Calames Gefühl für die alpine Natur beeinflusste im 19. Jahrhundert zahlreiche Künstler. Dieses Gemälde der Gegend um den Vierwaldstättersee entstand 1852.
Calames Gefühl für die alpine Natur beeinflusste im 19. Jahrhundert zahlreiche Künstler. Dieses Gemälde der Gegend um den Vierwaldstättersee entstand 1852. Wikimedia / Amsterdam Museum

Calames Blick in die Berge

Alexandre Calame gilt als einer der Väter der Alpenmalerei. Am Anfang dieser «Vaterschaft» steht bildlich gesprochen ein Gewitter.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

Ein stürmischer Wind fegt durch ein menschenleeres Hochgebirgstal. Er hat schon eine stattliche Tanne geknickt, treibt Gischt über den tobenden Bergbach und Nebelschwaden durch ein finsteres Felsmassiv. Zum Glück stehen wir im Trockenen, vielleicht am Ufer des Baches oder auf einem soliden Felsbrocken wie dem, der mitten im Bach der Flut trotzt. Am Horizont gibt es einen Lichtblick: Vielleicht ist das Schlimmste schon vorbei. Dem Maler Alexandre Calame (1810-1864) lagen die Bewunderer zu Füssen, als er 1838 in Genf erstmals sein «Gewitter in Handeck» präsentierte. Die meisten seiner Zeitgenossen kannten die Berge höchstens aus der Ferne. Verglichen mit heute, waren Bilder aller Art rar und die Fotografie gerade erst erfunden, aber noch längst kein Massenmedium. Doch auch uns vermag das pompöse Gemälde mit seinem opulent vergoldeten Rahmen, ein Paradestück des Genfer Musée d’Art et d’Histoire, noch zu fesseln. Denn es zoomt uns mitten ins Geschehen.
«Gewitter in Handeck», Gemälde von Alexandre Calame, 1838.
«Gewitter in Handeck», Gemälde von Alexandre Calame, 1838. Musée d'art et d'histoire, Genf
Seinerzeit wurde es gar als «erstes nationales Kunstwerk» der Schweiz gefeiert. Bald darauf verfocht der Künstler und Kunstkritiker Rodolphe Toepffer eine auf die Darstellung der Alpen gestützte nationale Kunst. Sogar im trendsetzenden Pariser Salon wurde das «Gewitter» 1839 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. In der Folge fand Calames Alpenmalerei europaweit Anklang. Er prägte sogar die noch junge nordamerikanische Landschaftsmalerei. Zu Calames zahlreichen Schülern gehörte etwa Albert Bierstadt. Dessen Szenerien aus den Rocky Mountains gelten heute als Ikonen der amerikanischen Kunst.
«A Storm in the Rocky Mountains», Gemälde von Albert Bierstadt, 1866.
«A Storm in the Rocky Mountains», Gemälde von Albert Bierstadt, 1866. Wikimedia / Brooklyn Museum
Bis Alexandre Calame und sein Lehrer François Diday diese herausragende Rolle als Erfinder eines theatralisch überhöhten Bildes der Alpen im 19. Jahrhundert spielen konnten, war es aber ein weiter Weg. Künstlerische Darstellungen der Alpen gab es zwar schon im ausgehenden Mittelalter. So erkennt man etwa auf den detailverliebten Altarbildern der Niederländer im 15. Jahrhundert, bei Rogier van der Weyden oder Geertgen tot sint Jans schneebedeckte Gebirgszüge, wenn man zweimal hinschaut. Allerdings bleiben sie topografisch ungenauer Hintergrund. Im Zentrum der Kunst steht immer noch die biblische Geschichte.
Geertgen tot Sint Jans' kleine Hommage an die Alpen. Zu sehen im Hintergrund links. Das Gemälde entstand zwischen 1475 und 1480.
Geertgen tot Sint Jans' kleine Hommage an die Alpen. Zu sehen im Hintergrund links. Das Gemälde entstand zwischen 1475 und 1480. Musée du Louvre
Neue Wege schlägt der hauptsächlich in Basel wirkende Konrad Witz ein. Für die Genfer Kathedrale Saint-Pierre malte er 1444 einen vierteiligen Altar. Darauf verbindet er Szenen der Heilsgeschichte mit der Lebenswelt der Betrachtenden. Besonders berühmt ist «Der wunderbare Fischzug». Er siedelt die biblische Handlung (Petrus als Fischer) im zeitgenössischen Genf an. Im Hintergrund sieht man eine Bergkette, die ein – wenn auch etwas zusammengeschobenes – Montblanc-Massiv erkennen lässt. Solch dominante Landschaftsansichten waren für Altäre zuvor nicht üblich. Witz’ Altar verschwand 1535 während des Bildersturms aus der Kathedrale, erlitt Beschädigungen und wurde erstmals anlässlich des Reformationsjubiläum 1835 notdürftig restauriert wieder ausgestellt.
Die Berge als Kulisse. Konrad Witz' Werk «Der wunderbare Fischzug» mit dem Montblanc im Hintergrund, 1444.
Die Berge als Kulisse. Konrad Witz' Werk «Der wunderbare Fischzug» mit dem Montblanc im Hintergrund, 1444. Musée d'art et d'histoire, Genf
Zu dieser Zeit erheben Diday und Calame die Natur zum eigentlichen Bildthema. Der unmittelbare religiöse Bezug fällt weg. Schliesslich hat sich das Kunstverständnis in den zurückliegenden 400 Jahren stark verändert. Dennoch ist er nicht so abwesend, wie es zunächst scheinen mag. Denn in den monumentalen Naturdarstellungen geht es um Überwältigung. Der Mensch soll im Medium der Kunst das «Erhabene» erleben und über seinen Platz im Universum nachdenken. Nachdem die Religionskritik der Aufklärung Gott abgesetzt hatte, war eine Leerstelle geblieben. Die darauffolgende Romantik versuchte, diese zu besetzen, indem sie religiöse Gefühle mit der subjektiven Wahrnehmung insbesondere der Natur verknüpfte. Zugleich sollen im gesellschaftlichen Austausch darüber Massstäbe entwickelt werden für das, was als bewunderungswürdig, «erhaben», «schön», «schaudervoll» oder gar «patriotisch» galt.
Porträt von Alexandre Calame, um 1850.
Porträt von Alexandre Calame, um 1850. Wikimedia
Der Maler, der sich fotografieren lässt: François Diday, aufgenommen 1868.
Der Maler, der sich fotografieren lässt: François Diday, aufgenommen 1868. Wikimedia / Bibliothèque de Genève
In Werken wie jenen von Calame kulminiert also ein Wandel in der Wahrnehmung der Natur, der sich seit der Renaissance angebahnt hatte. Der Mensch begann, sich die Natur anzueignen und zu erschliessen. Oft standen dahinter ökonomische Interessen, die ein wachsendes wissenschaftliches Interesse an den Gesetzmässigkeiten und Prozessen der Natur förderten. Die Kunst hielt eifrig Schritt: Zwar galten noch bis weit ins 19. Jahrhundert die Darstellungen religiöser oder historischer Themen als «Königsdisziplin» in den streng regulierten Kunstakademien. Doch daneben florierte zunehmend die Genremalerei, zu der Naturdarstellungen gehören. Die Darstellung von Calame würden wir zunächst als «realistisch» bezeichnen. Allerdings gibt sich sein «Gewitter» rasch als bis in Detail kalkulierte, effektvoll konstruierte Inszenierung zu erkennen. Neben dem Format, das uns ins Bild eintauchen lässt, trägt hierzu vor allem der Blickwinkel bei, der uns angeboten wird. Er macht uns zu privilegierten Beobachterinnen und Beobachtern. Denn wir haben einen Logenplatz dicht am Geschehen, am Rand des Wildbaches. Hatte hier nicht auch der Maler seine Staffelei aufgebaut? Er ist der unsichtbare, aber eigentliche Held der Szenerie. Denn offenbar hat er unter widrigsten Bedingungen ausgeharrt, um unsere Schaulust zu bedienen. Doch neben den widrigen Wetterverhältnissen zerstört auch das nicht gerade transportfreundliche Format des Gemäldes die Illusion der Freiluft- oder Pleinair Malerei, mit der Calame uns foppt.
Calames raffinierte Illusion der Realität sieht man erst auf den zweiten Blick.
Calames raffinierte Illusion der Realität sieht man erst auf den zweiten Blick. Musée d'art et d'histoire, Genf
Ungereimtheiten gibt es auch bei der Lichtregie. So entsteht die Dramatik der Szenerie unter anderem durch das ziemlich starke Streiflicht von rechts. Es beleuchtet die Gischt, den symbolisch aufgeladenen, solitären Felsbrocken mitten im Bach, die Uferzone und die umstürzende Tanne samt Tannengruppe und führt sie als malerische Bravourstücke vor. Jedoch passt das Licht im unteren Teil des Bildes nicht ganz zur wie von hinten beleuchteten Zone rechts oben. Sie verleiht dem Gemälde eine fast unheimliche Tiefe, lässt die Nebelschwaden an den Felswänden hervortreten und unterstreicht so abermals die Virtuosität des Künstlers. Tatsächlich haben wir es bei Calames «Gewitter» mit einem Atelierprodukt zu tun. Calame füllte zwar während seiner alljährlichen sommerlichen Wanderungen im Gebirge seine Skizzenbücher, die ihm als Grundlage für seine Malerei dienten. Die etwas früheren und noch um einiges kühneren Darstellungen eines J.M.W. Turner, etwa dessen Gemälde eines Lawinenabgangs (erstmals ausgestellt 1810) oder seine Darstellung der Alpenüberquerung durch Hannibal dürfte er allerdings kaum gekannt haben, da Turner erst im Kontext des Impressionismus international entdeckt wurde.
Turners Darstellung einer Lawine in Graubünden, um 1810.
Turners Darstellung einer Lawine in Graubünden, um 1810. Wikimedia
Inzwischen weiss man, in welch enger Wechselwirkung die Alpenmalerei, ebenso wie die bald aufkommende Alpenfotografie, mit der Erschliessung der Alpen im Zuge des entstehenden Tourismus stand (der erste Baedeker-Reiseführer zur Schweiz erschien 1844). Der Tourismus führte zu einem wachsenden Bedarf an «Andenkenbildern» aller Art. Zugleich befeuerten diese ihn weiter, denn sie wirkten wie Werbung für Reisen in die Schweiz.
Bergsteiger auf dem Gletscher des Mont Blancs. Stereofotografie, um 1860.
Bergsteiger auf dem Gletscher des Mont Blancs. Stereofotografie, um 1860. Schweizerisches Nationalmuseum
Originalgemälde von Calame waren zwar – anders als die auf ihnen basierenden kommerziellen Vervielfältigungen in Form von Lithographien oder Radierungen – keine handlichen Souvenirs für jedermann. Sein Gemälde «Vierwaldstättersee» kaufte 1855 Napoleon III.. Um einiges früher hatte die Berner Regierung zugegriffen. Sie hatte schon 1836 Calames «Vue prise à la Handeck» erworben. Die Begründung war originell und sagt einiges über die Rolle der Kunst für das entstehende Schweizer Nationalgefühl: Die Gebirgsansicht sollte als Modell für junge Maler dienen. Sie sollten sich vom damals modischen Sujet der italienischen Landschaft lösen und der Schweizer Landschaft zuwenden. Aus heutiger Sicht war das Geld der Berner für diesen Kunstankauf hervorragend angelegt. Denn nur wenige Künstler haben auch international so wirkungsvoll zur Wahrnehmung der Schweizer Alpen als attraktivem, einzigartigem Naturspektakel und damit zur Tourismusförderung beigetragen wie Alexandre Calame.

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