Nicht nur, aber auch als Strassenname in Trun GR präsent: Caspar Decurtins hat in der politischen Kultur der Surselva Spuren hinterlassen, die bis heute deutlich spürbar sind.
Nicht nur, aber auch als Strassenname in Trun GR präsent: Caspar Decurtins hat in der politischen Kultur der Surselva Spuren hinterlassen, die bis heute deutlich spürbar sind. Wikimedia / Adrian Michael

Kleine Sprache, monumen­ta­les Werk

Der kantige Bündner Politiker und Kulturwissenschaftler Caspar Decurtins (1855-1916) schuf mit seiner «Rätoromanischen Chrestomathie» das wichtigste ältere Quellenwerk zur bündnerromanischen Kultur. Und dies sozusagen mit links.

Peter Egloff

Peter Egloff

Der Volkskundler Peter Egloff ist Publizist in Zürich.

Der Begriff «Chrestomathie» stammt aus dem Griechischen und bezeichnet eine Auswahl von Texten verschiedener Autoren zu Studienzwecken. Die 13 Bände der «Rätoromanischen Chrestomathie», mit insgesamt 7260 Seiten an rätoromanischen Texten und 176 Seiten an deutschen Einleitungen und Kommentaren des Herausgebers, enthalten breitgefächert eine Unmenge Materialien von philologischem, historischem und volkskundlichem Interesse: Urkunden, Statuten, Gesetze, Prozessordnungen, Rechtsbräuche, politische und geistliche Lieder, Passionsspiele, konfessionelle Streitschriften, Chroniken, Briefe, Tagebücher, Reiseberichte. Weiter umfasst das Werk die bedeutendste Märchensammlung der Schweiz, eine grosse Zahl Sagen, Volkslieder, Sprichwörter, Bauern- und Wetterregeln, Rätsel, Kinderreime und Zaubersprüche. Hinzu kommen Aufzeichnungen zu Brauchtum, Kinderspielen, Botanik, Volksmedizin und Aberglauben. Erschienen ist dies alles in Erlangen zwischen 1896 und 1919 in zahlreichen Einzellieferungen.
Caspar Decurtins, gemalt von Balthasar Caratsch, 1895.
Caspar Decurtins, gemalt von Balthasar Caratsch, 1895. Museum Sursilvan, Trun
Schon für sich allein genommen wäre die «Rätoromanische Chrestomathie» ein beachtliches Lebenswerk. Umso mehr muss es erstaunen, dass ihr Schöpfer Caspar Decurtins primär ein an vielen Fronten engagierter und exponierter Politiker war, und die Chrestomathie eher ein Nebenprodukt seines rastlosen Schaffens. 1855 in Trun als Sohn eines Arztes und einer Patrizierin geboren, studierte Decurtins in München, Heidelberg und Strassburg Geschichte, Kunstgeschichte und Staatsrecht und hatte bereits mit 21 Jahren den Doktorhut. Nur ein Jahr später wurde er zum Landammann und Grossrat des Kreises Disentis gewählt, ab 1881 sass er als Nationalrat in Bern, war dort bald einer der führenden Köpfe der katholisch-konservativen Partei und ab 1902 deren Fraktionspräsident. Der «Löwe von Truns», wie er bald genannt wurde, war in der Tat ein knochenharter Konservativer, ein kompromisslos auf Rom und den Papst eingeschworener Katholik – allerdings auf seine höchst eigene Art. «Der Katholizismus ist ein grosses Haus mit einem linken und einem rechten Flügel – ich wohne auf dem linken Flügel!», charakterisierte er seine politische Position. Decurtins pochte auf seine profunde Kenntnisse der sozialistischen Klassiker und arbeitete ohne Berührungsängste mit Sozialdemokraten wie August Bebel oder Hermann Greulich zusammen, wenn es um die soziale Frage, um Schutz und Besserstellung der Arbeiterklasse ging. Auch mit manch anderen seiner Positionen kann man sich Decurtins schwerlich in der späteren CVP und heutigen «Mitte»-Partei vorstellen. Er war strikter Befürworter einer humanen schweizerischen Asylpolitik, gleichgültig ob es um verfolgte französische Nonnen oder deutsche, italienische und russische Sozialisten und Anarchisten ging. Er bekämpfte den «Militärmoloch» und fand, Gelder für die Armee würden besser im Sozialbereich eingesetzt. Der Erzkatholik engagierte sich auch – erfolglos – für eine Aufhebung des Schächtverbots, weil er dahinter mehr Antisemitismus als Tierschutz sah. Mit solchen Positionen und mit seiner leidenschaftlichen und eigenwilligen Art schuf sich Decurtins im Lauf der Jahre viele Gegner und isolierte sich schliesslich auch in den Reihen der eigenen Partei. 1905 zog er sich aus der Politik zurück und übernahm eine Professur für Kulturgeschichte an der Universität Freiburg, zu deren Gründung er wesentlich beigetragen hatte.
Wenn die Melusine mit dem Drachen schwänzelt: Fabelwesen können aus der Sage auch mal an eine Hauswand wandern und dort wiederum Phantasie und mündliche Überlieferung beflügeln. Sgrafitto-Schmuck an einem Engadiner Haus im Dorf Cinuos-chel.
Wenn die Melusine mit dem Drachen schwänzelt: Fabelwesen können aus der Sage auch mal an eine Hauswand wandern und dort wiederum Phantasie und mündliche Überlieferung beflügeln. Sgrafitto-Schmuck an einem Engadiner Haus im Dorf Cinuos-chel. Foto: Christian & Hans Meisser © Fototeca dal DRG
Caspar Decurtins war eine der Leitfiguren der «rätoromanischen Renaissance», jener Bewegung, die ab dem späten 19. Jahrhundert der bis anhin kaum beachteten, mitunter gar bekämpften, im Rückgang begriffenen Berglersprache zu wissenschaftlicher Beachtung und kulturellem Ansehen verhalf (und schliesslich 1938 zur Anerkennung als vierte Landessprache führte). Sein grosses Sammelwerk gilt als Herzstück dieser Bestrebungen. Decurtins hatte schon als 15-jähriger Gymnasiast begonnen, in der Surselva Volkslieder, Märchen und Sagen zu sammeln, und als der 20-Jährige 1875 in Chur einen Vortrag über «Das Volkslied der Rätoromanen» hielt, konnte er sich auf 500 Liedtexte abstützen, die er selbst und mit Unterstützung von Freunden zusammengetragen hatte. 1885 trat er mit dem Plan seiner «Rätoromanischen Chrestomathie» an die Öffentlichkeit, indem er einen Prospekt versandte und gleichzeitig einen detaillierten volkskundlichen Fragebogen drucken und an Gewährsleute im ganzen Kanton versenden liess. Es gelang ihm, einen Stab von Mitarbeitern für seine Ziele zu gewinnen. Er wies sie an, nicht nur Zeugnisse der mündlichen Überlieferung, sondern auch Manuskripte und alte Drucke zu sammeln. Leider weiss man wenig über Decurtins’ Gewährsleute und deren Arbeitsweise. Aus vielen seiner Äusserungen geht aber hervor, dass ihm sehr an einer getreuen Wiedergabe der Erzählstoffe gelegen war. Anders als die Brüder Grimm und viele andere Folkloristen des 19. Jahrhunderts musste der in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen lebende Decurtins bei seinen Texteditionen keine kommerziellen Rücksichten nehmen. Die Bände der «Rätoromanischen Chrestomathie» erschienen als Separatdrucke im Rahmen einer romanistischen Zeitschrift und wandten sich primär an eine Leserschaft mit wissenschaftlichen Ansprüchen. Es bestand also weder die Notwendigkeit einer literarisierenden Aufhübschung der Märchen und Sagen noch ein Zwang zu Auswahl und Zensur mit Blick auf den Geschmack einer breiten Käuferschaft. Darum wurden auch viele Varianten, Bruchstücke, derbe Motive und Kleinformen von Erzählstoffen aufgenommen, die anderswo wohl kaum publiziert worden wären. Ursprünglich auf zwei Bände konzipiert, wuchs das Werk im Lauf der Jahrzehnte weit darüber hinaus – und ist darum alles andere als ein Musterbeispiel für Systematik und Überschaubarkeit.
«Igl uors en Val Sumvitg» - Die Sage vom Bären in der Val Sumvitg (oben rechts) in einem Fragebogen zur volkskundlichen Materialsammlung für die «Rätoromanische Chrestomathie», 1887.
«Igl uors en Val Sumvitg» – Die Sage vom Bären in der Val Sumvitg (oben rechts) in einem Fragebogen zur volkskundlichen Materialsammlung für die «Rätoromanische Chrestomathie», 1887... Kloster Disentis, Disentis/Mustér
Decurtins’ politische Haltung, sein Einsatz für die Rechte der Kleinen Leute hatte auch einen Einfluss auf die Optik des Sammlers und Kulturwissenschaftlers. Sie führte ihn dazu, eine damals eher ungewohnte, aber bis heute aktuell anmutende Ergänzung der herkömmlichen Geschichtsschreibung durch Einbezug der Perspektive des «einfachen Volkes» zu fordern. Politische Lieder zum Beispiel waren für ihn nicht bloss Objekte philologischer Erörterung, sondern Materialien zu einer Geschichte von unten, eine «kostbare Quelle, um das Leben und Arbeiten, die Mühsal und das Politisieren des Volkes kennenzulernen, seine Gedanken und Meinungen über die Landesgeschäfte und die Männer, welche sie unter sich ausmachten, das Echo, das die historischen und politischen Ereignisse beim Volk fanden.» Als Caspar Decurtins 1916 starb, war das Monumentalwerk nach seinen Vorstellungen noch längst nicht vollendet. Mit zwei weiteren Bänden wurde es 1919 zu einem vorzeitigen Abschluss gebracht. 1982 bis 1986 erschien ein vollständiger Reprint mit einem neu angelegten, ausführlichen Register. Seit 2011 ist die ganze Rätoromanische Chrestomathie als Digitalisat im Internet frei zugänglich.
Caspar Decurtins, «Rätoromanische Chrestomathie», Band 2 von 1901.
...und dann gedruckt (unten links) im zweiten Band des Monumentalwerks, erschienen 1901. Zentralbibliothek Zürich

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