William Turner setzte den Rheinfall Anfang des 19. Jahrhunderts ins Zentrum eines berühmten Gemäldes.
William Turner setzte den Rheinfall Anfang des 19. Jahrhunderts ins Zentrum eines berühmten Gemäldes. Wikimedia, MFA Boston

Wie man Wasser festhal­ten kann

Der Rheinfall ist seit Jahrhunderten ein beliebtes Sujet der Kunstwelt. Besonders eindrucksvoll hat der Engländer William Turner die Kraft des Wassers Anfang des 19. Jahrhunderts auf einer Leinwand festgehalten.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

Unzählige Künstler haben den Rheinfall bei Schaffhausen gemalt oder gezeichnet. Als älteste bekannte Abbildung des Rheinfalls wird meist ein sehr einfacher Holzschnitt von Sebastian Münster angeführt, eine Illustration in seinem Erdkundebuch «Cosmographia» von 1544. In viel realistischerer Weise wurde das Naturphänomen aber wohl schon eine Generation vorher festgehalten. Denn auf dem Gemälde «Taufe Christi» (1521) des flämischen Malers Joachim Patinir findet sich im linken oberen Bildteil ein Wasserfall, der sich durch grosse Felsen zwängt, wie man sie auch vom Rheinfall her kennt. Patinirs sogenannte Weltlandschaften, wie man sie hier sieht, sind aber immer collageartig aus diversen Elementen zusammengesetzt. Es ging dem Maler nicht um die erkennbare Wiedergabe einer bestehenden Topographie. Die künstlerische Naturdarstellung als Selbstzweck ist zu seiner Zeit ohnehin unüblich.
Joachim Patiniers Taufe Christi von 1521. Im Hintergrund scheint der Maler den Rheinfall verewigt zu haben.
Joachim Patiniers «Taufe Christi» von 1521. Im Hintergrund scheint der Maler den Rheinfall verewigt zu haben. Wikimedia, Kunsthistorisches Museum Wien
Ab dem späteren 18. Jahrhundert explodiert die Zahl der Rheinfall-Darstellungen. Sie entstehen im Zusammenhang mit einem wachsenden Interesse für dramatische Landschaften im Zuge des aufkommenden Tourismus. Viele der Werke stammen von heute kaum noch bekannten Kleinmeistern, wie sie der Sammler Peter Mettler zusammengetragen hat. Eine herausragende Ausnahme ist das 1802 entstandene Gemälde des Rheinfalls bei Schaffhausen von William Turner (1775-1851). Joseph Mallord William Turner, wie der englische Maler mit vollem Namen heisst, richtet mit grosser Kelle an. Das Zentrum seiner grossformatigen Darstellung sind die herabstürzenden Wassermassen, die durch die Enge zwischen den Felsen hindurchbrechen. Ins Bedrohliche gesteigert wird der Eindruck durch die beiden Felsblöcke links, die demnächst ins Wasser zu kippen drohen.
Turners «Fall of the Rhine at Schaffhausen» entstand zwischen 1805 und 1806.
Turners «Fall of the Rhine at Schaffhausen» entstand zwischen 1805 und 1806. Wikimedia, MFA Boston
Der junge Turner hält sich bei der Wiedergabe des Wassers anders als viele seiner Vorgänger oder Zeitgenossen nicht mit pingeligen Versuchen auf, Strömung und Gischt naturgetreu wiederzugeben. Er setzt auf schwungvolle, breite Pinselstriche und zart daraufgetupfte weisse Flächen. So gelingt es ihm, die Gewalt und die ständig changierende Farbigkeit des Wassers zu vermitteln. Die schon fast impressionistische, ungewohnte und kühne Malweise, mit der Turner das Wasser behandelt, wendet er hingegen nicht auf die Personengruppe im Vordergrund an. Für diese greift er auf bewährte Rezepte einer realistischen Malweise zurück. So ist selbst das Geflecht der Körbe zu sehen. Mit dieser Spannung zwischen diesen verschiedenartig behandelten Bildzonen erhöht er vor allem die Dramatik des Wasserfalls.
Der junge William Turner war von der Kraft des Wassers fasziniert. Selbstporträt, um 1799.
Der junge William Turner war von der Kraft des Wassers fasziniert. Selbstporträt, um 1799. Wikimedia
Turners Botschaft lautet: Das Wasser ist so überwältigend, dass selbst ein Maler, der wie er das klassische Metier beherrscht, nun etwas Neues erfinden und zu ungewöhnlichen Mitteln greifen muss. Er ahmt mit seinem kalkuliert temperamentvollen Pinselstrich die Gewalt der Natur nach – grosses Kino. Mit dem angedeuteten Regenbogen links oben und den aufziehenden Wolken setzt er noch einen drauf. Ausserdem hebelt er alle Gesetze der Perspektive aus. So droht das Wasser demnächst tsunamiartig über die Rahmenkante zu stürzen. Unter Missachtung aller physikalischen Regeln fliess es dann aber brav links aus dem Bild ab und verschont nicht nur uns, sondern auch die Personengruppe im Vordergrund.
Teilansicht von William Turners Gemälde "Fall of the Rhine at Schaffhausen" von 1806.
Die Kraft des Wassers sprengt den Rahmen eines «normalen» Gemäldes. Wikimedia, MFA Boston
Diese ist wiederum so klein gehalten, dass wir weiter von ihr entfernt zu stehen scheinen als vom Wasserfall im Hintergrund. Die diffuse bräunliche Zone, aus der ein Nebenbach strömt, verwirrt zusätzlich. Nichts stimmt hier. Es herrscht ein anstrengendes Chaos in der Komposition – und genau das bringt uns dazu, vor dem Bild zu verweilen, um zu verstehen, was hier geschieht. Mit den Staffagefiguren stellt Turner eine Verbindung zwischen der überzeitlichen ungezähmten Natur und der begrenzten Zeit und Rolle des Menschen her. Der Winzling Mensch vor der unendlichen Natur – dies war ein sehr beliebtes Motiv der Romantik, mit dem Turner den Nerv der Zeitgenossen traf. Die mit Gepäck und Tieren beschäftigten Knechte und Mägde erinnern an die damalige Mühsal des Reisens. Vor der Erfindung der Eisenbahn waren die schiffbaren Flüsse die wichtigsten Verkehrswege, um lange Reisen zu Fuss, auf Reittieren oder bestenfalls mit Kutschen zu vermeiden. Natürliche Hindernisse wie der Rheinfall zwangen die Reisenden, das Gepäck umzuladen.
Teilansicht von William Turners Gemälde "Fall of the Rhine at Schaffhausen" von 1806.
Turner stellt das Kräfteverhältnis zwischen Natur und Mensch dringlich dar. Wikimedia, MFA Boston
Turner zeigt denn auch nicht nur das dienstbare Personal im Vordergrund, sondern, fast verschmolzen mit den Klippen im Vordergrund, auch die Auftraggeber und abenteuerlustigen Nutzniesser der mühseligen Verladeaktion: Drei Männer, vielleicht wie der Maler englische Reisende auf Grand Tour, auf der klassischen Bildungsreise in Europa, die es sich leisten können, hier in aller Ruhe das von ihrem Landsmann Edmund Burke beschworene «Erhabene» der Natur zu bestaunen. Denn der Rheinfall war zwar auf dem typischen Weg der Gentlemen rheinaufwärts via Basel nach Italien keine feste Station, sondern eher ein beliebter Abstecher für jene mit besonders viel Geld und Musse. Dass jedoch Turner schon auf der ersten seiner sechs Reisen durch die Schweiz hier vorbeikam, ist kein Zufall. Für sein künstlerisches Interesse an Landschaften, das er zuvor mit seinen Zeichnungen und Aquarellen von seinen Wanderungen in Wales und Schottland bewiesen hatte, war der Rheinfall damals ein fast logisches Ziel.
Der Rheinfall war für William Turner auch später ein prägender Ort. Aquarell von 1841.
Der Rheinfall war für William Turner auch später ein prägender Ort. Aquarell von 1841. Wikimedia, Princton University Art Museum
Zwar griff der noch junge Turner mit seiner Darstellung des Rheinfalls ein bei Malern und ihrem Publikum enorm beliebtes Sujet auf. Er reihte sich damit unter die Dienstleister des entstehenden Tourismus. Zugleich distanzierte er sich bereits klar von den künstlerischen Konventionen seiner Zeit und setzte neue Massstäbe für die Landschaftsmalerei. Sehr gut zeigt dies ein kurzer Vergleich mit der Vorgehensweise eines nur unwesentlich älteren Zeitgenossen Turners, des aus dem Tirol stammenden Joseph Anton Koch (1768-1839). Koch war seinerzeit ein geschätzter Maler, galt als Erneuerer der Landschaftsmalerei – und liebte Wasserfälle. Er hatte sich als Teil der Künstlergruppe der sogenannten «Deutschrömer» in Rom niedergelassen und war dort erfolgreich tätig. Auf seinen Reisen war er 1791, ein Jahrzehnt vor Turner, am Rheinfall vorbeigekommen. Er fertigte von diesem vier Skizzen von verschiedenen Standpunkten aus an. Koch scheint es dabei um eine möglichst naturgetreue Wiedergabe zu gehen.
Skizze aus dem Tagebuch von Joseph Anton Koch, 1791
Skizze aus dem Tagebuch von Joseph Anton Koch, 1791 Staatsgalerie Stuttgart
Die Skizzen wertete er jedoch nicht für ein Gemälde aus. Er fand den Rheinfall, wie seine Notizen belegen, auch weniger hoch und tosend als erwartet. Vielleicht konzentrierte Koch sich daher auf die zwar kleineren, aber kraftvolleren Wasserfälle im Berner Oberland. Sein Gemälde «Schmadribachfall» von 1805 ist eine von mehreren Versionen, die er von diesem besonders eindrücklichen Gebirgswasserfall gezeichnet und gemalt hat. Die Unterschiede zu Turners Malstil sind frappant: Kochs Landschaft ist schon fast kulissenhaft statisch. Bis auf den winzigen Hirten mit seiner Herde, die hier vor allem zur Illusion einer sehr grossen Entfernung des Wasserfalls beitragen, ist sie unbelebt. Der herabstürzende Wasserfall, der stäubend in einem Loch unermesslicher Tiefe verschwindet, hat etwas Beunruhigendes: Man möchte keineswegs in seine Nähe gelangen. Auch wenn er dann im weiteren Verlauf zu einem gezähmten Wildbach und Teil einer Idylle wird, tut Koch alles, um unseren Respekt vor der Urgewalt der Natur zu steigern. Sein Schmadribachfall-Sujet wurde schon von Zeitgenossen als gemaltes Manifest für die naturgegebene Freiheit des Individuums im Kontext der Aufklärung verstanden.
Es gibt mehrere Versionen von Kochs «Schmadribachfall». Diese hier stammt aus dem Jahr 1824.
Es gibt mehrere Versionen von Kochs «Schmadribachfall». Diese hier stammt aus dem Jahr 1824. Wikimedia, Neue Pinakothek
Doch gerade wegen der zeitgebundenen symbolischen Aufladung lässt uns das Gemälde heute eher kalt. Die sterile Wirkung hat mit dem allzu sicheren Logenplatz zu tun, den wir zugewiesen bekommen. Es besteht keinerlei Gefahr, vom Wasser des Schmadribachfalls überflutet oder gar weggerissen zu werden. Warum sollten wir wie Turners Helden Risiken eingehen und auf dem Weg durch dunkle Wälder möglichst nahe an den Wasserfall gelangen? Es genügt ja, sich aus der Distanz zu gruseln. Turners  experimenteller, subjektiver Malstil wird sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker durchsetzen. Seit dem Siegeszug des Impressionismus sind wir so sehr daran gewöhnt, dass für unser Auge Künstler wie Koch mit ihrem perfekten Akademiestil eher fad erscheinen. Sogar Turner selber wird sich mit der Zeit noch deutlich radikalisieren, wie sein zunehmend in expressiven Farbnebeln aufgelöstes Spätwerk zeigt.
Vierwaldstättersee, Aquarell von William Turner, 1841.
Der Vierwaldstättersee wurde 1841 von William Turner in Szene gesetzt. Wikimedia
Eine weitere Dimension der Faszination durch die Naturgewalten im 19. Jahrhundert tritt erst heute wirklich klar hervor. Im 19. Jahrhundert, als die Maler immer häufiger diese Natur zelebrieren, beginnt zusammen mit der industriellen Revolution und der Nutzbarmachung der Naturkräfte auch deren Zerstörung. Die Industriegeschichte nicht zuletzt der Schweiz ist eng mit der Wasserkraft verbunden, die schon früh den Aufschwung etwa der Baumwollindustrie begleitete und bis heute eine wichtige Rolle in der Stromerzeugung spielt – mit Folgen für zahlreiche Bäche und Flüsse. Die malerisch übersteigerte Darstellung der Naturgewalten unterstrich indirekt die Leistung der Menschen, denen es gelang, diese Naturgewalten zu zähmen oder zumindest für ihre Zwecke zu nutzen. Zugleich schufen die Maler eine idealisierte Gegenwelt zur Realität.
Gemäldereproduktion von Ludwig Hess’ «Chute du Rhin dite Cataracte de Ruflen au pays des Grisons», 1797.
Kraftvolle Natur: Gemäldereproduktion von Ludwig Hess’ «Chute du Rhin dite Cataracte de Ruflen au pays des Grisons», 1797. Schweizerisches Nationalmuseum
Heute gehört zu den kritisierten Begleiterscheinungen des technischen Fortschritts nicht zuletzt das Verschwinden der Wasserfälle etwa aufgrund von Talsperren oder sonstigen Eingriffen zwecks Energiegewinnung. Auch der Rheinfall ist davon seit langem betroffen: Wenn er auf alten Darstellungen häufig höher und gewaltiger erscheint als heute, liegt dies nicht nur an der Tendenz mancher Maler, zwecks Effekthascherei die Dimensionen ein wenig zu übertreiben. Bis zum Bau des Kraftwerks Rheinau ab 1952 lag der Wasserpegel unmittelbar nach dem Rheinfall rund zwei Meter tiefer. Das erklärt auch, warum Turners Reisegruppe sich in einer Uferzone aufhält, die es heute in dieser Form nicht mehr gibt.

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