Postkarte mit Matterhorn, 1980.
So stellen sich viele Touristinnen und Touristen die Schweiz vor: Idyllische Alpenlandschaft. Postkarte mit Matterhorn, 1980. Schweizerisches Nationalmuseum

Die Schweiz: Ein Land der Paradoxe

Manchmal braucht es nicht nur einen Blick von innen, sondern auch einen von aussen, um etwas zu verstehen. Zum Beispiel die Mentalität von Schweizerinnen und Schweizern. Diese entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als vielfältiger Spiegel eines paradoxen Landes.

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner hat Anglistik und Politikwissenschaften studiert und arbeitet bei der Kommunikation des Schweizerischen Nationalmuseums.

Die Schweiz: Ein neutrales Land in Mitteleuropa, bekannt für seine humanitäre Tradition, seine Perfektion, seine herausragende Qualität und seine ausgefeilte Demokratie, von seinen Einwohnerinnen und Einwohnern grösstenteils geliebt und bewundert von vielen, die nicht hier leben. Vielleicht manchmal etwas pedantisch und provinziell und mit wenig Sinn für Humor, dafür perfekt organisiert, und man lässt einander in Ruhe. Diese Vorstellung der Schweiz haben wohl viele ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Doch es gibt auch das Bild eines geizigen Landes, dessen gierige Bankiers in ihren Banksafes mit dem Elend anderer Geschäfte machen, oder das Bild eines Landes mit der idyllischen Szenerie, in der man aber unter stetiger sozialer Kontrolle steht und bloss nicht auffallen soll. Bei genauem Hinsehen wird klar: Die Schweiz ist ein Land der Paradoxe. Nicht nur der Blick aus dem Ausland ist sehr verschieden, auch im Inland unterscheidet sich das Selbstbild der Einwohnerinnen und Einwohner stark.
Gold
In der Schweiz werden 50 bis 70 Prozent des weltweiten Goldhandels abgewickelt, trotz manchmal fragwürdiger Herkunft des Goldes. Über Zwischenhändler kommt auch Gold aus Minen, in denen Sklaven und Kinder arbeiten, in die Schweiz. Schweizerisches Nationalmuseum
Ein Beispiel für ein solches Paradox beginnt bereits in der mythischen Wiege der Eidgenossenschaft. Die Befreiungstradition und, als Teil davon, die Erzählung vom Freiheitskämpfer Wilhelm Tell bestimmen das Selbstbild von vielen Schweizerinnen und Schweizern entscheidend. Der Wert der Freiheit ist nicht nur in der Verfassung, sondern auch im politischen Diskurs zentral. In Abstimmungskampagnen wird die Freiheit der Schweizerinnen und Schweizer oder die Unabhängigkeit des Landes oft als Argument angeführt, das meistens gar keine weitere Erläuterung benötigt. Gleichzeitig sind in der Schweiz Kontrolle und Misstrauen keine unbekannten Eigenschaften. Der «Fichen-Skandal» von 1989 erschütterte den Bund bis in seine Grundfesten. Ein immenses staatliches Überwachungssystem beobachtete Bürgerinnen und Bürger, die sich politisch «auffällig» verhielten: Eine massive Verletzung der persönlichen Freiheit.
Bahnhofsuhr und Schuhe von Micheline Calmy-Rey: Symbole zweier «typischer» Schweizer Eigenschaften, nämlich Pünktlichkeit und Diplomatie.
Bahnhofsuhr und Schuhe von Micheline Calmy-Rey: Symbole zweier «typischer» Schweizer Eigenschaften, nämlich Pünktlichkeit und Diplomatie. Schweizerisches Nationalmuseum
Postkarte mit touristischen Sujets, wie Fahnenschwinger, Cervelat, Matterhorn, 1990.
Postkarte mit touristischen Sujets, wie Fahnenschwinger, Cervelat, Matterhorn, 1990. Schweizerisches Nationalmuseum
Obwohl die Fichen der Vergangenheit angehören, ist die Kontrolle nicht einfach verschwunden. Ein bekanntes Klischee sind die sogenannten «Bünzlis», die bei der kleinsten Störung die Polizei anrufen. Ein etwas weniger bekanntes Phänomen ist der «Swiss Stare» (das «Schweizer Starren»). Besonders Expats klagen auf Online-Foren immer wieder darüber, dass sie sich in der Schweiz ständig beobachtet fühlen. Demnach sollen es die Schweizerinnen und Schweizer lieben, andere mehr oder weniger auffällig anzustarren und vor allem Fremde, aber auch sich gegenseitig, ohne Scham zu mustern. Ein Blogger aus Kanada vermutet den Grund dafür im spezifisch eidgenössischen Milizsystem. Das Schweizervolk verbringe ein «Leben in Alarmbereitschaft», sei also immer auf Ausschau nach möglichen Bedrohungen. Paradoxerweise loben prominente Personen aus dem Ausland die ebenso als typisch schweizerisch empfundene Diskretion. Ob nun das eine oder das andere, oder auch beides wahr ist: interessant an diesem Beispiel ist die Tatsache, dass es manchmal den Blick von aussen braucht, um sich selber besser kennenzulernen.
Chuchichäschtli oder die Überforderung mit der Schweizer Kultur. © Caspar Frei, 1990

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