Die Landsgemeinde in Trogen AR. Darstellung von Johann Jakob Mock, 1814.
Wer darf hier mitbestimmen? Die Landsgemeinde in Trogen AR. Darstellung von Johann Jakob Mock, 1814. Wikimedia / Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Stimmlos

Zu jung, zu fremd, zu anders? Auch 50 Jahre nach der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleibt die Frage nach der politischen Teilhabe aktuell. Eine historische Übersicht zur Stimmlosigkeit in der Schweiz.

Hannes Mangold

Hannes Mangold

Hannes Mangold ist Ausstellungskurator und Verantwortlicher Kulturvermittlung bei der Schweizerischen Nationalbibliothek.

Sind Sie unter 18 Jahre alt? Besitzen Sie keinen Schweizer Pass? Stehen Sie unter umfassender Beistandschaft? Falls Sie auf eine dieser Fragen mit «Ja» antworten, gehören Sie zu den rund 37 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die auf nationaler Ebene vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen sind. Alle Menschen sind gleich und verdienen entsprechend dieselben Rechte: Dieser Traum steckte auch in der Schweizer Bundesverfassung von 1848, inspiriert von der griechischen Antike, vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, von der Französischen Revolution. In der Realität blieb die Gleichheit allerdings auf eine exklusive Gruppe beschränkt. 1848 durfte «jeder Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat», abstimmen und wählen. Frauen waren bekanntlich nicht mitgemeint.

Keine Stimme ohne Pass

Auch wer keinen Schweizer Pass hatte, war nicht zu den Urnen zugelassen. Einzig im Kanton Neuenburg erhielten Ausländer bereits ab 1849 das Stimm- und Wahlrecht auf Gemeindeebene. Danach dauerte es 130 Jahre, bis der neugegründete Kanton Jura 1979 als zweiter Kanton das kommunale Stimmrecht für Ausländer – und jetzt auch Ausländerinnen – einführte. Damit schien allerdings ein Trend gesetzt: Mit der Waadt seit 2002 und Freiburg seit 2006 kennen heute zwei weitere Westschweizer Kantone das Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer auf Gemeindeebene, jeweils gebunden an eine minimale Aufenthaltsdauer. Überdies bestehen seit 1995 in Appenzell Ausserrhoden, seit 2004 in Graubünden, sowie seit 2005 in Genf und Basel-Stadt verschiedene Möglichkeiten, die Wohnbevölkerung ohne Schweizer Pass an der Gemeindepolitik zu beteiligen. Auf kantonaler Ebene führten ebenfalls der Jura 1979 und Neuenburg 2001 entsprechende Gesetze zum Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer ein. Auf Bundesebene darf nach wie vor nur mitbestimmen, wer einen Schweizer Pass besitzt. Eine demokratische Grundforderung aus dem 18. Jahrhundert bleibt damit unerfüllt: «Keine Steuer ohne Stimme».
Hoher Preis: Nach der Hochzeit mit einem Ausländer verloren viele Schweizerinnen ihre Staatsbürgerschaft.
Vielerorts Voraussetzung für politische Rechte: Ein Schweizer Pass. Exemplar von 1945. Schweizerisches Nationalmuseum

Keine Stimme ohne Mündigkeit

Die Einführung des Frauenstimmrechts vor 50 Jahren war die grösste Ausweitung der politischen Rechte in der Schweiz. 20 Jahre später kam eine wesentlich kleinere Gruppe in den Genuss derselben Rechte: Die Erwachsenen senkten am 3. März 1991 per Volksentscheid das Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre. Die Jungen, wurde argumentiert, seien politisch interessiert und informiert, berufstätig und zahlten Steuern, in einer alternden Gesellschaft müssten ihre Bedürfnisse repräsentiert bleiben. Mit ganz ähnlichen Überlegungen senkte Glarus 2007 das Stimmrechtsalter auf 16 Jahre, als bislang einziger Kanton. In den letzten Jahren wird dieser Schritt immer stärker auch auf nationaler Ebene diskutiert. Damit wiche das Stimmrechts- vom Mündigkeitsalter ab. Nach der Abstimmung von 1991 war das bereits einmal der Fall – bis 1996 auch das Mündigkeitsalter auf achtzehn Jahre gesenkt wurde.
Sendung zum Stimmrechtsalter 18 vom 26. November 1986 SRF

Keine Stimme ohne Urteilsfähigkeit

Weist ein Mensch ein besonderes Mass an Hilfsbedürftigkeit auf und gilt als urteilsunfähig, wird er unter die sogenannte umfassende Beistandschaft gestellt. Die Schweiz entzieht Menschen unter umfassender Beistandschaft ihre politischen Rechte. Diese Praxis steht vermehrt in der Kritik, seit die Schweiz 2014 die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Viele der rund 14’000 betroffenen Personen können sich durchaus eine politische Meinung bilden und am politischen Prozess teilnehmen. Eine Anpassung an die in der Behindertenrechtskonvention garantierten politischen Rechte hat bisher allerdings einzig der Kanton Genf vorgenommen. Hier wird urteilsunfähigen Personen seit 2020 das Stimm- und Wahlrecht nicht länger entzogen. Mit den unter umfassender Beistandschaft stehenden Personen, den Minderjährigen und den Ausländerinnen und Ausländern besitzt über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung weder Stimm- noch Wahlrecht. Dieser Ausschluss wird gerne damit gerechtfertigt, dass diese Gruppen nicht reif genug seien, eine qualifizierte Stimme abzugeben. Dasselbe wurde bis 1971 auch den Frauen zugeschrieben. Im Rückblick kann man darüber nur staunen. Im besten Fall hilft diese Irritation dabei zu fragen, wieso nach wie vor über ein Drittel der Wohnbevölkerung nur eingeschränkt am politischen Prozess teilhaben kann. Dabei ist es wenig entscheidend, ob ein allfälliges neues Wähler- und Wählerinnensegment dann auch wirklich an die Urnen strömte. In der Schweiz verzichtet bereits seit fünfzig Jahren stets mehr als die Hälfte der Stimmbevölkerung darauf, sich an den Abstimmungen zu äussern. Aber zwischen dem Recht auf eine Stimme und der Ausübung dieses Rechts besteht ein grosser Unterschied. Am Schluss bleibt auch der Entscheid, seine politischen Rechte nicht wahrzunehmen, ein Privileg.
Der 34-jährige Andreas Rubin kämpft dafür, dass alle Menschen, auch schwerstbehinderte, abstimmen und wählen können. Er weiss, wie es ist, keine politischen Rechte zu haben. SRF

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