
Als «King Cotton» die Welt regierte
Baumwolle war der wichtigste Rohstoff des 19. Jahrhunderts. Doch die wenigsten Künstler interessierten sich dafür. Zu ihnen gehörte Edgar Degas. Sein Gemälde eines Baumwollkontors in New Orleans hat es in sich.
Rohbaumwolle galt als «weisses Gold» und lief den zuvor dominierenden Naturfasern wie Leinen und Wolle den Rang ab, nachdem im England des 19. Jahrhunderts Methoden zu ihrer industriellen Verarbeitung erfunden worden waren. Schon zuvor hatte der Indiennes-Handel, der Dreieckshandel der Europäer mit den lange unübertroffenen indischen Baumwollstoffen in Afrika, wo sie gegen Sklaven für den Transatlantikhandel getauscht wurden, die Grundlagen dafür gelegt. Denn ohne diese Sklaven wäre die enorme Steigerung der Baumwollproduktion in Amerika unmöglich gewesen.
Die Industrialisierung hingegen führte zur Entstehung eines industriellen Proletariats in Europa. Durch Baumwollhandel und -verarbeitung entstanden in der Folge weltumspannende Handelsimperien und grosse Vermögen. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist die 1851 gegründete Firma Volkart (später Reinhart) in Winterthur. Sie war bis zu ihrer Auflösung 1999 der weltweit viertgrösste Baumwollhändler.
Hier setzt Degas sich zugleich selber in Szene, und zwar als Künstler, der uns mit einer betörend wolkigen Oberfläche in changierenden Weisstönen verführen will. Kaum eine andere Zone in dem Gemälde kostet er derart intensiv aus. Eine kurz darauf entstandene zweite, wesentlich konzentriertere Variante des Baumwollkontors bestätigt dieses Interesse. Degas verzichtet in dieser Fassung fast vollständig auf die anekdotische Dimension seines Themas, ist auf dem Weg zur malerischen Abstraktion der Moderne.
Zugleich gibt Degas’ Szenerie einige Rätsel auf. Wer ist dieser Herr? Ein kritischer Kunde oder gar der Besitzer des Unternehmens? Der konzentriert arbeitende Schnurrbartträger am Stehpult dürfte der Buchhalter sein. Was aber hat es mit den beiden Dandys auf sich, die Kaffeehausatmosphäre verbreiten? Einer lehnt als Randfigur gelangweilt links am Fenster. Der lässig hingefläzte Zeitungleser mit Zigarette sitzt in der Bildmitte und ausserdem in der Diagonalen, die vom Baumwollprüfer nach hinten in Richtung eines nur flüchtig angedeuteten Seestücks mit Segelschiff führt. Das ist kein Zufall bei einem Künstler wie Degas. Denn das Gemälde im Gemälde ist keinesfalls nur ein harmloses Requisit. Segelschiffe transportierten den Rohstoff von den Anbaugebieten zu den Produktionsstätten. Segelschiffe verfrachteten jene Sklaven, die für den Baumwoll-Boom in den USA und besonders in New Orleans benötigt wurden. Ein weiteres sprechendes Detail ist der Papierkorb im Vordergrund, der fast über den Bildrand zu quellen scheint.
Der eigentliche Schlüssel zum Gemälde jedoch ist sein Entstehungsjahr 1873. Am 1. Februar 1873 hatte die Baumwollhandelsfirma Musson, Livaudais, Prestidge & Co. Konkurs angemeldet – und zwar in der Zeitung, die René Degas gerade liest. Edgar Degas, der René nach New Orleans begleitet hatte, um den politischen Wirren in Frankreich zu entkommen, porträtierte dort einige Familienmitglieder. Auch das Baumwollkontor ist ein Familienbild. Aber was für eines! Degas friert den für ihn dramatischen Moment ein, in dem die Familie pleitegeht.


Die tieferliegende Ursache für den Untergang von Firma Musson, Livaudais, Prestidge & Co. war jedoch ein überholtes Geschäftsmodell. Durch das Aufkommen von Eisenbahnen und Telegrafen änderten sich die Bedingungen für das spekulative Termingeschäft, mit dem Michel Musson reich geworden waren. Wer darin weiterhin erfolgreich sein wollte, musste mit der neuen Transport- und Kommunikationsinfrastruktur sowie den aktuellsten Finanzierungsmodellen Schritt halten. Edgar Degas hat das klar erfasst, indem er seinen Bruder René mit der Zeitung darstellt, dem für seine Zwecke überholten Informationsmedium. Tatsächlich hatte René mit Fehlspekulationen den Untergang der Firma Musson besiegelt. Wegen der gewagten finanziellen Verflechtungen der Familie trieb der Bankrott auch Edgar Degas und dessen Vater Auguste, einen Bankier aus Neapel mit Sitz in Paris, in den Ruin.
In Germain Mussons zunächst florierendes Handelsunternehmen stieg neben seinem Sohn Michel mit der Zeit auch Edgars Bruder René ein. Doch nach dem amerikanischen Bürgerkrieg war die Familie nicht nur kommerziell, sondern auch politisch auf der Verliererseite. Michel Musson, der persönlich mehrere Sklaven besessen hatte, liess sogar noch auf Kosten seines Neffen Edgar eine Immobilie aus dessen grossväterlichen Erbe gegen Anleihen der Südstaaten-Konföderation eintauschen. Ein Debakel.
Spätestens an dieser Stelle lohnt sich ein Seitenblick auf die parallel wirkende Firma Volkart. Während die Firma von Degas’ Familie in New Orleans infolge der tektonischen Verschiebungen im Baumwollgeschäft unterging, hatte man in Winterthur, wohl auch aufgrund der Verbindungen zu England, die Zeichen der Zeit besser zu deuten gewusst. Volkart expandierte daher zunächst in Indien. Eine regelmässige Vertretung in den USA etablierte sie erst ab den 1880er-Jahren, um schliesslich entscheidenden Anteil am erneuten Boom des amerikanischen Baumwollgeschäfts nach dem 1. Weltkrieg zu haben.
Kunst als Broterwerb
Doch auch Cottrill hatte die amerikanische Baumwollkrise übel mitgespielt. Er war gerade dabei, seine Kunstsammlung abzustossen. Unabhängig davon hatte er kein Interesse an der Darstellung eines gescheiterten Kollegen in den USA. Das Sensorium für Degas’ Bildsprache ging ihm ohnehin ab.


