jahrhunderts etwas für reiche Touristen.
Skifahren war Ende des 19. Jahrhunderts etwas für reiche Touristen, wie diese Herrschaften 1890 im Graubünden. Schweizerisches Nationalmuseum

Ski alpin ist eine britische Erfindung

In der Schweiz waren es zunächst die Alpinisten, welche die Skier für ihre Touren entdeckten. 1893 wurde in Glarus der erste Skiclub gegründet, 1902 fanden die ersten Skirennen statt und 1904 wurde der Schweizerische Skiverband (SSV) gegründet. Schnell schwappte der Skisport auch auf die Wintersportorte wie St. Moritz, Gstaad oder Davos über, wo sich seit den 1870er-Jahren britische Touristen aus der upper class tummelten. Sie hatten bereits Vergnügungen wie Curling oder Eishockey in die Schweiz gebracht, waren also grundsätzlich sportbegeistert. Es dauerte nicht lange, bis einige von ihnen den neuartigen Skisport entdeckten. Einer dieser Briten war Arnold Lunn. Er war der Sohn eines Reiseunternehmers, der in Mürren Winterferien für gut betuchte Briten anbot. Seiner Herkunft und sozialen Schicht entsprechend, interpretierte Lunn Junior das Skilaufen gemäss den Prinzipien der British sports: Wettbewerb, Geschwindigkeit und freie Bewegung. Es waren Werte einer industriellen Elite des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich aus dem Glauben an Fortschritt, Technik und Vermessung speisten. In den steilen Hängen der Alpen fand Lunn ein ideales Experimentierfeld vor: Mit gleichgesinnten Briten und Schweizern organisierte er ab 1911 Rennen, die nach dem Prinzip downhill only funktionierten, sprich einen Hang möglichst schnell herunterfahren. Damit erfanden Lunn und Co. das Ski alpin – also das, was der Volksmund heute unter Skirennen und Skifahren versteht.
Das Prinzip des downhill only war dafür verantwortlich, dass der Skisport in der Schweiz später massentauglich und zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor wurde: Sich einen passenden Hang suchen und dann im Rausch der Geschwindigkeit runterflitzen, machte einfach mehr Spass und entsprach dem aufkommenden Zeitgeist der Massenkultur, wonach die Freizeit mit möglichst viel Inhalt und Vergnügen gestaltet werden sollte. In seinen Anfängen blieb der Skisport aber noch eher ein Vergnügen für reiche Touristen und Einheimische, das für Mondänität und Internationalität stand. Dass Skifahren dann zum Schweizer Volkssport und damit «nationalisiert» wurde, hat vor allem mit den beiden Weltkriegen zu tun.

Wegen Kriegen wird Skifahren nationaler

Der Erste und Zweite Weltkrieg brachte den internationalen Tourismus zum Erliegen, nicht aber das Skifahren an sich, weil Skiverband, Bergbahnen, Hoteliers und die Politik gemeinsam versuchten, der einheimischen Bevölkerung den Skisport schmackhaft zu machen. Der SSV verschenkte beispielsweise Skier an Jugendliche und unterstützte die Schaffung von Skischulen sowie einheitlichen Ski-Lehrbüchern. Entscheidend waren aber die von Bund und Kantonen gewährten Steuergelder, die auf das starke Lobbying der Hoteliers und deren Gehilfen im Parlament zurückzuführen waren: Zunächst zur Rettung von Hotels und Bergbahnen, später für die Einführung eines vergünstigten Wintersportbillets oder zwecks Subventionierung von Skilagern und Skischul-Kursen. Ab den 1940er-Jahren führten erste Kantone zudem die Sportferien ein, die zum Skifahren genutzt werden sollten.
Werbung für Skischulen.
Auch mit Rabatten in den Skischulen wurde geworben. Swiss Sports History
Auch die Armee trug ihren Teil zum nationalen Projekt bei: Das militärische Potential der Ski wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg entdeckt und bald zur Standardausrüstung der Gebirgstruppen. Ab 1908 wurden eigene Skikurse durchgeführt und während dem Zweiten Weltkrieg gab es gar eine gemeinsame Werbeaktion mit der Tourismusbranche: Unter dem Slogan «Gesunde Jugend. Wehrkräftiges Volk durch Wintersport» beschrieb General Guisan die Berge und den Wintersport als ideales Feld, um die physische und moralische Stärke zu erlangen, die es für die Landesverteidigung brauche.
Ein Grenzwächter auf Tour, 1945.
Bewaffneter Grenzwächter auf Skitour, 1945. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Die konzertierte Propagandaaktion war höchst erfolgreich, dank der neuen einheimischen Touristen erreichten die Schweizer Hotels in der Saison 1943/44 rund 90 Prozent der Auslastungen der Vorkriegsjahre. Bundesrat Kobelt konnte 1945 folgerichtig verkünden: «Die Schweizer Jugend fährt Ski, das ganze Volk fährt Ski und die Schweizer Armee fährt Ski!» Die vielen internationalen Erfolge der Schweizer Ski-Cracks ab den 1930ern verstärkten das Gefühl, eine Skination zu sein. Diese Meistererzählung funktionierte nahezu 60 Jahre ganz ordentlich: Die Kinder lernten in einem Skilager oder in der Skischule die ersten Schwünge, in den Sportferien ging man mit der Familie auf die Piste und die Medien begleiteten euphorisch die Schweizer Skistars. Mitte der 1980er-Jahre zeigten sich erste Risse, als auf den Pisten die Snowboarder auftauchten und sich mit ihren hippen Klamotten und ihrem frechen Auftreten nicht in die kollektive Skitradition einfügen wollten. Die «Snöber» standen für einen neuen Lifestyle und für einen sportlichen Individualismus, der bis heute wirkt: Herr und Frau Schweizer können im Vergleich zu früher aus unzähligen Angeboten auswählen, wovon Skifahren nur eines von vielen ist. Das Skilager heisst heute «Wintersportlager», in den Sportferien fliegt man mit der Familie auf die Malediven und die Medien berichten auch noch über Halfpipe-Snowboarding, Biathlon und Big Air. Das ganze Volk... macht, was es will!
Primin Zurbriggen und Maria Walliser 1987 in Crans-Montana.
Medaillen wie jene von Primin Zurbriggen und Maria Walliser 1987 in Crans-Montana steigerten das Gefühl, eine Skination zu sein. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Snowboard Look aus Deutschland, hergestellt um 1980.
Snowboard Look aus Deutschland, hergestellt um 1980. Schweizerisches Nationalmuseum
Das Selbstverständnis der Skination Schweiz entstammt ursprünglich also einem geschickten Marketingzug und hat bis heute eine starke Verbindung zu Tourismus, Sport und zur Armee. Heute meint die Skination auch eine nostalgische Rückblende auf die Zeit zwischen 1930 und 1990. Die norwegischen und britischen Geburtshelfer geraten dabei jedoch aus dem Blickfeld und wenn sie trotzdem auftauchen, dann höchstens an ihren lokalen Wirkungsorten. Genauso funktionieren nationale Mythen: Ein Teil der nicht ins nationale Konzept passenden Geschichte wird immer ausgeblendet oder erscheint nur verschwommen. Die Skination Schweiz ist deshalb ein Mythos, dem es in den heutigen Zeiten an Zugkraft fehlt: Was soll einem kosovarischen Secondo die Geschichte von Pirmin Zurbriggens «Knie der Nation» sagen? Oder fragen Sie mal eine 15-jährige Schülerin, ob sie in den nächsten Sportferien Ski fahren wird. Die Antworten könnten ernüchternd sein...
TV-Beitrag über das Knie der Nation. YouTube / SRF

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Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Swiss Sports History, dem Portal für Schweizer Sportgeschichte. Schulische Vermittlung sowie Informationen für Medien, Forschende und die breite Öffentlichkeit stehen im Zentrum des Portals. Mehr dazu auf sportshistory.ch

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