Deutsche Kriegsgefangene in der Schweiz
Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten viele deutsche Soldaten in und durch die Schweiz. Die Behörden reagierten unterschiedlich: Die einen wurden abgeschoben, die anderen interniert.
Zwischen 1945 und 1947 wurden in Frankreich 1'065'000 deutsche Kriegsgefangene festgehalten. 740'000 von ihnen stammten aus amerikanischen Internierungslagern, 237'000 waren auf französischem Staatsgebiet festgenommen worden. Die letzten kamen aus Nordafrika, wo sie unter britischer Aufsicht gestanden hatten. Nachdem sie für den Wiederaufbau in das vom Krieg verwüstete Frankreich geschickt worden waren, liessen viele – fast 40’000 – ihr Leben auf Minenfeldern oder starben in Gefangenschaft.
Wie in zahlreichen anderen Ländern forderte der Krieg auch in Frankreich nach seinem Ende weitere Todesopfer. Die Franzosen wollten offene Rechnungen begleichen und zeigten sich ihren einstigen Peinigern gegenüber unbarmherzig. Hunger, entsetzliche hygienische Bedingungen, Schlafstätten in Erdlöchern: Untersuchungsberichte des IKRK gingen so weit, die französischen Lager mit Buchenwald oder Dachau zu vergleichen. Mit der Anprangerung der Zustände wollte man vor allem die damals verständlicherweise sehr deutschfeindlich eingestellten französischen Behörden zu einer Reaktion bewegen.
Flucht in die Schweiz
Während der Gefangenschaft, die Monate dauerte, gelang über 80’000 Männern – grösstenteils Angehörigen der Wehrmacht – die Flucht aus den französischen Lagern. Sie wollten in ihre Heimat zurückkehren. Es ist Ironie des Schicksals, dass einige – wie nur wenige Monate zuvor unzählige Juden – ihr Wohl in der Schweiz suchten. Sie waren in der Nacht unterwegs. Auf unsicheren Wegen oder als blinde Passagiere in Güterwaggons. Manchen gelang es, die Schweizer Grenze zu erreichen und den richtigen Moment für den Übertritt zu erwischen.
Begonnen hatte der Exodus im April 1945, als französische Streitkräfte in Konstanz einzogen. Deutsche Zivilisten und Soldaten gerieten in Panik und drängten an die Schweizer Grenze. Am 26. April erschienen 150 Angehörige der Wehrmacht und deutsche Zollbeamte an der Grenze und ersuchten um Erlaubnis für die Einreise in Schweiz, wo sie anschliessend interniert wurden. Kurz darauf, im Mai 1945, gelangten 400 Russen im Dienst der Deutschen – sogenannte «Vlassov-Kosaken» – teilweise in Begleitung von Frauen und Kindern nach Liechtenstein und ersuchten die Schweizer Zöllner um eine Internierung. Sie waren jedoch unerwünscht und wurden zurückgewiesen. Es sollte erst der Anfang sein. Bald schon folgten ihnen geflüchtete Kriegsgefangene.
Im August 1945 griff die rund um den Neuenburgersee stationierte Polizei in Fleurier zwei deutsche Kriegsgefangene auf, die aus dem Lager Valdahon dans le Doubs geflohen waren, einige Tage später drei weitere Flüchtlinge in Boudry. Drei Deutsche wurden in Corcelles gefasst und mit militärischer Gewalt nach Frankreich abgeschoben. Und im Oktober 1945 wurden vier Soldaten der Wehrmacht, die einem Lager in Annemasse entflohen waren und versuchten, in ihre Heimat zurückzukehren, im waadtländischen Vuillerens aufgegriffen. Auch in Genf tauchten Flüchtlinge auf. Es waren SBB-Angestellte, die im Januar 1946 in einem Waggon im Bahnhof Cornavin zwei einem Lager in Toulon Entflohene entdeckten. Zwei weitere deutsche Soldaten wurden in Bellevue festgenommen und im August den französischen Behörden übergeben. Im Sommer 1946 war ein deutlicher Anstieg deutscher Flüchtlinge in der Schweiz zu beobachten.
Während am 20. August 1946 in Berlin die Wehrmacht offiziell aufgelöst wurde, hielt die Waadtländer Gendarmerie in Marchissy vier deutsche Soldaten in ziviler und militärischer Kleidung an, die aus einem Gefangenenlager in Annecy geflohen waren. Vier weitere, die sich von Neapel her auf dem Rückweg nach Deutschland befanden, wurden in einem Wald bei Courrendlin im Jura erwischt. Im folgenden Monat wurden auch in Bern fünf deutsche Flüchtlinge festgenommen und ausgeliefert. Gleichzeitig fand in Luzern der Prozess gegen Otto Löliger statt. Der ehemalige Oberleutnant der Schweizer Armee war 1942 in die Waffen-SS eingetreten und hatte es dort bis in den Rang eines Oberstumführers gebracht. Seine Verurteilung zu sieben Jahren Gefängnis löste ein grosses Medienecho aus.
Diebstähle und Einbrüche
Die Schweizer Zeitungen kamen damals häufig auf die Kriegsverbrechen der Nazis, die Abscheulichkeit in den Konzentrationslagern und die Situation in dem von den Alliierten besetzten Deutschland zu sprechen, denn die zahlreichen Versuche deutscher Kriegsgefangener, das Land zu durchqueren, weckten sowohl die Aufmerksamkeit der Journalisten, wie auch jene der Bundesverwaltung. Die Behörden veröffentlichten im April 1947 Zahlen dazu. 1946 waren 99 Ausweisungen gegen geflohene deutsche Kriegsgefangene verhängt worden. Grund dafür waren Straftaten. Mittellos und oft auch völlig auf sich allein gestellt, schreckten diese Flüchtlinge nämlich nicht vor Diebstählen oder Einbrüchen zurück, wenn sich die Gelegenheit dazu bot:
«Es vergeht kaum eine Woche, in der diese Personen nicht straffällig werden, sobald sie Waadtländer Boden betreten.»
Die Gazette de Lausanne wies darauf hin, dass
«die Grenzen halb offen stehen und deshalb die internationalen Übeltäter wieder vermehrt in Erscheinung treten. Im Austausch mit den ausländischen Polizeikorps hat der Service de la sécurité publique des Kantons Waadt wirksame Hilfe erhalten, die mit dem Aufgreifen mehrerer Delinquenten von Erfolg gekrönt war».
Der rege Kontakt zur französischen Polizei stand im Zeichen des guten Einvernehmens.
«Etwa 100 geflohene deutsche Kriegsgefangene haben im vergangenen Jahr unsere Grenze überquert und Waadtländer Boden betreten. Um zu verhindern, dass ihre Anwesenheit zu einer Zunahme der Vergehen führt, hat der Kommandant der Kantonspolizei eine verstärkte Überwachung angeordnet; 24 geflohene deutsche Kriegsgefangene wurden der Begehung von Delikten überführt, inhaftiert und der Justiz übergeben; sie hatten zahlreiche Diebstähle begangen, vor allem von Velos.»
Im Frühling 1947 wurden noch 347 geflohene Kriegsgefangene gezählt.
Obwohl ab April 1947 alle deutschen Gefangenen von Frankreich schrittweise freigelassen wurden, hielten die Migrationsbewegungen das ganze Jahr lang. Im Frühling wurden Luftwaffenpiloten, denen es gelungen war, ihren amerikanischen Peinigern in Frankreich zu entkommen, festgenommen, inhaftiert und unverzüglich wieder der französischen Gendarmerie übergeben. Zwischen Februar und September wurden auf Waadtländer Boden insgesamt 398 aus Frankreich geflohene deutsche Kriegsgefangene aufgegriffen. 42 von ihnen – ehemalige SS-Angehörige – wurden umgehend zurückgewiesen. Erst ab 1948 nahm die Zahl ab.
Aufnehmen oder abschieben?
In den ersten Nachkriegsjahren wurden somit mehrere Hundert Deutsche beim Versuch, in ihre Heimat zurückzukehren, auf Schweizer Boden gefasst. Wie dem Bergier-Bericht zu entnehmen ist, war der Fall der geflohenen Kriegsgefangenen allerdings mit einem besonderen Problem behaftet, denn laut Haager Abkommen konnten sie von einem neutralen Staat aufgenommen werden. Eine Verpflichtung dazu bestand jedoch nicht. Die Schweiz hatte somit einen gewissen Entscheidungsspielraum. Während französische Soldaten, die aus deutschen Lagern geflohen waren, bis 1942 die Schweiz durchqueren durften, um das unbesetzte Frankreich zu erreichen, plädierte das Justiz- und Polizeidepartement für äusserste Zurückhaltung und forderte, «unerwünschte Elemente fernzuhalten», was je nach Herkunft der Betroffenen oft dramatische Folgen hatte.
Ehemalige Soldaten der Wehrmacht wurden recht willkürlich behandelt, aber zumindest weniger grausam als die zuvor Abgewiesenen. Manche wurden, wie die aus den Nazi-Lagern geflohenen Soldaten der Roten Armee, die in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten, in Lagern des im Juni 1940 vom Militärdepartement gegründeten Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung untergebracht. Andere wurden den ausländischen Behörden übergeben.
Die Situation entschärfte sich nach Kriegsende, trotzdem erliess der Bundesrat noch 1947 einen Beschluss zur Erleichterung der Flüchtlings- und Emigrantenpolitik. Er trat am 20. März in Kraft und war auf drei Jahre beschränkt. Danach durften nur noch Personen, die vor 1889 geboren waren, Kranke, Gebrechliche, Kinder unter 16 Jahren und Waisen in der Schweiz bleiben. Allerdings wurden häufig Ausnahmen gewährt. Die Erlaubnis, zu bleiben, erhielten unter anderem Personen, die «besondere Fähigkeiten und Verdienste, namentlich im wissenschaftlichen, intellektuellen, künstlerischen, sozialen, humanitären oder wirtschaftlichen Bereich» nachweisen konnten. Über die Gesuche und das Schicksal der geflohenen Deutschen wurde letztlich von der eidgenössischen Fremdenpolizei entschieden.
Fluchthilfe für die Deutschen
Während ein Teil der Flüchtlinge gefasst wurde, gelang es anderen, Deutschland zu erreichen. Über ihre Zahl kann nur spekuliert werden. Bekannt ist allerdings, dass einige von ihnen Hilfe erhielten. Bis zu Schliessung der deutschen diplomatischen Vertretungen in Bern am 8. Mai 1945 konnten diese Flüchtlinge mit der inoffiziellen Hilfe der deutschen Konsulate rechnen, an die sich einige möglicherweise wandten. Hilfe gab es auch von der deutschen Abteilung der Zentralstelle für Kriegsgefangene des Roten Kreuzes in Genf und von Werner von Holleben. Der deutsche Konsul in der Calvin-Stadt blieb bis 1946 in der Schweiz, obwohl der Bund das Personal der deutschen Vertretungen offiziell nach Deutschland abschob. Dass von Holleben bleiben konnte, hat er seiner Funktion als Sekretär des christlichen Vereins Junger Menschen zu verdanken.
Die Mitwirkung der deutschen Abteilung der Zentralstelle für Kriegsgefangene und sicher auch des christlichen Vereins Junger Menschen bei der Rückführung der deutschen Flüchtlinge durch die Schweiz scheint nahe liegend zu sein, aber die logistische Unterstützung erforderte ein ganzes Netzwerk. Die Hilfe kam von Personen, die humanitäre Hilfe leisteten und diskrete Übernachtungsmöglichkeiten, Essen und Pflege anboten. Dazu gehörten unter anderem die Krankenschwester Barbara Borsinger und die Ärztin Viola Riederer von Paar zu Schönau, die in den Untergeschossen der Klinik Grangettes eine gewisse Anzahl deutscher Flüchtlinge versteckten, sowie von Deutschschweizer Jesuiten, die diese geflohenen Gefangenen mit neuen Kleidern ausstatteten und ihnen beim Grenzübertritt in Basel behilflich waren. Es war eine philanthropische Aktion, die wegen der administrativen Massnahmen, mit denen die Kriegsgefangenen belegt waren, Geheimhaltung forderte und von einer Mehrheit der Bevölkerung zweifellos nicht verstanden worden wäre. Geleitet wurde sie – was Barbara Borsinger und Viola Riederer betrifft – von Frauen, die sich einem tiefen Glauben verpflichtet fühlten und während des Zweiten Weltkrieges bereits unzähligen jüdischen Kindern geholfen hatten.