
Calames Blick in die Berge
Alexandre Calame gilt als einer der Väter der Alpenmalerei. Am Anfang dieser «Vaterschaft» steht bildlich gesprochen ein Gewitter.
Dem Maler Alexandre Calame (1810-1864) lagen die Bewunderer zu Füssen, als er 1838 in Genf erstmals sein «Gewitter in Handeck» präsentierte. Die meisten seiner Zeitgenossen kannten die Berge höchstens aus der Ferne. Verglichen mit heute, waren Bilder aller Art rar und die Fotografie gerade erst erfunden, aber noch längst kein Massenmedium. Doch auch uns vermag das pompöse Gemälde mit seinem opulent vergoldeten Rahmen, ein Paradestück des Genfer Musée d’Art et d’Histoire, noch zu fesseln. Denn es zoomt uns mitten ins Geschehen.


Die Darstellung von Calame würden wir zunächst als «realistisch» bezeichnen. Allerdings gibt sich sein «Gewitter» rasch als bis in Detail kalkulierte, effektvoll konstruierte Inszenierung zu erkennen. Neben dem Format, das uns ins Bild eintauchen lässt, trägt hierzu vor allem der Blickwinkel bei, der uns angeboten wird. Er macht uns zu privilegierten Beobachterinnen und Beobachtern. Denn wir haben einen Logenplatz dicht am Geschehen, am Rand des Wildbaches. Hatte hier nicht auch der Maler seine Staffelei aufgebaut? Er ist der unsichtbare, aber eigentliche Held der Szenerie. Denn offenbar hat er unter widrigsten Bedingungen ausgeharrt, um unsere Schaulust zu bedienen. Doch neben den widrigen Wetterverhältnissen zerstört auch das nicht gerade transportfreundliche Format des Gemäldes die Illusion der Freiluft- oder Pleinair Malerei, mit der Calame uns foppt.
Tatsächlich haben wir es bei Calames «Gewitter» mit einem Atelierprodukt zu tun. Calame füllte zwar während seiner alljährlichen sommerlichen Wanderungen im Gebirge seine Skizzenbücher, die ihm als Grundlage für seine Malerei dienten. Die etwas früheren und noch um einiges kühneren Darstellungen eines J.M.W. Turner, etwa dessen Gemälde eines Lawinenabgangs (erstmals ausgestellt 1810) oder seine Darstellung der Alpenüberquerung durch Hannibal dürfte er allerdings kaum gekannt haben, da Turner erst im Kontext des Impressionismus international entdeckt wurde.


