Foto von Gilberte Montavon in einem Militäralbum, um 1915.
Foto von Gilberte Montavon in einem Militäralbum, um 1915. Schweizerisches Nationalmuseum

Vom Mythos einer Kellnerin

Im Ersten Weltkrieg wurde Gilberte Montavon aus Courgenay unter Deutschschweizer Soldaten zu einem Lichtblick im tristen Alltag an der Grenze.

Beat Kuhn

Beat Kuhn

Beat Kuhn ist Regionalredaktor beim Bieler Tagblatt und bereitet dort gelegentlich auch spannende Geschichten aus der Geschichte auf.

Webseite: Bieler Tagblatt
Frankreich hatte zu monarchischen Zeiten die Gallia (auch Francia genannt) als Nationalfigur. Nach der demokratischen Revolution wurde sie durch die Marianne ersetzt. Das ist eine freizügige Schönheit, die auf Gemälden oft barbusig dargestellt wird und deren Büste alle paar Jahre ihr Aussehen ändert, weil sie nach einem Sexsymbol der Zeit geformt wird, wie etwa Brigitte Bardot, Catherine Deneuve oder aktuell Sophie Marceau. Die Schweiz hat offiziell Helvetia als Nationalfigur, eine mit Lanze und Schild bewaffnete Kriegerin in einem römischen Gewand, das fast den ganzen Körper bedeckt. Im Ersten Weltkrieg ist eine inoffizielle hinzugekommen: Gilberte Montavon, eine junge Kellnerin aus dem jurassischen Dorf Courgenay, die unzählige Soldaten nicht nur bewirtet, sondern auch aufgemuntert und getröstet hat. Ihre Kleidung war dabei stets hochgeschlossen.
Marianne auf einem Gemälde von Eugène Delacroix, 1830.
Marianne auf einem Gemälde von Eugène Delacroix, 1830. Wikimedia
Sinnlichkeit in Frankreich, Sittsamkeit in der Schweiz: Das ist natürlich ein kultureller Unterschied – aber es ist kein völliger Gegensatz. Denn Gilberte hatte im Grunde dieselbe Funktion wie die Marianne. Das hat niemand besser beschrieben als die 2009 verstorbene Anne-Marie Blanc, die sie im Spielfilm «Gilberte de Courgenay» von 1941 dargestellt hat: «Sie verkörperte das weibliche Element, für das sich der entbehrungsreiche Einsatz der Soldaten an der Grenze lohnte.» Vergessen ist Gilberte dank des Filmes und des Liedes, von dem derselbige den Titel hat, zwar nicht. Die identitätsstiftende Wirkung, die sie im Ersten Weltkrieg als reale Person und im Zweiten Weltkrieg als Hauptfigur eines Spielfilms hatte, ist jedoch verblasst.
Filmplakat mit Hauptdarstellerin Anne-Marie Blanc in der Rolle der Gilberte de Courgenay.
Filmplakat mit Hauptdarstellerin Anne-Marie Blanc in der Rolle der Gilberte de Courgenay. Schweizerisches Nationalmuseum
Geboren wurde Gilberte-Elisa Montavon am 20. März 1896, also bei Frühlingsanfang – was angesichts ihrer späteren frühlingshaft erfrischenden Wirkung sinnig ist. Sie war die jüngste von drei Töchtern, die noch zwei Brüder hatten. 1906 kaufte ihr Vater, der an sich Uhrmacher war, das Hotel de la Gare vis-à-vis des Bahnhofs von Courgenay, eine Station von Porrentruy entfernt, dem Hauptort der Region Ajoie. 1908 liess er den grossen Saal anbauen. Das war eine sehr lukrative Investition, wie sich zeigen sollte. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, grenzte die Ajoie nicht nur an Frankreich, sondern – durch das damals deutsche Elsass – auch an das Deutsche Reich. Für die Sicherung der Grenze zwischen den beiden kriegführenden Parteien wurden wegen der exponierten Lage der Ajoie viele Truppen aufgeboten. Deren deutscher Name lautet ja treffend Pruntruter Zipfel, weil sie die Form einer Ausbuchtung hat, welche die Grenze stark verlängert. Vor allem Deutschschweizer Soldaten wurden in diese ihnen zumeist fremde Gegend verlegt.
Besichtigung der Grenzbefestigung in Boncourt durch die Bundesräte Giuseppe Motta und Edmund Schulthess, 1914. 
Besichtigung der Grenzbefestigung in Boncourt durch die Bundesräte Giuseppe Motta und Edmund Schulthess, 1914. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Gemeinde Courgenay wurde zu einem der Truppenstützpunkte. In ihrer dienstfreien Zeit nutzten die Soldaten und Offiziere das Hôtel de la Gare, dessen Restaurant das Bahnhofbuffet war und den grössten Saal im Dorf hatte. Bei der Truppe beliebt wurde das Lokal aber auch, weil die Montavons gemütliche Bonvivants und gute Musiker waren. Um den Ansturm bewältigen zu können, musste die ganze Familie mit anpacken: die Eltern, die fünf Kinder und sogar die Cousinen. Gilberte, die im ersten Kriegsjahr 18 Jahre alt war, wurde im Service eingesetzt. Denn sie hatte zuvor ein Deutschschweizjahr in Zürich absolviert – das Pendant zum früheren Welschlandjahr von Deutschschweizer Mädchen – und konnte sich daher in Dialekt mit den Soldaten von «ennet» dem Röstigraben unterhalten. Diese sprachen bestenfalls ein «Français fédéral», das auf ihrem Französischunterricht in der Schule basierte. Verbundenheit schuf auch Gilbertes phänomenales Namensgedächtnis, dank dem sie die Soldaten schon beim zweiten Lokalbesuch mit Namen begrüssen konnte.
Gilberte Montavon begrüsst einen Gast, um 1915.
Gilberte Montavon begrüsst einen Gast, um 1915. Schweizerisches Nationalmuseum
Hermann Flückiger (1885 - 1960) hat Gilberte als junger Offizier erlebt. Sie sei hübsch, liebenswürdig, fröhlich und unbeschwert gewesen, erinnerte sich der spätere Divisionär und Botschafter in Moskau in einer Sendung auf Radio Beromünster. Zu einer Lichtgestalt wurde Gilberte aber auch wegen des düsteren geschichtlichen Hintergrundes. Man muss sich die Lage, in der sich diese Männer befanden, einmal vor Augen führen: Sie waren oft während Monaten weg von zuhause, fern von Frau und Kind, denen der Ernährer fehlte. Erwerbsersatz gab es noch nicht, für den Dienst am Vaterland erhielten die Soldaten nur einen kleinen Sold. Die Verpflegung war karg, übernachtet wurde im Stroh. Zudem waren die Soldaten tagtäglich militärischer Disziplin und dem Drill durch die Offiziere ausgesetzt. Auf der menschlichen Ebene wurden die Soldaten nicht abgeholt. Nicht zu unterschätzen sein dürfte auch die beklemmende Angst, der Krieg komme irgendwann doch noch ins Land. Die Landesgrenze ist von Courgenay nur gut zehn Kilometer entfernt.
Der täglich Drill gehörte zum Soldatenalltag.
Der täglich Drill gehörte zum Soldatenalltag. Schweizerisches Nationalmuseum
Viel zum Ruhm der Kellnerin hat das ihr gewidmete Lied «La petite Gilberte de Courgenay» beigetragen. Komponiert haben es die beiden Entlebucher Militärmusiker Robert Lustenberger und Oskar Portmann, als sie im Winter 1915/16 im Gebiet um Courgenay stationiert waren. Die Uraufführung fand am Silvesterabend 1915 im Hotelsaal statt, wo sie das Lied der Besungenen vor versammelter Mannschaft vortrugen. Die Noten und den Text aufgeschrieben hat Gilbertes Bruder Paul, der damals erst elf Jahre alt war. Nach ihm, der später Musikprofessor und Komponist wurde, ist die Strasse hinter dem Hotel benannt – während jene auf der Vorderseite Rue de Petite-Gilberte heisst. Schliesslich gelangte die Komposition in die Hände von Hanns In der Gand, der von der Armee als «Soldatensänger» verpflichtet war. Er verbreitete das Lied ab 1917 – und machte damit auch Gilberte schweizweit bekannt. Mit der Verbreitung des Liedes begann der inszenierte Teil der Geschichte. Denn Hanns In der Gand hiess in Wirklichkeit Ladislaus Krupski und war Sohn eines Polen und einer Deutschen. Den Urner Namen In der Gand soll er angenommen haben, um als Volksliedsammler leichter Zugang zu den Einheimischen zu haben. Fälschlicherweise wird Krupski bis heute oft als Urheber des Liedes bezeichnet.
Hanns in der Gand singt das Loblied auf Gilberte. YouTube
Eine Frau aus der Romandie, die der Liebling von Deutschschweizer Soldaten war – dieses Szenario war der Eidgenossenschaft als Kitt zwischen den Landesteilen überaus willkommen. Denn im Ersten Weltkrieg war die Schweiz nicht nur von aussen bedroht, sondern auch von innen. Ein tiefer Graben durchzog damals das Land: Die Romandie hielt mehrheitlich zu Frankreich, die Deutschschweiz zum Deutschen Reich. Die Zeitungen dies- und jenseits der Saane übernahmen die Propaganda der jeweiligen Kriegspartei und warfen einander gegenseitig eben diese Parteinahme vor, als Gefährdung der Neutralität. Ein Spaltpilz war zum Beispiel die sogenannte Obersten-Affäre von 1915: Zwei hohe Deutschschweizer Offiziere – je Oberst im Generalstab – versorgten die Militärattachés von Deutschland und Österreich-Ungarn mit den Tagesbulletins des Generalstabs und anderen Papieren, die der Geheimhaltung unterstanden. Als dies aufflog, wurden die beiden vom damaligen General, Ulrich Wille, bloss mit 20 Tagen Arrest bestraft und danach vom Bundesrat ihrer Funktion enthoben. Das waren läppische Konsequenzen für Landesverrat, für den in Kriegszeiten schnell einmal die Todesstrafe ausgesprochen wird. In der Westschweiz löste diese milde Bestrafung einen Sturm der Entrüstung aus. Zum Glück gab es da noch diese charmante Kellnerin aus Courgenay, welche das Land auf musikalische und mythische Art und Weise zusammenhielt...
Dieser Artikel wurde vom Bieler Tagblatt übernommen. Er ist dort am 10. Juli 2020 unter dem Titel «Wie eine Kellnerin zum Mythos wurde» publiziert worden. Lesen Sie hier, wie der Mythos auch im Zweiten Weltkrieg weiterlebte.

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