Von der Burg zur Stadt – Umbruch im Spätmittelalter
Ungleiche Gegner aus der gleichen Gegend. Auf dem Schlachtfeld bei Sempach stehen sich 1386 einstige «Nachbarn» gegenüber. Die Zeit der Ritter und Burgen geht zu Ende. Die Zukunft gehört den aufstrebenden Städten.
Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.
Im Vorfeld der Schlacht von Sempach ergibt sich im Schweizer Mittelland eine explosive Lage. Mehrere Städte, vor allem Bern und Luzern, aber auch Solothurn und Basel bauen ihr Territorium aus. Luzern nimmt immer mehr österreichische Landleute ins städtische Burgrecht auf, die «mit rechte Herzog Lewpolten angehörtten». Das verstösst gegen Reichsrecht und untergräbt die Herrschaft und Existenz des Adels.
Die Kraftprobe ist programmiert
Als Luzern diese Politik im Januar 1386 intensiviert, zuerst das Entlebuch und die Kleinstadt Sempach in sein Burgrecht aufnimmt, danach die Städtchen Meienberg, Richensee und Willisau, spitzt sich der Konflikt zu. Hier Luzern, das von einer österreichischen Landstadt zu einer reichsfreien, das heisst direkt dem Kaiser unterstellten Stadt mit gehörigem Umland werden will, dort die Habsburger, die ihren Streubesitz zu einem Herzogtum Schwaben zusammenfassen wollen. Stadt gegen Adel, ihr oder wir.
Geschichte ist immer konkret
«Stadt gegen Adel», als Formel griffig, aber abstrakt. Um uns in die Vergangenheit hineinzudenken, brauchen wir Berichte, die uns Entscheide und Schicksale von Menschen näherbringen. Dabei können Gegenüberstellungen den Blick schärfen. So verhält es sich auch bei zwei Gegnern im Sempacherkrieg, beim Ritter und österreichischen Gefolgsmann Johann von Rinach und beim Anführer der Luzerner, Petermann von Gundoldingen.
Einstige «Nachbarn»
Dem Aufgebot von Herzog Leopold folgt im Juli 1386 ein Heer von Rittern aus Schwaben, dem Elsass, Aargau, Thurgau und Tirol. Dazu kommen Söldner aus Italien, Frankreich, Deutschland sowie Mitglieder der Führungsschicht süddeutscher Städte. Die Habsburger erkennen den Ernst der Lage. Sie wollen das «grobe torisch bawern volck» in die Schranken weisen. Ein Schädigungskrieg der gröberen Sorte.
Elsass und Tirol sind fern, die Oberrinach ist nah. Bloss eine gute Wegstunde trennt die obere Burg der österreichischen Dienstadeligen Rinach in Römerswil vom Weiler Gundoldingen bei Rain, Herkunftsort der Magistratsfamilie des Luzerner Anführers Petermann von Gundoldingen. Bis gegen 1500 lebt ein Teil seiner Familie noch auf dem Land. Ein anderer sucht das Glück früh in der Stadt Luzern, verbürgt seit 1312.
Ritter Johann [Hemmann] von Rinach (1360–1425), (links, bzw. oben); Petermann von Gundoldingen, Schultheiss von Luzern (†1386), (rechts, bzw. unten). Zwei Epochen, zwei Welten. Um 1400 verlagern sich die Herrschaftszentren von den Burgen in die Städte. Rekonstruktionen im Museum zum Rathaus Sempach.Atelier Marcel Nyffenegger, Flurlingen ZH / wapico Bern
Die Herren von Rinach – blühender Adel
Erste Nachrichten des Geschlechts datieren von 1210. Ursprünglich aus freiem Stand, treten die Rinach in die Dienste des Hochadels, vorerst der Kyburger, dann der Habsburger und verbreiten sich auf drei Stammburgen in unmittelbarer Nähe: auf der Unteren Rinach in Burg AG, der Oberen Rinach in Römerswil LU sowie der Hinteren Rinach in Rickenbach LU. Bis 1386 gehört das Adelsgeschlecht zu den bedeutendsten im heutigen Luzernbiet. Sein Streubesitz reicht über das Wynental in den Raum Aare.Geheiratet wird ebenbürtig, wie es der ständischen Gesellschaft entspricht. Die Rinach sind mit ihresgleichen verbunden bis in österreichische Gebiete jenseits des Rheins. Ebenso standesgemäss treten zahlreiche Frauen und Männer der Familie ins Kloster ein. Hesso von Rinach (†um 1280) wird Propst in Schönenwerd, Jakob (†1363) im nahen Stift Beromünster, Wernher (†1383) in Zürich.
Die Schlacht bei Sempach als Tragödie und Wende
Der 9. Juli 1386 wird für die Ritterschaft zur Katastrophe. Konkret: Bei Sempach fallen von der Oberen Rinach der erst 14-jährige Rutschmann, der 38-jährige Ulrich, sein Schwiegersohn Hans von Hallwyl und dessen Bruder Thüring. Heinrich von Rinach stirbt sechs Wochen nach der Schlacht mit 40 Jahren an seinen Verletzungen. Von der Unteren Rinach erleiden den «jähen Tod» die Zwillinge Günther und Friedrich, 19-jährig, dazu ihr Schwager Albrecht von Mülinen. Tod, Trauer, Verzweiflung.
Nur Johann von Rinach von der Unteren Burg überlebt. Warum, weiss man nicht. Wo die Quellen schweigen, sprudelt der Volksmund. Eine Legende berichtet, Johann habe sich beim Abschneiden seiner modischen, aber unpraktischen Schuhschnäbel verletzt und deshalb nicht am Kampf teilgenommen. Fakt ist: Er wird zum alleinigen Stammhalter des Geschlechts. Die anderen Linien sterben im 15. Jahrhundert aus.
Exemplarisch: weg aus der Eidgenossenschaft, Karriere im Ausland
Das Beispiel der Rinach taugt fürs Lehrbuch: Im Herrschaftsgebiet der ambitionierten Stadt Luzern ist für Rittergeschlechter wie die Rinach kein Platz mehr. Ihre drei Burgen werden geschleift und nicht wieder aufgebaut. 1464 verkauft die Familie ihren Besitz im Michelsamt, kurz danach im Aare- und Wynental. 1545 erfolgt der letzte Verkauf von Gütern in den Stammlanden.
Im Gegenzug schafft sich das Geschlecht im Elsass und im Breisgau eine neue Existenz, wiederum im Dienste Habsburgs. Die Rinach erwerben zahlreiche Vogteien und Herrschaften und erreichen einen rasanten gesellschaftlichen Aufstieg. Sie werden Grafen des französischen Königs und kaiserliche Reichsfreiherren. Im fürstlichen Ausland möglich, in den Stadt- und Landorten der Eidgenossenschaft undenkbar. Hier finden Dienstadelige allenfalls Zugang zu Rat und Ämtern einer Stadt. Doch was den von Hertenstein in Luzern gelingt, misslingt den von Hallwyl in Bern.
«Ach, willst Du mich nicht trösten mit deinem roten Mund, sieh, so sterbe ich»
Johann von Rinach, der 1386 überlebt, ist zwar Stammhalter des Geschlechts. Bekannter als er wird aber der Minnesänger Hesso von Rinach, der im 13. Jahrhundert lebt. Unter seinem Namen sind zwei Minnelieder mit sieben Strophen bekannt. Hier ein Auszug:
Süeze trœsterîn,
trœste mîne sinne
dur die minne dîn.
in der minne ich brinne [brenne],
von der minne fiure [Für, Feuer] lîde ich sende nôt [Sehnsuchtsschmerz].
hey mündel rôt,
wilt du mich niht trœsten, sich [sieh], sô bin ich tôt.
Die von Gundoldingen – Aufstieg nach Luzerner Art
Luzern entwickelt sich aus einer Klostersiedlung. Als die Habsburger 1291 die Stadt kaufen, wird Luzern eine österreichische Landstadt und bleibt es auch nach dem Bund mit den drei Waldstätten 1332. Die Rechte Österreichs werden nicht tangiert. Dass nun zwei Lager entstehen, versteht sich. Die einen möchten sich vermehrt Habsburg zuwenden, die andern der Innerschweiz. 1343 gibt es einen «uflouff», in den Quellen nur schwer fassbar, aber ein Steilpass für eine dramatische Sage: Mordnacht! Als Illusion nicht schlecht, nur wird eine ähnliche Verschwörungsgeschichte noch in 14 anderen Schweizer Städten erzählt.Wie kein anderes Geschlecht verkörpern die von Gundoldingen in der Zeit des Sempacherkriegs den Übergang Luzerns von der österreichischen Landstadt zur politischen Eigenständigkeit. Nach 1300 steigt die Familie rasch auf, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Heiraten in die Oberschicht tragen auch hier zum modellhaften Aufstieg bei.
Werner von Gundoldingen, vermutlich Gerber, ist 1352 laut Steuerregister der reichste Bürger von Luzern. Wirtschaftliche und politische Macht schaukeln sich gegenseitig empor. Ab 1346 ist er wiederholt Schultheiss, ebenso sein Bruder Niklaus. Werners Sohn ist Petermann von Gundoldingen, der während 24 Jahren ununterbrochen das Schultheissenamt innehat. Während 40 Jahren stehen somit drei Vertreter der Familie an der Spitze Luzerns.
Das Ende der Dynastie dramatisch: 1384 wird Petermann mit einer Verfassungsänderung zum Rücktritt gezwungen. Zwei Jahre später überträgt ihm die Stadt dennoch die militärische Leitung im Krieg gegen Österreich. Petermann von Gundoldingen führt die Luzerner bei Sempach an und fällt am 9. Juli 1386.
Gundoldingen – ein historisches Scharnier
Bezeichnend, dass die führenden Familien in Luzern nicht aus einem alten Adel hervorgehen. Das trifft nicht erst auf das Patriziat seit dem 16. Jahrhundert zu, sondern bereits auf das 14. Jahrhundert. Die von Gundoldingen sind Landleute, die in die Stadt ziehen und die Gunst der Stunde und ihre Talente nutzen.
Noch 1379, wenige Jahre vor dem Sempacherkrieg, übernehmen Petermann und sein Sohn die Vogteien Ebikon und Rotsee als Pacht – von den Habsburgern! So weit auseinander liegen die beiden Welten nicht, dass sie nicht Geschäfte im beidseitigen Interesse ermöglichen. 1380 erwirbt Petermann, nun für Luzern, die Vogtei Weggis und treibt die Aufnahme österreichischer Landsassen voran. Dass er zudem als Schiedsrichter sowohl für die eidgenössischen Orte als auch für Österreich tätig ist, weist ihn als eine politische Persönlichkeit aus, die zwischen oder sogar über den Fronten steht.
Nicht Bruchstelle, sondern Überlagerung
Für Habsburg ist die Schlacht bei Sempach der Anfang vom Ende im Land der «groben bawern», für Luzern der Anfang des Stadtstaats. Rückt ein Ereignis in den Vordergrund, gehört stets der Hintergrund dazu, der grosse Bogen, oft eine Überlagerung wie hier: Die «Wiedergeburt der Städte» setzt bereits im 12. Jahrhundert ein; Rittergesellschaften werden noch im 15. Jahrhundert gebildet. Allerdings ist das eher ein Aufflackern. Durchgesetzt haben sich bereits die Städte.
PS. Nach der «Freiheitsschlacht» von 1386 nennt der Luzerner Rat die Bewohner der Landschaft die «Unsern». Das hält nicht ewig. Seit dem 16. Jahrhundert sind die Landschäftler die «Untertanen».
James Blake Wiener06.02.2024Es wird oft vergessen, dass Locarno ein Brennpunkt der konfessionellen Konflikte war. Die Protestanten in Locarno und ihre anschliessende Vertreibung im Jahr 1555 lösten unter den Eidgenossen heftige Auseinandersetzungen und grosses Misstrauen zwischen den Konfessionen aus.
Benedikt Meyer10.12.2018Was hat der Burgunderkönig mit dem Kanton Jura zu tun? Und wieso herrschten die Preussen im französischsprachigen Neuenburg? Weil mehr zusammenhängt, als man manchmal meint.