Die beengten Wohnverhältnisse dieser Zürcher Heimarbeiterfamilie bedingen die Nutzung eines einzigen Raums als Küche, Wohn- und Schlafzimmmer. Postkarte anlässlich der Schweizerischen Heimarbeitsausstellung, um 1900.
Die beengten Wohnverhältnisse dieser Zürcher Heimarbeiterfamilie bedingen die Nutzung eines einzigen Raums als Küche, Wohn- und Schlafzimmmer. Postkarte anlässlich der Schweizerischen Heimarbeitsausstellung, um 1900. Zentralbibliothek Zürich

Als die Wohnungs­not noch Arbeiter­woh­nungs­fra­ge hiess

Wohnungsnot – erstmals wurde dieses Thema hierzulande in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert heiss diskutiert. Das Thema hiess damals «Arbeiterwohnungsfrage», forderte die Stadtregierungen und führte sogar zu Krawallen.

Guido Balmer

Guido Balmer

Guido Balmer ist Kommunikationsbeauftragter der Direktion für Raumentwicklung, Infrastruktur, Mobilität und Umwelt des Kantons Freiburg und freischaffender Kommunikationsprofi.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich der Alltag der Menschen rasant. «Das Neue kommt»: So lautet der Titel eines Standardwerks über die Umwälzungen jener Zeit. Neu und prägend war der Siegeszug der Eisenbahn. Prägend war aber auch die Industrialisierung. Dampfkraft und elektrische Energie machten es möglich, Fabriken auch dort anzusiedeln und zu betreiben, wo es keine Wasserkraft gab, auf welche die frühindustrielle Produktion noch angewiesen gewesen war. Dieser Industrialisierungsschub liess Städte wachsen. Und der Zuwachs beschleunigte sich, wie etwa die Zahlen für Basel zeigen: Für die erste Verdoppelung der Einwohnerinnen und Einwohner bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es 70 Jahre gedauert, für die zweite noch 30, und für die dritte Verdoppelung brauchte es nur noch die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die Stadt Zürich wuchs zwischen 1893 und 1897 – also in den Jahren, in denen das Landesmuseum gebaut wurde – jährlich um 9400 Personen. Das entspricht 7,3 Prozent und ist sechsmal mehr als das aktuelle Wachstum der Stadt. Gesamtschweizerisch versechsfachte sich die städtische Bevölkerung zwischen 1850 und 1910. In keiner Volkszählungs-Periode war die Urbanisierung so stark wie zwischen 1888 und 1900.
Ausschnitt aus dem Literatur Magazin vom 10.12.1989, Albert Hauser: «Das Neue kommt» SRF
Die Zuwanderung in die Städte – zunächst vor allem aus ländlichen Gebieten der Schweiz, später auch aus dem Ausland – überforderte die Bauwirtschaft und überlastete den Wohnungsmarkt. Es gab nicht genügend bezahlbaren Wohnraum für all die Menschen, die der Arbeit wegen in die Stadt kamen. Denn gebaut wurden vor allem rentable Repräsentations-, Geschäfts- und Fabrikgebäude, aber auch Villen und bessere Wohnhäuser.
Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden. Aber Wohnungen für das darin arbeitende Personal waren Mangelware. Fabrikgebäude in der Region Zürich, um 1890.
Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden. Aber Wohnungen für das darin arbeitende Personal waren Mangelware. Fabrikgebäude in der Region Zürich, um 1890. Schweizerisches Nationalmuseum
In den Sanitätsakten der Stadt Basel von 1891 heisst es dazu: «Wir erleben, dass in gewissen Städten ein Überschuss an besseren Wohnungen vorhanden ist und gleichzeitig der äusserste Mangel an Wohnungen für sog. kleine Leute. Die Bauspekulation baut Häuser nicht zum dauernden Vermiethen, sondern zum Verkauf.» Und der Stadtrat von Zürich konstatierte in seinem Geschäftsbericht für 1897, es gebe für 25'000 Haushaltungen mit geringem Einkommen bloss 7785 Mietwohnungen zu einem Preis, der für sie bezahlbar sei. Kurz: Es fehlte an Wohnungen für die Arbeiter und ihre Familien. Wohnungsnot herrschte aber nicht nur in grossen Städten, auch in kleinen Städten wie etwa in Arbon, das damals vor allem wegen der stark expandierenden Firmen Saurer und Heine rasant wuchs, oder in ländlichen Regionen wie etwa im unteren Reusstal im Kanton Uri, das nach der Eröffnung der Gotthardbahn zu einem gut erschlossenen und damit interessanten Standort für die Industrie geworden war.

Untermie­ter und Schlafgänger

Und überall passierte dasselbe: Die vorhandenen Miets-Häuser und -Wohnungen wurden unterteilt, aufgestockt und bis in die letzte Ecke vermietet, vom Keller bis unter das Dach. Und die Preise für die engen, dunklen und schlecht belüfteten Wohnungen waren horrend. Offizielle Erhebungen zeigen, dass die Mieten für solche Wohnungen, auf den Kubikmeter umgerechnet, die Preise privilegierter Grosswohnungen überstiegen. Die kleinsten Wohnungen waren also die teuersten. Um die hohe Miete zahlen zu können, brachten viele bei sich in eigens dafür abgetrennten Teilen der Wohnung Untermieter unter. Oder sie beherbergten so genannte Schlafgänger, denen sie ein Bett im eigenen Zimmer vermieteten, teilweise in Acht-Stunden-Schichten. In Zürich machten Untermieter und Schlafgänger zeitweise über 15 Prozent der Bevölkerung aus. Und immer wieder gab es in Zürich und Bern obdachlose Familien, die ihr Quartier in Scheunen, Ställen, Estrichräumen und unter Brücken aufschlagen mussten.
Ein Schlafgänger, gezeichnet von Heinrich Zille, 1902.
Ein Schlafgänger, gezeichnet von Heinrich Zille, 1902. Wikimedia / Stiftung Stadtmuseum Berlin

Öffent­li­che Debatte

Diese Verhältnisse wurden mehr und mehr auch Gegenstand der öffentlichen Debatte – in der Schweiz ebenso wie in anderen Ländern, wo sich in vielen Städten dasselbe Bild zeigte. 1872 widmete sich Friedrich Engels in einer Serie von Artikeln der Wohnungsfrage. Im selben Jahr rief ein Komitee des sozial-demokratischen Arbeitervereins in Basel zu einer Volksversammlung «zur Besprechung der Wohnungsnoth» auf. Es gab allenthalben Vorstösse, die Verhältnisse genau zu untersuchen.
Aufruf zur Volksversammlung zur Besprechung der Wohnungsnot, aus: Luca Trevisan, Das Wohnungselend der Basler Arbeiterbevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1989, S. 105.
Aufruf zur Volksversammlung zur Besprechung der Wohnungsnot, aus: Luca Trevisan, Das Wohnungselend der Basler Arbeiterbevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1989, S. 105. e-periodica.ch
Ab 1889 führten die Städte Basel, Lausanne, Bern, Zürich und Luzern so genannte «Wohnungsenquêten» durch. Diese mit grossem Aufwand durchgeführten Erhebungen hatten zum Ziel, die Wohnverhältnisse nach streng wissenschaftlichen Kriterien zu erheben. Ihre Ergebnisse belegten zum ersten Mal das Ausmass der Wohnungsnot und brachten das Thema endgültig auf die politische Agenda, und zwar unter dem Titel «Arbeiterwohnungsfrage». Schon vor Abschluss der Erhebung in Zürich hatte der Stadtrat in seinem Geschäftsbericht für 1894 festgehalten: «Die Arbeiterwohnungsfrage ist, aus vielfachen Beobachtungen an Ort und Stelle zu schliessen, in ein Stadium getreten, welches geeignet ist, das öffentliche Aufsehen wachzurufen.» Der Stadtrat zeigte sich beunruhigt ob der «Überfüllung» der Wohnungen, «welche in sanitarer, moralischer und sozialer Hinsicht die übelsten Folgen bereits zeitigte und mehr und mehr zeitigen muss, wenn nicht weitausgreifend und energisch dem Übel, das chronisch zu werden droht, entgegengearbeitet wird». Die Verhältnisse, so der Stadtrat, würden sich nicht verbessern, sondern verschlimmern, «wenn die Wohnungsproduktion völlig sich selbst, d.h. der Spekulation überlassen bleibt, wenn nicht von seite der Gemeinschaft, der Gemeinnützigkeit und der Arbeitgeber in die Wohnungsproduktion regulirend eingegriffen wird». Der Zürcher Stadtrat beschloss, «aus seiner Mitte eine Kommission» einzusetzen, «mit dem Auftrage, die Arbeiterwohnungsfrage einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen».

Vorerst keine konkreten Resultate

Konkrete Resultate blieben in den folgenden Jahren dann jedoch aus. Die Beratung einer Reihe von Anträgen «zog sich verschiedener Umstände halber in die Länge», wie der Zürcher Stadtrat festhielt. Einer der Gründe war ein Konjunktureinbruch, aufgrund dessen sich das Wachstum der Stadt vorübergehend verlangsamt hatte. Eine Rolle dürften allerdings auch die politischen Verhältnisse gespielt haben. Die Arbeiterschaft hatte vor der Jahrhundertwende nämlich noch wenig politisches Gewicht. Ab 1900 waren die Sozialdemokraten dann allerdings stärkste Partei im Stadtzürcher Parlament. In den folgenden Jahren kam das erste Projekt für eine städtische Wohnüberbauung zustande (Wohnkolonie Limmat, heute Siedlung Limmat I), die dann 1907 in einer Volksabstimmung angenommen wurde.  
Die 1908 gebaute Wohnsiedlung Limmat I war die erste Siedlung des gemeinnützigen Wohnungsbaus in Zürich. Fotografie von Ralph Hut, 2003.
Die 1908 gebaute Wohnsiedlung Limmat I war die erste Siedlung des gemeinnützigen Wohnungsbaus in Zürich. Fotografie von Ralph Hut, 2003. Baugeschichtliches Archiv
In Basel erteilten Regierungsrat und Grosser Rat der Idee, den Bau von billigen Mietwohnungen dem Staat zu übertragen, 1896 eine klare Absage. Erst im April 1919 und im September 1921 kamen dort die ersten Projekte für die Erstellung von Wohnungen durch den Staat zustande. Andernorts, wie etwa in Arbon, wo die Stimmbevölkerung 1907 einen Beitrag an den örtlichen Aktienbauverein guthiess, beteiligte die sich die öffentliche Hand an Wohnbauvorhaben, die von Privaten vorangetrieben wurden. Oder Industrielle selbst erstellten Wohnraum für ihre Arbeiter, wie etwa Rieter in Winterthur. Zwar entstanden bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch einzelne Wohnbaugenossenschaften, ihnen war aber meist ein kurzes Leben beschieden. Erst nach dem ersten Weltkrieg fanden sie ein günstiges politisches und finanzielles Umfeld.

Einer der Hauptgrün­de für Streiks und Konflikte

Die schlechten Wohnungsverhältnisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten einen wesentlichen Anteil an der Verhärtung des sozialen Klimas jener Zeit. Darauf wies vor allem Bruno Fritzsche hin, der 2009 verstorbene Professor an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich, der mit einem kleinen Team das Werk «Historischer Strukturatlas der Schweiz. Die Entstehung der modernen Schweiz» verfasst hatte. Die Wohnungsnot war, neben der Lohnfrage, nicht nur einer der Hauptgründe für organisierte Streiks, sondern auch für eine Reihe von Konflikten, «die ohne plausible und konkrete Forderung, wegen ‹Nichtigkeiten› und ‹Lappalien› ausgebrochen sind». Beispiele solcher Konflikte sind der Käfigturm-Krawall von 1893 in Bern, der Italiener-Krawall in Zürich von 1896 oder der Arboner Krawall von 1902. Die Arbeiterwohnungsfrage, so Fritzsche, war in der Entstehung von Arbeiterorganisationen, von Klassenbewusstsein und schliesslich von Klassenkampf weitaus wichtiger als Arbeitsplatzverhältnisse.

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