Eine verhängnisvolle Reise: Die Baselbieter Dichterin Helene Bossert wird 1953 in Armenien von Einheimischen begrüsst.
Eine verhängnisvolle Reise: Die Baselbieter Dichterin Helene Bossert wird 1953 in Armenien von Einheimischen begrüsst. Staatsarchiv BL, PA 6518 03.01-002

Eine Hexenjagd im Kalten Krieg

Nach einer Reise in die Sowjetunion im September 1953 geriet die Baselbieter Dichterin Helene Bossert in den Ruf, eine Kommunistin zu sein. Aufgrund der antikommunistischen Stimmung in der Schweiz der 1950er-Jahre sollte dieser Verdacht ihr Leben beinahe zerstören.

Rea Köppel

Rea Köppel

Rea Köppel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DISTL – Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal.

Am 28. November 1953 sassen zwei Baselbieter Kantonspolizisten einen Nachmittag lang im Auto vor einem kleinen Haus in Sissach (BL) und überwachten es diskret. In dem Gebäude lebten die Mundartdichterin Helene Bossert (1907–1999), ihr Mann Ulrich Fausch, ein aktiver Gewerkschafter, und ihr achtjähriger Sohn Johann Ulrich, genannt Hansueli. Im Auftrag der Schweizerischen Bundesanwaltschaft sollten die beiden Polizisten abklären, ob Helene Bossert ihr Haus verlassen würde, um nach Bern an einen Empfang der Sowjetischen Botschaft zu fahren. Der Bericht hält jedoch fest, dass das Ehepaar den ganzen Nachmittag hindurch nur Haus- und Gartenarbeit verrichtete.
Helene Bossert mit ihrem Ehemann Ulrich Fausch und ihrem Sohn Johann Ulrich (Hansueli), 1945/46.
Helene Bossert mit ihrem Ehemann Ulrich Fausch und ihrem Sohn Johann Ulrich (Hansueli), 1945/46. Staatsarchiv BL, PA 6518 01.03.01-005
Die «Fiche» Bosserts, obschon von beträchtlichem Umfang, ist voller Dokumente und Rapporte, die allesamt ergebnislos blieben. Denn die Dichterin, die von der Bundesanwaltschaft viele Jahre lang überwacht wurde, war gar nie politisch aktiv. Zum Zeitpunkt der Observierung hatte sie sich aufgrund der gegen sie laufenden Hetzjagd ohnehin ins Privatleben zurückgezogen und verliess Haus und Garten deutlich seltener als zuvor. Auch zur Arbeit musste sie nicht mehr – ihre Beschäftigung als freie Mitarbeiterin des Radiostudios Basel war ihr auf Betreiben der Bundesanwaltschaft bereits gekündigt worden.

Eine Hexenjagd – politisch, medial und zwischenmenschlich

Dass die Bundesanwaltschaft die Drahtzieherin ihrer Entlassung und ihres faktischen Auftritts- und Publikationsverbots als Dichterin war, erfuhr Helene Bossert jedoch erst viel später. Wie für alle Schweizerinnen und Schweizer, über die eine Fiche angelegt worden war, war für sie die Aufdeckung des Fichenskandals im November 1989 ein Schock. Ihr war jedoch klar, dass sie nach ihrer Reise in die Sowjetunion dem Grossteil der regionalen Presse und Bevölkerung als Kommunistin galt, deren «geistige Heimat» im Osten liege. In Bosserts Nachlass finden sich zu diesem Thema nicht nur viele Zeitungsausschnitte, sondern auch Briefe und Einträge in ihren Taschenkalendern. Darin dokumentiert sie eine Reihe wilder Gerüchte, die über sie kursierten, nicht selten verbreitet von ehemaligen Freundinnen oder Bekannten. Es wurde etwa spekuliert, sie sammle die Namen von Mitmenschen, die sich an der Fasnacht über sie lustig gemacht hätten, um diese an die sowjetischen Machthaber zu schicken. Wenn es Krieg gäbe, würden die Personen auf dieser «schwarzen Liste» als erste erschossen. Ein anderes Mal kam ihr Sohn weinend nach Hause, weil seine Schulkameraden erzählt hatten, seine Mutter sei während ihrer Reise an einen Baum gebunden worden und hätte die Munitionsvorräte der Schweiz verraten müssen – von denen sie natürlich keine Ahnung hatte. Dass ihre ganze Familie in Sippenhaft genommen wurde, war eine enorme Belastung für Bossert. Nur ihre symbolische Verbrennung traf sie noch härter: Im Zuge der fasnächtlichen «Chluri»-Verbrennung (vergleichbar mit dem «Böögg» in Zürich) wurde am 11. März 1954 eine ausgestopfte Figur, die Bossert darstellen sollte, zusammen mit ihren Büchern auf dem Sissacher Gemeindeplatz auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Die Parallelen zu den Hexenverbrennungen entgingen Bossert nicht und fanden im Gedicht «Vogelfrei!» kraftvollen Ausdruck: Vogelfrei! Z Russland gsi, Z Russland gsi, So, die mache mer jetz hi! Vogelfrei, Vogelfrei, Bänglet numme uf se Stei! Hoppla druuf, Hoppla druuf, Bis zu ihrim letschte Schnuuf! Aber breicht, Aber breicht, Settig Häxe sy halt geicht. Z Russland gsi, Z Russland gsi, So, die mache mehr jetz hi!

Eine verhäng­nis­vol­le Reise

Bis zum Herbst 1953 war Helene Bossert eine gut integrierte, beliebte Persönlichkeit des Sissacher Kultur- und Dorflebens. Aus einfachsten sozialen Umständen stammend, hatte sie sich ihre Position aus eigener Kraft erarbeitet: Sie hatte ihren ersten Gedichtband publiziert («Blüemli am Wäg», 1942), war mit der Basler und Baselbieter Literaturszene gut vernetzt, in ihrer Nachbarschaft beliebt und als Radiomoderatorin in der ganzen Deutschschweiz bekannt. Als ehemalige «Soldatenmutter», die im Zweiten Weltkrieg eine «Soldatenstube» geleitet hatte, war sie durchaus patriotisch gesinnt, fürchtete sich jedoch wie viele Schweizerinnen und Schweizer vor einem weiteren Krieg, der diesmal ein Atomkrieg werden könnte.
Ein Einsatz Bosserts als Soldatenmutter an einer Weihnachtsfeier in der Soldatenstube Waldenburg, 1941.
Ein Einsatz Bosserts als Soldatenmutter an einer Weihnachtsfeier in der Soldatenstube Waldenburg, 1941. Staatsarchiv BL, PA 6518 02.02-001
Diese Angst verarbeitete sie in einer Handvoll flammend pazifistischer Gedichte. In «Rottet ech zäme» forderte sie etwa die Mütter der Welt auf, sich gegen den Krieg zusammenzurotten; bei einer Lesung im Baselbieter Landrat erntete sie dafür viel Applaus. Dies verschaffte ihr wiederum die Aufmerksamkeit der Basler Frauenvereinigung für Frieden und Fortschritt, die Bossert zur Teilnahme an der für sie folgenschweren Reise hinter den Eisernen Vorhang einlud. Das Antifaschistische Komitee der Sowjetfrauen hatte für die Frauenvereinigung eine kostenlose dreiwöchige Studienreise mit anschliessendem Gegenbesuch organisiert. Helene Bossert überlegte sich ihre Teilnahme lange und kam dann zum Schluss, dass Völkerverständigung nur möglich sei, wenn man sich gegenseitig kennenlerne. Auch muss die Versuchung einer Flugreise ins entfernte Ausland für die weltoffene Dichterin, die bisher kaum über die Grenze ins nahe Deutschland gekommen und noch nie geflogen war, übermächtig gewesen sein.

Propagan­da

Dank Bosserts umfangreichem Nachlass, den ihr Sohn im Jahr 2022 dem Staatsarchiv Basel-Landschaft übergab, ist in den letzten Jahren endlich mehr über die Inhalte dieser Reise, die vom 5. bis 26. September 1953 dauerte, bekannt geworden. Die Gastgeberinnen hielten ein höchst intensives Programm für die Schweizerinnen bereit, das ganz auf das damalige Frauenbild zugeschnitten war: Eine neue Frauenklinik, Fabriken mit fortschrittlichen Anstellungsbedingungen, Kinderkrippen und vieles mehr sollten die Reiseteilnehmerinnen von den Vorteilen des kommunistischen Systems überzeugen. Die Propaganda-Strategien reichten von einer ständigen Überforderung der Sinne über eine sehr selektive Auswahl des Gezeigten bis zu glänzenden Opern- und Ballettabenden, nach denen kaum Zeit für genügend Schlaf blieb. Ein Tagebuch, in dem Bossert ihre eigenen Eindrücke ungefiltert festhielt, lässt deutlich erkennen, dass die Dichterin diesen Strategien gegenüber nicht unempfindlich blieb – während der Reise scheiterte sie erkennbar daran, eine kritische Distanz zum Gehörten zu wahren.
Die Ankunft der Schweizerinnen am Flughafen Moskau-Wnukowo, 6. September 1953.
Die Ankunft der Schweizerinnen am Flughafen Moskau-Wnukowo, 6. September 1953. Staatsarchiv BL, PA 6518 03.01-002
Die Schweizer Delegation im Kreml vor der Zarenkanone, 23. September 1953.
Die Schweizer Delegation im Kreml vor der Zarenkanone, 23. September 1953. Staatsarchiv BL, PA 6518 03.01-002
Der nach der Reise aufkommende Vorwurf, sie würde selbst Propaganda verbreiten, entbehrt aber jeglicher Grundlage. An keiner Stelle, weder in ihren privaten noch in ihren öffentlichen schriftlichen Äusserungen, warb Bossert je für den Kommunismus oder stellte diesen über das westliche System. Aber sie weigerte sich auch beharrlich, Position gegen die Sowjetunion zu beziehen oder sich für ihre Reise zu entschuldigen. Sie war sich keiner Schuld bewusst, hätte sie doch ihren Worten nach auch eine Einladung in die USA, die ähnliche Reisen organisierte, freudig angenommen. Immer wieder betonte sie, dass eine dreiwöchige Reise nicht ausreiche, um sich eine fundierte Meinung zu bilden, und dass es nur verständlich sei, wenn man Gästen ein vorteilhaftes Bild seines Landes zeigen möchte. Für diesen verweigerten Positionsbezug bezahlte sie einen hohen Preis. Jahrelang lebte sie mit ihrer Familie zurückgezogen in einer Art sozialem Feindesland unter grossem Spardruck. Wurde sie zu einer Lesung eingeladen, intervenierte die Bundesanwaltschaft im Hintergrund, sodass die begabte Rezitatorin praktisch keine Möglichkeiten zu öffentlichen Auftritten mehr erhielt.
Helene Bossert im Garten ihres Hauses am Bützenenweg in Sissach, wo sie fast ein halbes Jahrhundert lang lebte. Ihren Lebensabend verbrachte sie im Alters- und Pflegeheim «Jakobushaus» in Thürnen.
Helene Bossert im Garten ihres Hauses am Bützenenweg in Sissach, wo sie fast ein halbes Jahrhundert lang lebte. Ihren Lebensabend verbrachte sie im Alters- und Pflegeheim «Jakobushaus» in Thürnen. Staatsarchiv BL, PA 6518 01.02-009

Kein Einzel­fall

Nicht nur Bosserts Leben geriet aufgrund der antikommunistischen Stimmung in der Schweiz während des Kalten Krieges aus den Fugen. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicher der kommunistische Schriftsteller und Kunsthistoriker Konrad Farner (1903–1974). Nachdem die NZZ seine Adresse bekannt gemacht hatte, wurden er und seine Familie in ihrem Haus von einem aufgehetzten Mob geradezu terrorisiert. Aber auch für unzählige unbekannte Schweizerinnen und Schweizer hatte die Einflussnahme der Bundesanwaltschaft negative Auswirkungen auf ihre Karriere und Lebensgestaltung. Helene Bossert war zwar keine Kommunistin wie Konrad Farner. Doch sie hat mit ihm gemeinsam, dass sie erst im Zuge der 1968er-Bewegung langsam und nur teilweise rehabilitiert wurde.

Sonder­aus­stel­lung «Helene Bossert – Heimat­dich­tung und Hexenjagd»

Noch bis zum 17. August 2025 beleuchtet das DISTL – Dichter:innen- und Stadtmuseum die Faktenlage zur spannenden Lebensgeschichte Helene Bosserts. In der Begleitpublikation setzen sich renommierte Historikerinnen und Historiker vertieft mit Bosserts Nachlass auseinander. Die Publikation ist erhältlich im DISTL, beim Verlag Baselland oder im Buchhandel.

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