«Schöne» Silvesterchläuse, unterwegs in Urnäsch, zwischen 1975-1985.
«Schöne» Silvesterchläuse, unterwegs in Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG

Von schönen und wüsten Silversterchläusen

Jeweils am 31. Dezember und 13. Januar ziehen wunderliche Gestalten durch das Hinterland des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Einige tragen verzierte Hüte andere schreckliche Tierfratzen. Es sind «Silversterchläuse», die das alte Jahr ausläuten und das neue begrüssen.

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner hat Anglistik und Politikwissenschaften studiert und leitet die Abteilung Marketing & Kommunikation des Landesmuseums.

Das «Silvesterchlausen» in Urnäsch und Umgebung ist neben der Alpfahrt einer der in der ganzen Schweiz bekannten Appenzeller Bräuche. Der Brauch bezieht seine Faszination aus der einzigartigen Verbindung von Gegensätzen wie Natur und Kunst, Geheimnis und Tradition sowie Harmonie und Anarchie. Von den Chläusen gibt es drei Arten: Die «Schöne», die «Wüeschte» und die «Schö-Wüeschte». Die «Schöne» sind, wie ihr Name schon sagt, schön und reich verziert. Sie tragen samtige Hosen oder Röcke, die an eine Tracht erinnern. Über dem Gesicht tragen sie eine einfache Maske mit roten Wangen. Auf dem Kopf thront ein grosser, flacher Hut, auf dem mit geschnitzten Figuren Szenen aus dem täglichen Leben dargestellt sind. Alles ist mit tausenden von Glasperlen verziert. Die Gruppen, im appenzellischen «Schuppel» genannt, nähen und schnitzen die Kleider und Verzierungen selber und beginnen oft schon im Frühling mit den Vorbereitungen. Die Aufmachung der «Wüeschten» ist nicht weniger aufwändig. Sie tragen furchterregende Masken und mit Heu, Stroh, Tannenreisig und anderen Naturmaterialien besteckte Kleider. Die «Schö-wüeschte» sind eine Mischung der beiden anderen Sorten. Sie tragen Naturmaterialien, die aber in kunstvollen Mustern arrangiert sind. Auf dem Kopf sind wie bei den «Schöne» ebenfalls geschnitzte Figuren zu entdecken. Allen Chläusen gemeinsam sind die Schellen, die sie in verschiedenen Formen und Grössen am Körper tragen.
«Schöner» Silversterchlaus in Urnäsch, zwischen 1975-1985.
«Schöner» Silversterchlaus in Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG
«Wüeschter» Silvesterchlaus in Urnäsch, zwischen 1975-1985.
«Wüeschter» Silvesterchlaus in Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG
Das Silvesterchlausen beginnt in den frühen Morgenstunden. In Urnäsch treffen sich die verschiedenen Schuppel auf dem Dorfplatz, bevor jede Gruppe ihren eigenen Weg geht. Vor einem Haus angekommen, hüpfen und springen die Chläuse auf und ab und lassen so ihre Schellen klingen. Dann stimmen sie vorsichtig ein Zäuerli, eine Art Naturjodel, an. Andächtig hören die Familie des Hauses und die zahlreichen Touristen und Schaulustigen zu. Anschliessend wünschen die Chläuse der Familie des Hauses ein gutes neues Jahr und erhalten ein Geldgeschenk und etwas zu trinken, das sie mit einem Strohhalm durch die Maske serviert bekommen. Dann ziehen die Chläuse im Eilschritt und unter Schellengeläut weiter.
Zwischenverpflegung nach dem Zäuerli, Urnäsch, zwischen 1975-1985.
Zwischenverpflegung nach dem Zäuerli, Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG
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Vorbereitungen frühmorgens, Urnäsch, zwischen 1975-1985.
Vorbereitungen frühmorgens, Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG
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Ein Schuppel macht vor einem Bauernhaus halt, 2020.
Ein Schuppel macht vor einem Bauernhaus halt, 2020. Wikimedia / JCbgr007
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«Schöne» Silvesterchläuse, unterwegs in Urnäsch, zwischen 1975-1985.
«Schöne» Silvesterchläuse, unterwegs in Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG
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«Wüschte» Silvesterchläuse, unterwegs in Urnäsch, zwischen 1975-1985.
«Wüschte» Silvesterchläuse, unterwegs in Urnäsch, zwischen 1975-1985. ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG
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Vom Weihnachts- zum Silvesterbrauch

Früher war man der Meinung, dass der Brauch einen heidnischen Ursprung hat. Heute ist man vorsichtiger. Die Herkunft des Brauches in seiner heutigen Form ist klar christlich, wie es der Name des Brauches verrät. Das «Chlausen» bezieht sich auf den Heiligen Nikolaus. Es gibt Hinweise, dass das Chlausen ursprünglich nicht am Jahreswechsel, sondern über Weihnachten stattgefunden hat. Der erste schriftliche Beleg für den Brauch im Appenzellerland findet sich in einem Sittenmandat der reformierten Kirche von 1663. Es verbietet das «St.Niclaussen» an Weihnachten «mit Herumblauffen, Polderen und Schellen» in der Nacht. Die Verehrung eines Heiligen – und das dazu noch am Weihnachtsfest – war der reformierten Kirche ein Dorn im Auge. Sie hatte den Heiligen Nikolaus als Geschenkebringer mit dem Heiligen Christ, dem späteren Christkind, ersetzt. Diese Umstände führten wohl über die Zeit dazu, dass der Brauch des Silvesterchlausens einerseits erst nach dem Heiligen Weihnachtsfest stattfand und andererseits die Verkleidungen «archaischer» wurden und sich vom Bild des Nikolaus entfernten, sodass vom Heiligen Nikolaus nur noch der Schweizerdeutsche Name «Chlaus» übriggeblieben ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der Brauch definitiv auf den Silvester verschoben. Für die Kirche war der Brauch somit kein Problem mehr und er fügte sich in die Linie anderer Silvesterbräuche ein, die mit Läuten, Singen, Lärmen oder auf andere Weise das alte Jahr «vertreiben» sollen.
Urnäscher Silversterchläuse während den Kriegsjahren, 1942. Die Verkleidungen sind hier deutlich schlichter als heute.
Urnäscher Silversterchläuse während den Kriegsjahren, 1942. Die Verkleidungen sind hier deutlich schlichter als heute. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Gerade in Zeiten von Armut und Hunger, die das Appenzellerland immer wieder heimsuchten, war das Chlausen ein Weg, um für die Familie einen Zustupf zu verdienen. Die sogenannten «Bettelchläuse» waren vor allem in den 1930er-Jahren unterwegs. Diese Betteltouren führten dann auch dazu, dass das Chlausen stark limitiert wurde und in den 1950er-Jahren in einigen Dörfern beinah ausgestorben war. Es ist der Initiative von einzelnen zu verdanken, dass der Brauch in den 1970er-Jahren nicht vergessen ging und sich heute grosser Beliebtheit erfreut. Das Silvesterchlausen gilt als Teil des immateriellen Kulturerbes der Schweiz.
Unterwegs mit den Silvesterchläusen, «Karussell» vom 13. Januar 1987. SRF

Warum zweimal Silvester?

Das Silvesterchlausen findet sowohl am 31. Dezember, wie auch am «Alten Silvester», dem 13. Januar statt. Woher kommen diese beiden Daten? 1582 liess Papst Gregor XIII zehn Tage im Kalender überspringen. Auf den 4. Oktober 1552 sollte der 15. Oktober folgen. Hintergrund für die Reform war das Osterfest, das sich am astronomischen Frühlingsbeginn orientierte. Denn der 46 v. Chr. eingeführte Julianische Kalender war gegenüber dem Lauf der Sonne elf Minuten zu lang. Bis ins 16. Jahrhundert hatte sich ein Rückstand von zehn Tagen angehäuft. Das machte die Berechnung des Osterfestes sehr kompliziert. Für den Papst war diese Situation untragbar. So verordnete er die Kalenderrevision mit der päpstlichen Bulle Inter gravissimas. Das Dekret kam in einer Zeit, in der die Streitereien der Reformation ihren Höhepunkt erreicht hatten und die Konfessionalisierung Europas weit fortgeschritten war. Für reformierte Gebiete waren jegliche Weisungen und Neuerungen, die vom Papst kamen grundsätzlich suspekt. Für die Kalenderreform bedeutete dies eine höchst unterschiedliche Umsetzung, je nach Gebiet. Im Land Appenzell, zum Zeitpunkt des päpstlichen Dekrets noch ungeteilt, führten die konfessionellen Spannungen dazu, dass die reformierten Gebiete, die später den Kanton Appenzell Ausserrhoden bilden sollten, den julianischen Kalender erst 1798 abschafften. Das Datum des julianischen Silvesters, heute «Alter Silvester» genannt, konnte sich so bis in die Gegenwart halten. Für die Appenzeller hat dies den Vorteil, dass sie Silvester und somit das geliebte «Silversterchlausen» zweimal feiern können.
Porträt von Papst Gregor XIII, zwischen 1586 und 1592.
Porträt von Papst Gregor XIII, zwischen 1586 und 1592. Wikimedia

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