Odesa um 1850.
Odesa um 1850. Library of Congress

Tessiner Architek­ten in Odesa

Einige der wichtigsten Gebäude in der Ukrainischen Stadt am Schwarzen Meer haben Architekten aus dem Tessin gebaut. Seit der Gründung 1794 haben die Schweizer Baumeister der Stadt zu einem mediterranen Flair verholfen.

Nicola Navone

Nicola Navone

Nicola Navone ist Vizedirektor des Archivio del Moderno und Dozent an der Accademia di architettura in Mendrisio, Università della Svizzera italiana.

Der Erfolg der Tessiner Architekten und Baumeister in Odesa ist eng verwoben mit der Migration, die in Russland und in der Ukraine vor allem ab dem 18. Jahrhundert Fahrt aufnahm, man denke nur an Domenico Trezzini und seine Rolle beim Bau von Sankt Petersburg. Das Phänomen betraf einen weiten geografischen Raum und dauerte bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Handwerker suchten gezielt dort nach Arbeit, wo sie zur Genüge vorhanden war. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war die gerade erst gegründete und kosmopolitische Stadt Odesa eine riesige Baustelle mit hervorragenden Auftragschancen. Solche Chancen konnten die Tessiner Architekten aus verschiedenen Gründen nutzen: Sie verfügten sowohl über technisches Geschick wie unternehmerische Flexibilität, denn sie waren daran gewöhnt, umherzuziehen, und hatten schon in jungen Jahren gelernt, in fremder Umgebung zu agieren. Dazu kam die Fähigkeit, Beziehungsnetzwerke für die Sicherung von Aufträgen zu knüpfen. Ausserdem profitierten die Tessiner Baumeister vom bis ins 19. Jahrhundert reichende Ansehen der italienischen Architekturkultur.
Karte von Odesa und Umgebung, 1809.
Karte von Odesa und Umgebung, 1809. Bibliothèque nationale de France
In Odesa waren die Voraussetzungen für Tessiner Architekten und Handwerker erfolgversprechend, etwa dank der grossen italienischen Gemeinschaft und der sogar noch grösseren griechischen Gemeinde. Daraus entstanden nicht nur einige praktische Vorteile, wie etwa die Verbreitung des Italienischen als «Lingua franca», sondern auch weitere Auftragsmöglichkeiten: Am Ufer des Schwarzen Meeres galt ein ähnliches Arbeitsmodell, wie es die Tessiner bereits kannten. Zum Beispiel in Sankt Petersburg: Zunächst versuchte man, sich Zugang zu den Behörden zu verschaffen, die den Bau öffentlicher Gebäude überwachten, um später seine Arbeit durch private Aufträge auszuweiten. Der «italienische» Charakter Odesas, den die Stadt dem Klima und der grossen vom Mittelmeer stammenden Bevölkerung verdankte, wurde im 19. Jahrhundert zu einer Art Leitmotiv der Reiseliteratur. Auch der erste Statthalter in den Jahren unmittelbar nach der Stadtgründung von 1794 stammte aus dem Mittelmeerraum: José de Ribas y Boyons – italianisiert Giuseppe de Ribas – wurde in Neapel als Sohn einer Irin und eines katalanischen Soldaten im Dienste der Spanischen Krone geboren und war daher Katholik, ebenso wie die Tessiner, ein in diesem Kontext nicht zu missachtender Umstand.
Vorontsov-Palast und der Pavilion-Belvedere in Odesa, erbaut von Francesco Boffa, in einer Lithographie aus der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Vorontsov-Palast und der Pavilion-Belvedere in Odesa, erbaut von Francesco Boffa, in einer Lithographie aus der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Privatsammlung
Quellen zufolge waren die ersten Tessiner Architekten die Brüder Francesco und Giovanni Battista Frapolli, obwohl sie in der ukrainischen und russischen Literatur ausnahmslos als Neapolitaner ausgewiesen werden. Sie trugen nicht nur den Namen einer ursprünglich aus Scareglia im Val Colla stammenden Familie, sondern der Familienwohnsitz im Tessin wurde auch belegt: im 1827 erhielt «Maria Frapolli di Massagno» die tragische Nachricht von der Ermordung des Bruders Giovanni Battista, «Architekt der Stadt Odesa», durch einen Hausangestellten und einen Komplizen.
Der Handelshafen von Odesa um 1900.
Der Handelshafen von Odesa um 1900. Library of Congress
Obwohl die Brüder Frapolli bereits in der Gründungszeit von Odesa einen wichtigen Beitrag leisteten, kamen erst ab den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts mehr Tessiner am Ufer des Schwarzen Meeres an, als der Bau der Stadt weiter an Dynamik gewann. In diesen und den darauffolgenden Jahren spielte Francesco Boffa aus Arasio in der heutigen Gemeinde Collina d’Oro eine zentrale Rolle. Von ihm stammen zahlreiche Bauwerke, insbesondere die alte Börse (1828–1834, später das Rathaus), die lutherische Kirche Sankt Paul (1824–1835, 1895 abgerissen, um der neuen Kirche des deutschen Architekten Hermann Scheurembrandt Platz zu machen), der Palast vom Gouverneur Michail Vorontsov (1824-1828) mit dem Belvedere (1829) und schliesslich das vielleicht berühmteste Monument Odesas, die imposante Treppe, die den Hafen mit der auf einer Anhöhe liegenden Innenstadt verbindet (1837–1841). In der ukrainischen und russischen Literatur trifft man ihren Erbauer als «Boffo» an: eine Abwandlung aufgrund der Schreibweise des Nachnamens in kyrillischer Schrift. Oft wird auch Sardinien als Heimat angegeben, genauer gesagt aus Orosei. Ein Fehler, der vermutlich ebenfalls auf eine ungenaue kyrillische Transliteration von Arasio zurückzuführen ist. Dokumentarische Quellen (wie z.B. die «Registri della popolazione» des Bezirks Lugano) belegen jedoch Arasio als Herkunftsort. Möglicherweise entstand die Verwirrung um Boffas vermeintlich sardische Wurzeln aufgrund seiner Ausbildung, die er anscheinend an der Akademie der Schönen Künste in Turin absolvierte, und folglich aufgrund seines Aufenthalts in der damaligen Hauptstadt des Königreichs Sardinien.
Die Börse in Odesa, heute Rathaus, erbaut von Francesco Boffa und Giorgio Torricelli, um 1900.
Die Börse in Odesa, heute Rathaus, erbaut von Francesco Boffa und Giorgio Torricelli, um 1900. Rijksmuseum Amsterdam
Aus Lugano hingegen stammt Giorgio Torricelli, der gemeinsam mit Boffa zu den Hauptakteuren des Baus von Odesa gehört. Torricelli kam 1818 nach Odesa und war vor allem in den 1830er-Jahren aktiv. Der Startschuss zu dieser aussergewöhnlich intensiven Zeit fiel 1832, als er den Wettbewerb für die Planung des neuen Marktplatzes gewann. Wie Boffa orientierte er hauptsächlich an der klassizistischen Architektur. Davon zeugt der von 1841 bis 1842 zwischen der alten Börse und dem Theater erbaute Englische Club – abgesehen von den Änderungen der Architekten Felix Gonsiorowski und Emil Vej Ende des 19. Jahrhunderts.
Der Primorskyi Boulevard in Odesa, am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Der Primorskyi Boulevard in Odesa, am Anfang des 20. Jahrhunderts. Privatsammlung
Zu diesem Zeitpunkt war Odesa bereits zu einer wichtigen europäischen Hafen- und Handelsstadt geworden. Abgesehen von den Architekten sind auch Künstler nicht zu vergessen wie etwa der Luganese Carlo Bossoli, der nach der Emigration seines Vaters seine Jugend in Odesa verbrachte und dort seine Ausbildung machte, oder Vittore Pelli aus dem Malcantone, von 1824 bis 1831 Bühnenbildner im Theater von Odesa.
Die monumentale Treppe in Odesa, um 1900.
Die monumentale Treppe in Odesa, um 1900. Library of Congress
Die Beitragsfülle all dieser Architekten zeigt sich beispielhaft in Person und Werk des 1831 in Pjatigorsk im nördlichen Kaukasus geborenen Aleksandr Bernardazzi, Sohn von Giuseppe Bernardazzi und Dorothea Wilhelmine Conradi, Tochter von Friedrich Conradi, eines Arztes aus Göttingen, der Oberarzt im örtlichen Thermalbad von Pjatigorsk war. Giuseppe Bernardazzi entstammte einer Architekten- und Baumeisterfamilie aus Pambio (aber mit entfernten Wurzeln im Verzascatal) und war neben Moskau und Chişinău in der heutigen Republik Moldova auch in Sankt Petersburg tätig. Aleksandr Bernardazzi ist ein Beispiel dafür, wie vorsichtig man mit Identitätszuweisungen sein sollte: Als Sohn eines Tessiners und einer Deutschen kam er im Kaukasus zur Welt, machte die Ausbildung in Sankt Petersburg, war lange in Moldova tätig und zog in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts nach Odesa. In der Stadt am Schwarzen Meer plante und verwirklichte er zahlreiche Bauwerke, darunter die Neue Börse (1894–1899), das heutige Philharmonische Theater: Ein imposanter Bau, der Zitate der Florentiner Architektur, wie die grossen Fenster, die der Kirche Orsanmichele nachempfunden sind, mit anderen Elementen vermischt, beispielsweise einem monumentalen Bogen über der Eingangstreppe, der an die orientalische Architektur erinnert. Speziell dieses Gebäude, an dessen Bau nicht nur andere Tessiner wie die Bildhauer Marco und Luigi Molinari, sondern auch zahlreiche einheimische Fachleute beteiligt waren, spiegelt die architektonische Kultur von Odesa um die Jahrhundertwende wider.
Die neue Börse, heute Philharmonie, in Odesa, erbaut von Aleksandr Bernardazzi, um 1894-1899.
Die neue Börse, heute Philharmonie, in Odesa, erbaut von Aleksandr Bernardazzi, um 1894-1899. Library of Congress
Dieser Artikel wurde im Original auf Italienisch verfasst.

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