Die Jagdschale von Stein am Rhein wurde vermutlich zwischen 260 und 290 n. Chr. in einer Manufaktur im Rheinland hergestellt.
Kantonsarchäologie Schaffhausen / Rolf Wessendorf

Gläser für die Ewigkeit

Eine Trinkschale aus Stein am Rhein gehört zu den besonders kostbaren Glasfunden aus römischer Zeit. Nicht nur das Stück, auch die Fundumstände sind spektakulär.

Felix Graf

Felix Graf

Felix Graf, bis 2017 Kurator am Landesmuseum Zürich, ist freier Publizist.

Bei der Verlegung von Heizungsröhren im Treibhaus einer unmittelbar an der Bahnlinie von Stein am Rhein nach Kreuzlingen gelegenen Gärtnerei stiess ein Arbeiter im September 1969 auf zwei Skelette und das Fragment einer mit figürlichen Darstellungen reliefierten Glasschale. Damit war die Nekropole des rund 250 Meter nordwärts gelegenen, spätrömischen Kastells Auf Burg entdeckt. Seither sind in mehreren Grabungen insgesamt 83 Gräber freigelegt worden. Die Qualität und die Zahl der Grabbeigaben aus Glas sowie der vergleichsweise intakte Kontext von Kastell und dazugehörigem Gräberfeld machen die Besonderheit der Fundstelle aus. Die archäologische Feldarbeit findet im laufenden Jahr ihren Abschluss. Auf die Auswertung der alten und neuen Funde mit den neuen Methoden der aDNA-Forschung darf man gespannt sein.

Notgrabung im Treibhaus

Der mit Erdbestattungen vertraute Gärtner erkannte sofort, dass es sich bei den Skelettfunden um etwas Besonderes handelt. Wegen der Abwesenheit des Kantonsarchäologen nahmen sich die ortsansässige Kunsthistorikerin Hildegard Urner-Astholz und Stadtpolizist Ruedi Studer der Sache an. Sie liessen den bereits in eine Mülldeponie transportierten Aushub durchsuchen und konnten damit weitere Teile der Schale sicherstellen. Bei der folgenden Rettungsgrabung kamen sechs weitere Gräber mit kostbaren Glasbeigaben zum Vorschein. Spektakulär sind die Fundumstände vor allem deshalb, weil auf Anhieb ein Fragment des mit Abstand bedeutendsten Stückes ans Tageslicht kam.

Die vermutlich in einer Manufaktur in Köln im frühen 4. Jahrhundert angefertigte Glaskanne mit Innenkännchen ist ein Meisterwerk der Glasbläserkunst.
Kantonsarchäologie Schaffhausen / Rolf Wessendorf

Die äusserst kostbare Prunkschale fasst etwa ein Viertel Liter mit Wasser gemischten Wein. Ihren ganzen Zauber entfaltet sie erst beim Gebrauch, wenn das Licht in das mit Weisswein gefüllte, leicht grünlich schimmernde Glas einfällt und die braunroten Figuren zum Leuchten bringt. Als Besitzer des Luxusgefässes kommt eigentlich nur ein hochgestellter Beamter der römischen Provinzialverwaltung infrage. Verwendung findet das Prunkglas bei festlichen Gelegenheiten, wobei insbesondere an Leichenfeiern zu denken ist.

Die Verwendung der Schale als Grabbeigabe und die auf ihr dargestellten Motive verweisen auf den Glauben an die Unsterblichkeit. Sowohl die griechische Inschrift «PIE ZESAIS – Trink, mögest du leben!» als auch die beiden Jagdszenen und die Pinie im Sinn des Lebensbaums gehören in den Kontext von Diesseits und Jenseits. Die Inschrift ist doppeldeutig. Sie begegnet in lateinischer und in griechischer Version auf verschiedenen Trinkgefässen, unter anderem auf spätrömischen Weinbechern aus dem Rheinland. Natürlich ist die Formel auf den Weinbechern zunächst ein Trinkspruch im Sinn des lateinischen «Prosit!» oder des gleichbedeutenden «Zum Wohl!». Sie begegnet aber auch auf Grabbeigaben und insbesondere auf Täfelchen aus Blattgold, die man in den orphisch-pythagoreischen Kreisen Süditaliens im 4. Jahrhundert v. Chr. den Verstorbenen mit ins Grab gegeben hat, mitsamt genauen Anweisungen für die Reise durch die Unterwelt bis zu den Inseln der Seligen. Auf den Goldtäfelchen bezieht sich die Formel «Trinke, mögest du leben!» nicht auf den Wein, sondern auf das Leben spendende Wasser aus der Quelle der Erinnerung, der Mnemosyne, die sich nach antiker Vorstellung unmittelbar neben der Quelle des Vergessens, der Lethe, befand. Also war auf dem Weg in die Ewigkeit äusserste Vorsicht geboten. Das Wasser symbolisiert nicht nur Erinnern und Vergessen, sondern auch Leben und Tod.

Im 1974 freigelegten Grab in Stein am Rhein fanden sich besonders reiche Glasbeigaben.
Kantonsarchäologie Schaffhausen / Rolf Wessendorf

Tugend und Unsterblichkeit

Unsterblichkeit erlangt man nach antiker Vorstellung auf dem Weg über die heroische Tapferkeit, die erste der römischen Kardinaltugenden. Diese zeigt sich exemplarisch im Zweikampf mit wilden Tieren – nicht etwa in der Arena, sondern auf der freien Wildbahn. Die beiden gestalterisch ausgewogenen, in der Darstellung auf das Wesentliche beschränkten Jagdszenen auf der Trinkschale zeigen zwei junge Männer, die sich durch ihre Kleidung und ihre Attribute als Aristokraten ausweisen, im Kampf mit einem Panther und einem Bären. Der Rundschild des Jägers, der den Jagdspiess mit der sicherheitshalber nicht zu weit vorgreifenden linken Hand gegen den ihn anspringenden Panther richtet, liegt zu seinen Füssen am Boden. Das ist ein zusätzlicher Hinweis auf seinen Mut und darüber hinaus auf seine noble Herkunft, denn der Rundschild ist nicht nur eine Schutzwaffe, sondern auch ein den vornehmsten römischen Bürgern vorbehaltenes Statussymbol.

Die Jagdschale von Stein am Rhein gehört zu den Highlights in der Dauerausstellung des Museums zu Allerheiligen in Schaffhausen.
Kantonsarchäologie Schaffhausen / Rolf Wessendorf

Spätrömisches Kastell

Das unter den Kaisern Diokletian und Maximian um 294 errichtete, spätrömische Kastell mit seinen zwölf Türmen diente der Sicherung der im Zug einer umfassenden militärischen und administrativen Reorganisation an den Rhein, an die Donau und an den Euphrat zurückverlegten Reichsgrenzen. Ihren Namen erhielt die imposante Anlage von der benachbarten gallorömischen Siedlung, dem vicus Tasgetium (Eschenz). Die Mauerreste des Kastells mit seinen genau nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichteten Ecktürmen sind auch heute noch gut sichtbar.

Im Mittelalter erhielten Orte mit römischen Ruinen oft den Namen «Burg» – auch in anderen Sprachräumen, Luxor (arab. al-quasr von lat. castrum) am Nil ist ein schönes Beispiel –, sodass der Hügel mit dem ehemaligen Kastell bis auf den heutigen Tag Auf Burg heisst. Zum Kastell Tasgetium gehörte eine steinerne Rheinbrücke und ein gut ausgebauter Brückenkopf auf der rechten Rheinseite, der erst 1986 bei Grabungen unter der Klosteranlage von Sankt Georgen nachgewiesen werden konnte. Die Situation entspricht damit derjenigen in Zurzach und Kaiseraugst, den anderen beiden Standorten von spätrömischen Kastellen und Rheinübergängen zwischen dem Ausfluss des Bodensees und dem Basler Rheinknie. Über die Zusammensetzung der Bevölkerung auf dem während drei bis vier Generationen dicht besiedelten Areal des Kastells wissen wir wenig. Die Frauen- und Kindergräber in der Nekropole sowie die reichen Grabbeigaben weisen darauf hin, dass innerhalb der Festungsmauern nicht nur 100 bis 200 Soldaten, sondern auch zahlreiche Zivilpersonen lebten. Kurz nach 400 wird der Stützpunkt von der römischen Militärverwaltung aufgegeben, was nicht heisst, dass das Areal nicht weiter bewohnt war.

Computerrekonstruktion des Kastells Tasgetium. Die Nekropole lag etwa 250 Meter entfernt an der zum Kastell führenden Strasse.
Kantonsarchäologie Schaffhausen / Valentin Homberger

Römischer Weinbau in der Nordostschweiz?

Woher kam eigentlich der Wein, der bei festlichen Anlässen aus den in Stein am Rhein gefundenen Luxusgläsern getrunken wurde? In Amphoren aus Italien und Südfrankreich und in Holzfässern von den Anbaugebieten in den Alpentälern Rätiens und vermutlich auch an Rhein und Mosel. Im benachbarten vicus Tasgetium wurden sowohl Amphoren als auch Teile von Holzfässern gefunden. Auf Brandstempeln und Ritzinschriften sind sogar die Namen von Weinhändlern und Küfern zu lesen. Besonders interessant ist der Stempel jenes Händlers, der den rätischen Beinamen Suans trägt. Es ist anzunehmen, dass auf den nahen römischen Gutshöfen Wein für den alltäglichen Eigenbedarf produziert wurde.

Der Wein war neben Getreide, Öl und Salz das wichtigste Lebensmittel. Aber konkrete archäologische Hinweise auf den lokalen Weinbau fehlen bis heute. Weder Teile von Kelteranlagen noch Rebmesser oder Trottengeschirr wurden gefunden. Die Weinrebe ist, im Gegensatz zum Walnussbaum, nicht nachgewiesen. Nicht einmal Traubenkerne kamen bei den Grabungen in Latrinen und Sodbrunnen zum Vorschein.

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