Rätoromanisches Verkehrsschild in Zuoz.
Rätoromanisches Verkehrsschild in Zuoz. Wikimedia

Rumantsch

Rätoromanisch wurde 1938 vom Schweizer Stimmvolk als vierte Landessprache angenommen. Das wuchtige Ja war auch ein kräftiges Nein gegen den Faschismus.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Andeer, Zuoz, Lavin: In vielen Orten im Kanton Graubünden läuteten Schulkinder die Kirchenglocken. Denn etwas Einzigartiges war gerade geschehen: Die Schweiz hatte eine vierte Landessprache erhalten. Über 90 Prozent der Stimmenden hatten den Rätoromanen den Rücken gestärkt. Im entfernten Genf gar 99 Prozent! Nur: War es tatsächlich um die Rätoromanen gegangen? Etwas braute sich in den 1930er-Jahren zusammen. Braune Wolken zogen über Deutschland auf, schwarze über Italien. Und die italienischen Faschisten, die Schwarzhemden, waren die eigentlichen Adressaten des wuchtigen Jas zu einer Sprache, die noch wenig zuvor als veraltet und als Ballast betrachtet worden war. Denn von Süden tönte es ähnlich wie von Norden: italophone Gebiete ausserhalb Italiens müssten ins Land zurückgeführt werden – und Rumantsch sei bloss ein lombardischer Dialekt.
4. Landessprache Rätoromanisch (1963) SRF Archiv / YouTube

 

Vom Nebelspalter bis zur Schweizer Illustrierten, von Radio Beromünster bis zum Bundesrat: plötzlich hatte das Rätoromanische viele Freunde. Der gemischte Chor von Samedan ging auf Tournee – stets in Tracht und mit verbilligten Tickets von der SBB. Das Ergebnis vom 20. Februar 1938 war nicht nur ein wuchtiges Ja zum Romanischen, sondern auch ein kräftiges Nein gegen den Faschismus.

Einige Monate später erklärte Bundesrat Philipp Etter die kulturelle Vielfalt, die Ehrfurcht vor der Würde des Menschen und die Absage an einen Führerkult zu Grundwerten der Schweiz – und nicht der Staat, sondern jeder Bürger habe diese zu beschützen. Inhaltlich war diese «Geistige Landesverteidigung» zum Glück so schwammig, dass sich (mit Ausnahme der faschistischen Fröntler) praktisch jeder mit ihr identifizieren konnte. In Stein und Bilder gehauen wurde Etters neue Staatsphilosophie bereits im Jahr drauf an der Landesausstellung in Zürich, wo direkte Verbindungen von Wilhelm Tell zur Wehrbereitschaft für den dräuenden Weltkrieg gezogen wurden. Am Ende der Ausstellung stand die Nationalhymne auf Deutsch, Französisch, Italienisch – und Rumantsch. Die eigensinnigen Bergler passten zum Selbstbild, das sich die Schweiz in diesen Tagen geben wollte.

Noch während der «Landi» brach der Krieg schliesslich aus. Die Türme der Seilbahn, welche die Ausstellungsgelände beidseits des Zürichsees verbunden hatte, wurden abgebaut und für Bunkeranlagen verwendet. Es folgten Jahre im physischen und geistigen Reduit. Die Bunker sind heute fast gänzlich verschwunden oder werden anders genutzt. Geblieben ist die vierte Landessprache: Rätoromanisch!

Die Schweizer sahen sich während des Zweiten Weltkriegs gerne als eigensinnige Bergler.
Die Schweizer sahen sich während des Zweiten Weltkriegs gerne als eigensinnige Bergler. Schweizerisches Nationalmuseum

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