Kappeler Milchsuppe, Chronik von Heinrich Thomann, 1605 (Ausschnitt).
Zentralbibliothek Zürich, e-manuscripta.ch

Die Schweiz – eine histori­sche Spuren­su­che. Folge 1

Die Vergangenheit sagt uns nicht, wohin wir gehen sollen, aber wenigstens, woher wir gekommen sind. Wir erkennen, was uns geprägt hat, und wo wir stehen – ungefähr. Darüber lohnt sich nachzudenken, nicht nur am Nationalfeiertag.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

«Und da die neuen Tage sich aus dem Schutt der alten bauen, kann ein ungetrübtes Auge rückwärtsblickend vorwärtsschauen.» O-Ton 19. Jahrhundert. Man bremst solche Wertschätzung der Geschichte ungern, muss aber tapfer dagegen halten: Historiker sind nicht Hellseher. Der Blick voraus: unmöglich, der Blick zurück: mühsam, unsicher, zeitgebunden. Immerhin alternativlos und faszinierend. Einladung zu einer historischen Spurensuche entlang von zehn Bruchlinien.

Stadt / Land

Der Graben ist so alt wie die Eidgenossenschaft. Im Spätmittelalter stellen die Landorte im Voralpengebiet von der Selbstversorgung auf Graswirtschaft und Viehzucht um und sind daher von den Kornmärkten der Stadtorte immer stärker abhängig. Korn als lebensnotwendiges Gut wird in der Eidgenossenschaft wiederholt als Waffe eingesetzt. So verhängt Zürich 1438 im alten Zürichkrieg eine Kornsperre gegen seinen Erzfeind Schwyz. Im zweiten Kappelerkrieg sperren Bern und Zürich 1531 gemeinsam die Ausfuhr von Getreide und Salz in die fünf katholischen Orte.

Ankunft eines Segelschiffs (klicken um zu vergrössern) mit Getreide, das mit einer Masseinheit in einen Sack abgefüllt wird. Bildtafel eines Flügelaltars aus Mühlhausen, Thüringen, um 1485 (Ausschnitt).
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Unmittelbar nach den Burgunderkriegen geht es auf Biegen und Brechen. Unzufriedene Innerschweizer malen 1477 mit ihrem Saubannerzug in die Romandie den Teufel der Anarchie an die Wand. Um gemeinsam stärker zu sein, schliessen die Stadtorte Bern, Zürich und Luzern ein «Ewiges Burgrecht», gemeinsam mit Freiburg und Solothurn – aus Sicht der Landorte ein rechtswidriger städtischer Sonderbund. Die Eidgenossenschaft steht am Abgrund. 1481 jagt eine Tagsatzung die andere. Im Dezember endlich die Einigung: das Stanser Verkommnis in sechster Fassung. In den ersten vier Versionen waren Freiburg und Solothurn noch als neue Mitunterzeichner vorgesehen. Im Schlussdokument fallen sie heraus. Aber die Tinte ist noch nicht trocken, werden die beiden Städte in einem Separatabkommen doch in die Eidgenossenschaft aufgenommen, allerdings nicht mit allen Rechten. «Kuhhandel» als eidgenössische Spezialdisziplin – ohne Ablaufdatum.

Über der Bruchlinie STADT / LAND weht der jeweilige Zeitgeist. Nach dem Ersten Weltkrieg gilt die Grossstadt als Sündenbabel. Im Gegenzug wird 1939 das «Landi-Dörfli» als Idylle verklärt. Noch 1968 kokettiert «Die Kleine Niederdorfoper» mit dem angeblichen Gegensatz zwischen dem braven Bauern Heiri und den Verlockungen der Stadt. Heute wollen Behörden von Landgemeinden ihrem Dorf mit Neubauten ein «urbanes Profil» geben. Urbanität als Leitkategorie.

Katholiken / Protestanten

Zu Tell und Winkelried kommt in den Religionskriegen ein weiterer Mythos, die «Kappeler Milchsuppe», 1529 auf dem Schlachtfeld gemeinsam gelöffelt, von Freund und Feind. So wird erzählt. Fakt ist: ein Ausgleich verhindert Todesopfer. Zwei Jahre später gibt es keine Suppe mehr. Blut fliesst. 500 Zürcher werden im zweiten Kappelerkrieg 1531 getötet. Doch die katholischen Sieger überborden im Triumph nicht, sondern nehmen klug vorweg, was im Kaiserreich erst eine Generation später gilt: «Wessen Gebiet, dessen Religion». Zürich wird weder gedemütigt noch aus dem Bund gedrängt. Als Kitt erweist sich die Beschwörung von Aegidius Tschudi (1505–1572), nur gemeinsam sei damals der Sieg im Freiheitskampf gegen Habsburgs Tyrannen möglich geworden. Freiheitskampf? War da was? Entscheidend ist oft nicht, was war, sondern was man meint, was war.

«Is vor dim ort oder erterich» – Iss vor deinem Ort oder Erdreich, auf deiner Seite des Grenzsteins. Die Hellebarden im Vordergrund sind noch immer gegeneinander gerichtet, die Kappeler Milchsuppe aber wird mitten auf der «Kantonsgrenze» friedlich gemeinsam gelöffelt. Chronik von Heinrich Thomann, Abschrift aus Heinrich Bullingers Reformationschronik, 1605.
Zentralbibliothek Zürich, e-manuscripta.ch

Die Religion hätte die Eidgenossenschaft auch in den beiden Villmergerkriegen spalten oder gar auslöschen können. 1656 mässigen sich die katholischen Sieger erneut. 1712 aber hebeln die reformierten Sieger die Balance der Macht aus. Nach dreihundert Jahren gemeinsamer Verwaltung der katholischen freien Ämter und der Grafschaft Baden werden die katholischen Orte vor die Türe gestellt. Allein Bern, Zürich und Glarus sind noch zuständig für die erste gemeinsam eroberte Herrschaft der Eidgenossen, 1415, ein Meilenstein. Was Wunder, dass die katholischen Verlierer nicht mehr nach Baden zur Tagsatzung fahren wollen. Bleiben sie ganz weg? Kommt es zum Bruch? Zu viel steht auf dem Spiel. Künftig trifft man sich in Frauenfeld. Selbst jetzt wird der Bogen nicht überspannt. In den gemeinsamen Herrschaften wird die Religion überwacht von einem paritätischen Schiedsgericht: Zürich und Bern auf reformierter Seite – Luzern und Uri auf katholischer. Typisch eidgenössisch? Scheint so, ja.

Obrigkeit / Untertanen

Grässlich, wie die Herren im Bauernkrieg von 1653 mit den «Herrgotts Lumpen» von aufständischen Untertanen abrechnen, die sich angemasst haben, dem «Herrenbund» der Tagsatzung einen «Bauernbund» entgegenzustellen, gleichberechtigt. Kopfprämien werden ausgesetzt, Greifkommandos ausgeschickt, Galeerenstrafen verhängt, Todesurteile gefällt, die Bauern als Zuschauer zu den Vollstreckungen befohlen.

Doch nach überstandenem Schrecken bauen die Obrigkeiten den Machtapparat nicht aus. Steuern werden weiterhin kaum erhoben. Ein stehendes Heer ist deshalb kein Thema, auch nicht eine Verwaltung, die den Untertanen aufhocken könnte. Die Landbevölkerung verfügt weiterhin über eine beträchtliche lokale Autonomie. Eine eigenartige Divergenz: Das Selbstverständnis der «von Gott verordnetten nattürlichen Herren und Obern» hätte selbst dem Sonnenkönig gut angestanden – barer Absolutismus. Aber Steuern, Heer, Verwaltung: Fehlanzeige. Das entspringt allerdings kaum der Einsicht der «Gnädigen Herren», sondern ist schlicht nicht durchsetzbar. «Absolutismus» ist kein politisches Tischlein-deck-dich, in der Eidgenossenschaft schon gar nicht.

S. IAKOB MVNSTER, Wandgemälde in der Hauskapelle von Melchior Lussi (1529–1606) im Winkelriedhaus in Stans NW. Lussi ist Landvogt, Landammann, Gesandter am Konzil von Trient. 1583 Pilgerreise nach Jerusalem, 1590 nach Santiago de Compostela. Ritter vom Heiligen Grab und Stifter des Kapuzinerklosters in Stans. Politische Missionen zu den Päpsten, nach Paris, Madrid, Savoyen und Florenz. Von Venedig bezieht er Pensionen. Nicht nur in den Städten, auch in Landsgemeindeorten ist das soziale Gefälle unerhört.
Peter Steiner, Stans

Die Schweiz – eine histori­sche Spurensuche

Verfolgen Sie in Folge 2 die Spurensuche entlang der Bruchlinien:

FREMDBESTIMMT / SELBSTBESTIMMT
KONSERVATIVE / LIBERALE
BÜRGERTUM / ARBEITERSCHAFT

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